Glosse vom 3. Mai 2009: Mensch und Mythos (Erw. u. verb. Aufl.)


Glosse vom 3. Mai 2009
Mensch und Mythos




Was ich gerne mag ...

Mythos und Logos – welchem humanistisch und philosophisch gebildeten Menschen ist dieses Begriffspaar oder sollte man sagen: sind diese „Gegensätze“ nicht vertraut (Siehe Nestles Darstellung „Vom Mythos zum Logos“, 1942)?
Jedoch nun weiß Gott kein verstaubtes Thema, sondern seit spätestens Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“ (1963, Neuauflage 2003) wissen wir, daß der Mythos, daß Mythen weiterleben.
Hat vielleicht der aufgeklärte, der rationale Mensch die Hoffnung, daß der Logos, der rationale Diskurs, das wissenschaftliche Denken den Menschen in seinem Denken und Handeln bestimmt? Jedoch sieht es so aus, als wenn mehr denn je Mythen, gleichsam mythisches Denken oder sollte man besser sagen: emotional befrachtete und belastete (?) Bilder, das Bewußtsein und vor allen das Unterbewußtsein des Menschen bestimmen?

Und dies auch im 21. Jahrhundert; und betrifft nicht nur irgendwelche indigenen Völker irgendwo abseits der marktwirtschaftlich-kapitalistischen, industriellen Zivilisationen (ich verwende hier in diesem Zusammenhang diesen Begriff, obwohl ich von Zivilisation und zivilisiert andere Vorstellungen habe) oder etwa diesen Subkontinent Indien, sondern offenbar auch oder vor allem die Menschen in jenen oben genannten Zivilisationen.
Vielleicht ein unbewußter Reflex auf die rationalen Mechanismen einer industriell-ökonomisierten Welt? Oder die, eine offenbar ewige Sehnsucht ... ja, wonach eigentlich? (Siehe die letzten Zeilen in Blochs Prinzip Hoffnung!)

Nun ja, trotz aller Anstrengungen der Entmythologisierungen in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Daseins (siehe z.B. Bultmanns Entmythologisierung des Neuen Testaments [1941] oder Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung [1947]) liebt der Mensch, lieben die Menschen die Mythen, vielleicht oder vor allem seine privaten Mythen: sein irgendwann und irgendwie zurecht gebasteltes Weltbild, seine Vorstellungen von der Wirklichkeit, wobei es dem Menschen mehr oder weniger gleich zu sein scheint, ob auch nur eine annähernde Kongruenz zwischen der Wirklichkeit und seiner Vorstellung von der Wirklichkeit vorhanden ist.

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Diese mehr oder weniger zusammenhanglosen Fragmente, Bruchstücke, oft nur [i]Scherben
einer Kindheit und Jugend, diese konstruktivistisch veränderten, oft verklären Erinnerungen und Projektionen, leider oft auch traumatisch erlebten und erfahrenden Prägungen, zusammengehalten und zusammengekleistert von diesem Universalklebstoff der menschlichen Gefühle, gleich welcher Art ... , dieses Sammelsurium von memorierten Realitätspartikeln, vermengt und vermischt mit Verklärungen, Mystifizierungen, Irrtümer, Fehldeutungen, Dummheit und Blödheit, aber auch Ängsten etc. wird unter Umständen wiederum – wie man heute weiß – auch unbewußt etwa an Familienangehörige, lies: an die eigenen Kinder, weitergegeben werden. Ja, so wandern offenbar Mythen durch das Leben und die Geschichte ...

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Übrigens und nur so nebenbei: Das alles aber findet immer wieder eine gewisse Akkumulation und Kulmination in privaten und vor allem in öffentlichen [i]Meinungsäußerungen
. Gleich, ob auf Festversammlungen, wissenschaftlichen Tagungen, irgendwelchen Gesprächsrunden im Fernsehen oder eben im Internet. (Wie überhaupt es manche Menschen lieben, immer und überall ungefragt und ungebeten ihre, oft bar jedes Wissens, jeden Realitätsbezug und jeder Wirklichkeitsnähe strotzenden Meinungen zu allem abzusondern ... insofern muß ich natürlich die Leserinnen und Leser dieser Glosse aufrichtig um Entschuldigung bitten!)



Was ich nicht mag ...

