Eine belanglose Frage

Zu meiner Zeit wurde einem Kind in jungen Jahren beigebracht, jede Frage, die ihm gestellt wird, brav zu beantworten. Das gehöre zum guten Ton. Doch keiner hat dem Kind erklärt, wie es sich bei einer Frage verhalten soll, bei der bereits im Ansatz klar ist, daß der Fragende gar keine Antwort erwartet. Manche, oft teuer erkaufte Erfahrungen im Laufe des Lebens haben gelehrt, daß man in solchen Fällen besser die Unwahrheit sagt.
Stimmt nicht? – Was antwortest Du denn auf die Frage: „Na, wie geht es Dir?“
Ich habe einige Probleme mit dieser Unwahrheit, denn ich will in allen Dingen ehrlich bleiben. Aber wenn den Fragenden die Wahrheit gar nicht interessiert …? Ausweichend habe ich bei dieser Frage stets geantwortet: „Wenn ich meinen heutigen Zustand mit dem von gestern vergleiche, dann geht es mir gut, denn es hat sich nichts verändert!“ – Aber das ist so auch nicht ganz die Wahrheit. Irgendwann kam mir der Gedanke, durch eine offene, aber ehrliche Antwort das Problem einfach auf mein Gegenüber zu verlagern. Vielleicht überlegt er dann, ob er eine solche Frage überhaupt noch einmal stellt – wenigstens mir nicht mehr. Ein mutige Hypothese, ich gebe es zu. Aber einen Versuch war es allemal wert.
Der Zufall stellte mir eine an sich liebe Nachbarin in den Weg und es gab keine Möglichkeit, ihr auszuweichen, ohne offensichtlich unhöflich zu erscheinen. Von ihr war allseits bekannt, daß sie viel und gern redet, oft fragt, aber keine Gelegenheit zu einer Antwort gibt. In ihrem etliche Jahrzehnte langen Leben hat sie als Hausfrau wohl nicht viel erlebt, daher wiederholten sich stets ihre Geschichten. Gerne sprach sie von ihren 4 erwachsenen, ledigen Söhnen, die viel intelligenter seien als ihr Vater und alles können, sogar kochen. Doch ihre Unterhosen brachten sie zum Waschen immer noch zur Mutter. Der angeblich weniger intelligente Vater, der nach ihrem freimütigen Bekenntnis im Haushalt gerade eben für das Staubsaugen zu gebrauchen war, hatte es im Berufsleben »nur« bis zum Direktor einer renommierten Bank gebracht. Die Familienverhältnisse waren mir also weitgehend bekannt.
Als ich gerade Rentner geworden war und mir die Zeit nach eigenem Gutdünken einteilen konnte, hatte ich die Ausdauer der guten Nachbarin einmal getestet. Ich trug den Müll hinunter, sie kam gerade vom Einkaufen. Ich wollte nicht unhöflich sein und blieb, als wir zusammentrafen, stehen. In ihren Händen hielt sie zwei prall gefüllte Einkaufstaschen, die sie wohl nicht abstellen würde, da es kurz zuvor geregnet hatte und der Gehweg naß war. Ich glaubte wirklich, es würde bestimmt nicht lange dauern und ließ geduldig den Schwall über mich ergehen. Nach einer geschlagenen Stunde gab ich es auf, brach den Monolog abrupt ab, verabschiedete mich und ging in die Garage – obwohl ich dort gar nichts zu tun hatte. Auf dem Weg ins Haus wollte ich sie nun doch nicht mehr begleiten, womöglich hätte sie mich gar bis in die Wohnung verfolgt. Sollte es noch einmal eine ähnliche Situation geben, das nahm ich mir fest vor, würde ich anders reagieren.
Zwar verging einige Zeit, aber sie kam – die Gelegenheit. Als ich eines Tages unterwegs die Nachbarin bemerkte, war es zu spät, auszuweichen. Also ging ich fröhlich lächelnd auf sie zu und grüßte freundlich. Sie stellte ihre Beutel ab und sagte:
„Na, das ist aber eine Seltenheit, Herr Nachbar. Nun wohnen wir so nahe beieinander und sehen uns so lange Zeit gar nicht. Wie geht es Ihnen denn eigentlich? Wissen Sie, meine Söhne …“ –
Ich unterbrach und antwortete, wobei ich fest entschlossen war, sie nicht mehr zu Wort kommen zu lassen:
„Danke, daß sie nach meinem Ergehen fragten, Frau Nachbarin. Wenige Menschen interessieren sich überhaupt noch für das Wohlergehen ihres Nächsten. Und wenn jemand wirklich einmal fragt, dann will er meistens gar keine Antwort haben. Aber Sie fragten und ich will Ihnen gern antworten“.
Unverdrossen, den Ansatz zu einer Antwort übergehend, fuhr ich fort:
„Ach, mit der Gesundheit beim Älterwerden ist das so eine Sache. Der Rücken quält mich seit einigen Jahrzehnten. Die kaputte Wirbelsäule war schon vor 25 Jahren Grund für eine berufliche Rehabilitation, aber die Schmerzen sind immer noch da. Auch beide Kniegelenke bereiten mir immer größeres Unbehagen, beim Gehen und beim Stehen, sogar nachts im Bett. Schlafen kann ich nur unregelmäßig. Meine Frau sagt, daß ich schnarche und der Atem oft aussetze – bis zu 2 Minuten. Das ist lebensgefährlich. Darum bin ich tagsüber immer müde und zerschlagen. Die Blinddarmentzündung, die ich vor einiger Zeit überstanden habe, war dagegen ja eine harmlose Angelegenheit. Auch die Operation vor 6 Jahren, als die Gallenblase entfernt wurde, war weniger schlimm als die Koliken vorher. Vom erhöhten Blutdruck und dem hohen Cholesterinspiegel will ich gar nicht erst reden, denn das tut ja nicht weh. Da nehme ich Tabletten und hoffe, daß sie helfen. Und dann nehme ich noch eine weitere Tablette, damit der Gerinnungsfaktor des Blutes nicht über 25 % steigt und sich die sich immer wieder neu bildenden Blutpfropfen, die Thromben, auflösen, bevor sie das Herz oder die Lunge erreichen. Vor 8 Jahren hatte ich doch eine Lungenembolie, schlimm, sage ich Ihnen. Der Arzt sagte, daß das in den meisten Fällen tödlich verläuft. Nun habe ich zwar überlebt, darf mich aber nicht verletzen, da ich sonst verbluten könnte. Es ist nur unangenehm, daß ich alle 4 Wochen zur Blutentnahme zum Arzt muß, um den Gerinnungswert überprüfen zu lassen. Das Sitzen im Wartezimmer schlägt mir aufs Herz, das sowieso schon ungleichmäßig klopft, bestimmt nicht vor Freude.“
Ich wagte kaum Luft zu holen, um keine Pausen entstehen zu lassen und sprach unbeirrt weiter:
„Nun hat der Arzt auch noch Diabetes mellitus festgestellt. Ich darf nichts Süßes mehr essen. Und in der Speiseröhre habe ich Ausstülpungen. Daher kommt vermutlich der häßliche Mundgeruch, den ich nicht in den Griff kriege. Viel schlimmer ist jedoch der ständige Rückfluß des Mageninhalts in die Speiseröhre, viel unangenehmer als Sodbrennen. Der „Pförtner“, der Speiseröhre und Magen gegeneinander verschließt, arbeitet nicht richtig und ist nicht zu reparieren. Dadurch kann sogar Speiseröhrenkrebs entstehen. Ja, liebe Frau Nachbarin, man hat es nicht leicht. Aus dem Darm hat man mir übrigens schon mehrmals Polypen entfernt, ambulant. Das ist vielleicht eine unangenehme Angelegenheit, kann ich Ihnen sagen. Das meiste bekommt man ja nicht mit, es wird unter Narkose gemacht, aber das ist ganz unangenehm. Ja, der Zahn der Zeit nagt unaufhörlich an uns. Wenigstens mit den Zähnen habe ich vorläufig Ruhe, die sind total saniert. Ach ja, ich bin auch wegen des grünen Stars, man nennt das wohl auch Glaukom, in Dauerbehandlung, weil ich allmählich auf dem linken Auge erblinde. Meine Augenärztin hat mich neulich zu trösten versucht und sagte, wenn es mal soweit wäre, dann sähe ich auch das ganze Elend in der Welt nicht mehr. Und wer weiß schon, was noch so alles auf uns zukommt. Die Politik wird immer schlechter, die Preise steigen, überall muß man zuzahlen, die Rente wird immer weniger und die raffgierigen Manager werden immer reicher. Und kein Politiker tut was dagegen, die sind ja selbst nicht besser. – Na, ich will lieber aufhören, sonst erleide ich noch einen Herzinfarkt. – So, jetzt mache ich aber Schluß, die Zeit rennt einem ja davon. Es war angenehm, mit Ihnen zu plaudern, aber ich muß jetzt leider weiter!“
Ich verabschiedete mich von meiner Nachbarin, drehte mich um und ging grinsend meines Weges – und fühlte mich sogar wohl dabei. Ich war richtig stolz, denn ich bin auf ganzer Linie meinem Vorsatz, immer wahrhaft zu sein, treu geblieben. Vielleicht habe ich in der Hektik das eine oder andere Leiden vergessen, aber das ist gewiß verzeihlich, denn ich hatte ja kein Konzept und schließlich war es eine Premiere. Aber offenbar hat es gewirkt, denn ihr Gesichtsausdruck hatte sich während meines Monologs von anfänglicher Aufmerksamkeit über Fassungslosigkeit bis zum Entsetzen geändert. Das ist ihr bisher wohl noch nie passiert, daß jemand sie so eingedeckt hat und nicht zu Wort kommen ließ, unfaßbar.
Meine Frau Nachbarin wird es sich bestimmt gut überlegen, ob sie noch einmal jemanden die Frage stellt: ‚Wie geht es Ihnen?’ – Mich jedenfalls fragt sie bestimmt nicht mehr.