Jetzt kommt aber das Fatale. Wobei es weniger um die persönlichen Mythen geht, sondern um jene, die mehrere Menschen tangieren; angefangen von den Familienmythen (siehe z.B. die Familie „Thomas Mann“) bis zu den kollektiven Mythen.
Ja, da wird’s lustig oder auch nicht ... So ein Streifzug durch die Staatsmythen hat’s in sich ... angefangen von den altorientalischen Reichen, den außereuropäischen Reichen in Asien oder Amerika (Mayas, Inkas etc.) über die Antike (Livius’ Ab urbe condita) über das Mittelalter (von dem Umberto Eco als dem Zeitalter der Fälschungen spricht) zur Neuzeit, zu dem Jahrhundert, eben das 19. Jh., der Nationalstaatengründungen. Meine Güte, was wurde da geflunkert, gelogen, dem Volk in seinem Patriotismusrausch und seiner nationalen Besoffenheit alles erzählt, das wiederum das alles wohl für bare Münze nahm ... oder die manipulierten und ideologisierten Geschichtsschreibungen suggerierten es jeweils dem Volk so, bis dieses eben in seinem (Unter)Bewußtsein als nationale und kollektive Wahrheit verankerte?
Ja, bis ins 20. und 21. Jahrhundert: z.B. Sowjetunion, Türkei, Armenien, Israel, BRD und DDR. Die zahlreichen – politischen, kulturellen und künstlerischen – Jubiläen dieses Jahr – sind sie ein Anlaß für Aufklärung, für ein Sich-Annähern an die Wahrheit (wie war’s wirklich?) oder werden Mythen weitertradiert oder gar neue Mythen erfunden?

Gerade in dem Zusammenhang mit dem Jahrestagen BRD-Gründung und Mauerfall/DDR-Ende ... es ist doch schon erstaunlich, wie sehr das dualistische, eben das dichotomische Weltbild jener Zeit und Jahre das Denken bzw. das (Unter)Bewußtsein mancher geradezu endgültig geprägt hat, wies dies hier in manchen Beiträgen zum Ausdruck kommt. Unfähig, unwillig zu jeder Differenzierung wird dieses dichotomische Weltbild von der guten/bösen BRD und ebenfalls guten/bösen DDR aufrecht erhalten.
Ähnliches gilt für Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus etc., wobei amüsanterweise der Bezug oder Nichtbezug von Südfrüchten in der Erinnerung einiger lieben Zeitgenossen hier in der ST-Kommunität wohl als wichtiges Unterscheidungsmerkmal für die Bewertung von politischen Systemen, hier bezogen auf DDR und BTD, gilt ... die Banane als politisches Kriterium; ei, ei ... wer hätte dies angesichts der krummem gelben Dinger einmal gedacht! Ob sich die Banane dessen bewußt war und ist?


Über mich ...

Sie sehen ... ein weites Feld (nein, nicht die Banane, sondern der Mythos!). Doch kommen wir zum konkreten Menschen. Denn es ist der einzelne Mensch, der offenbar manchmal nahezu unversöhnlich und haßerfüllt-aggressiv auf die Zerstörung seiner kleinen und großen Mythen reagiert.

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Zunächst einmal – und das ist vielleicht oder vielleicht auch nicht (?) das Wichtigste – die Entmythologisierung der Eltern, der Mutter und vielleicht noch mehr des Vaters. [i]Kafka
hat’s bezüglich seines Vaters nicht geschafft, Wilhelm II. nicht gegenüber seiner englischen Mutter (zu England hatte er Zeit seines Lebens ein zwiespältiges Verhältnis).
(Auf Hitler und Stalin wurde diesbezüglich schon einmal in einer anderen Glosse hingewiesen; anloges gilt gilt G.W. Busch, der eine Sohn von F.J. Strauß (ich glaube, es war der ältere der beiden Strauß-Söhne?)... geprägt oder geschädigt durch ihre jeweiligen Väter?
Florian Havemann und Tilman Jens äußern sich direkt oder indirekt zu ihren Vätern Walter Jens bzw. Robert Havemann, was ihnen einige andere Menschen sehr übel nehmen, weil wiederum damit ihre Idole, lies: deren Väter, entmythologisiert wurden.

Ja, die Idole, Ideale, die Mythen von und über Personen will sich der Mensch nicht nehmen lassen. Ich erinnere mich daran, wie der SPIEGEL, nicht gerade das Organ für musikhistorische Betrachtungen, vor etlichen Jahrzehnten als Titelthema Beethoven hatte; konkret: Es ging um eine gewisse Entmythologisierung Beethovens (und nebenbei auch Wilhelm Furtwänglers!). Es ging u.a. um Beethovens Jähzorn, seinen Geiz und seine Kleinlichkeit ... indem er etwa die Kaffeebohnen gegenüber seinem Diener abgezählt haben soll (und jetzt sehe ich beim Anhören der großen „Fuge für Streichquartett“ immer Kaffeebohnen vor meinem geistigen Auge!). Meine Güte, wie die Leute in ihren Leserbriefen und wiederum in anderen Presseorganen reagierten. Frei nach dem Motto: Wir lassen uns unseren Beethoven nicht nehmen! (Von der Musik war übrigens damals gar nicht die Rede.)
Ach ja, eh’s ich vergesse ... Golo Mann ... da gab es jetzt gerade erst etliche Artikel (nicht in der BILD!) zu lesen, die sich mit dem äußerst zwiespältigen Verhältnis zwischen Vater Thomas Mann und Sohn Golo Mann (bzw. den Söhnen Klaus und Golo Mann) beschäftigt hatten, wobei Thomas Mann nicht gerade gut wegkommt ... da werden sicher auch wieder Thomas-Mann-Fans empört sein.
Und jetzt ... mit tränendem Auge hab’ ich’s vernommen bzw. gelesen ... sogar „Ein Denkmal bekommt Risse“ in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung vom 18./19. April 2009, wo es u.a. heißt: „Als Freiheitskämpfer wurde Andreas Hofer berühmt, heute bezweifeln Historiker zunehmend, daß der Wirt aus dem Passeiertal diesen Ruhm verdient.“ Meine Güte, will man uns denn gar nichts mehr lassen? Nicht mehr: Steige hoch, Tiroler Adler ...

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Und hier, in den ST-Gefilden - was las ich neulich: Wie jemanden nach und nach offenbar alle Idole, Helden etc. mit der Zeit genommen wurden: Mao, Che ... alles wurde entmythologisiert, in seine psycho-biographischen, in seine historischen Dimensionen zurecht gerückt. Wobei schon interessant ist, der Frage nachzugehen, wer eigentlich für diese Mythen verantwortlich ist.
Gut, das läßt sich leicht angesichts der sogenannten staatsbildenden Mythen leicht erklären, wobei man nicht vergessen sollte, daß Geschichtsschreibung, vor allem die staatlich geforderte und etwa proklamierte und gelehrte Geschichtschreibung (Schulen, Universtäten!), immer mythenbildend ist.

Oder ist es irgendein Biograph, sind es die [i]Meinungen
irgendwelcher Leute, die allmählich zu irgendeiner Form der Realität verifiziert werden? Sind es die Rezipienten, die nur allzu gern eben diese Mythen suchen, brauchen und somit ebenfalls bzw. gegebenenfalls zur Mythenbildung beitragen?

Ich bekenne mich da in einem gewissen durchaus schuldig: Wie habe ich vor meinen ersten Israel-Besuchen (keine touristischen Exkursionen, sondern vergebliche Versuche, eine Heimat zu finden) den verschiedenen Mythen Israels geglaubt ...
Zugegeben, ich bin mythenresistent geworden, vielleicht geht mir da etwas ab: Diese verklärende Gemeinschaftsgefühl, dieses Wir-Gefühl (ich denke da z.B. an den Rausch nationaler Gefühle vor Kriegen - wohlbemerkt bis in unsere Zeit! Ich erinnere mich da noch an den Falklandkrieg 1982 ... nationale Besoffenheit in GB und in Argentinien) ... das alles entgeht mir damit. Gell, schade ...


Es grüßt
Die Bertha
vom Niederrhein



P.S. Diese Ausgabe des SPIEGEL's (15.09.2009) hatte als Titelthema das Phänomen der Resilienz







Diese Publikumszeitschriften ersetzen natürlich nicht die Information der entsprechenden wissenschaftlichen Fachliteratur, bieten aber durchaus eine kleine Einführung in die jeweilige Problematik.

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Kommentare (1)

marianne ..jetzt werde ich mal ein wenig "in mich gehen", und schauen,
was da noch an Mythos rumschwirrt...
-Mir ist mal gesagt worden, ich hätte Verstand und Gefühl in guter Balance.
(Oder ist das wieder etwas anderes?)
Grüße von
Marianne

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