Und die Moral von der Geschicht’:
Frag nach dem Wohlergehen nicht,
wenn es dich gar nicht interessiert!

Werner

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Kommentare (4)

finchen Du oder Sie sehen: ich stehe noch! oder, ich lebe noch!
Doch ein interessantes Thema hast Du aufgegriffen und damit auch klargestellt, welche "Lügner" wir eigentlich sind.
Doch , wenn wir uns ehrlich äußern würden, dann dauert dieses Gespräch bis in die Unendlichkeit, viel zu lange...
reiche mir einen Stuhl zum Sitzen, dann kann ich mehr erzählen...........
Dein Beitrag hat mir gefallen - vielen Dank und mit einem herzlichen Gruß aus Bayern
das Moni-Finchen
Schang Ich frage meistens: Gehts gut?
Stelle fest: Die meisten freuen sich und antworten mit Ja!
Vielleicht verleitet es manche dazu, anschliessend innerlich alles aufzuzählen, was gut für sie ist.
Schang
koala Deine Geschichte zeigt ausfuehrlich, wie langweilig und einseitig manche Unterhaltungen sein koennen.
Ich wohnte bis 1998 im Rheinland. Damals bin ich diesen Nachbarinnen nicht begegnet. Aber sicher nicht, weil es sie nicht gab. Doch hier kann ich mit zwei Bekannten aufwarten, die Deiner Nachbarin ziemlich nahe kommen. Sie erzaehlen zwar immer "Das Neueste", das aber bis ins kleinste Detail und ihr Alltag laeuft fast immer gleich ab. Da muss ich mich, wenn ich etwas zu sagen habe, schnell zwischendurch einklicken.
Es gibt auch die Einsamen, wie Seija schreibt. Ich sehe sie hier im Geschaeft beim Bezahlen. Hier hat die Kassiererin noch Zeit, mit dem Kunden zu reden. Manchmal dauert das Gespraech etwas laenger und zu Anfang hatte sie sich bei mir fuer das Warten entschuldigt und meinte, das sei fast die einzige Moeglichkeit fuer den Mann, sich zu unterhalten. Fuer so etwas habe ich volles Verstaendnis.
Die Floskel "wie geht's" gehoert hier einfach mit zum Tagesgruss. Was man darauf antwortet, ist jedem selbst ueberlassen.
Anita/Queensland
Seija Im Rheinland sieht man diese Höflichkeitsfrage recht locker.
Fragt man einen Mann, antwortet er häufig: "Gestern ging ES noch!" Man geht dann lachend weiter.
Frauen antworten häufig: "Immer so weiter!"
Ein jeder weiss bei uns, dass es eine "erweiterte" Begrüßungsformel ist. Bei Menschen, die einem nahestehen, fragt man nicht im Vorübergehen: "Wie geht's?"
Das macht man bei einem längeren Beisammensein und spricht sich aus.
Menschen, die einem lange immer wieder dieselbe Geschichte erzählen, sind vielleicht sehr einsam und einfach froh auf einen Mitmenschen zu treffen der ihnen zuhört. Ob man sich darauf einlässt oder schnell von dannen zieht - das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Mir ist es noch nicht passiert, dass man mir die Frage übel genommen hat.
Gern sagt man im Rheinland auch: "Und....-alles klar?
Gehört auch zu den erweiterten Begrüßungsritualen.
Du wohnst zwar vom Rhein, bist aber wahrscheinlich kein Rheinländer......????
Seija

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