Glosse vom 23. März 2009 (klein wenig erweitert)


Glosse vom 23. März 2009



Was ich gerne mag:

Ob ich es mag oder nicht mag ... Im Falle Josef Fritzl hat die (österreichische) Justiz im Rahmen der Gesetzgebung ihr Urteil gefällt. Aus gutem Grund hat im modernen Staat das Recht der Rechtsprechung und auch das Gewaltmonopol.
Zwar hat die Gewaltenteilung des modernen Staates ihren Ursprung in der absoluten Gewalt des absolutistischen Herrschers; d.h. Montesquieus Idee der Gewaltenteilung wollte eben verhindern, daß die gesamte Staatsgewalt in der Hand des Herrschers liegt, daß also der einzelne Bürger vor dem Staat geschützt sei. Es scheint aber – angesichts der Äußerungen zur Urteilssprechung im ST-Forum – , daß das staatliche Gewaltmonopol auch vor der Rache und willkürlichen Lynchjustiz mancher Bürger schützen sollte.

Zunächst eine Klärung (von mir bereits in einem anderen Zusammenhang in irgendeiner Unterabteilung des ST-Forums gegeben): Das alttestamenarische israelitische „Auge-um-Auge-Gesetz“ war seinerzeit ein Fortschritt (sic!) in der Rechtsprechung; es sollte eine gewisse Verhältnismäßigkeit bezüglich Tat und Rechtsprechung, lies: Strafe, herrschen; gegenüber der willkürlichen und maßlosen Rache, gipfelnd in der Praxis der Blutrache. Albert Camus schrieb in seinem berühmten Essay gegen die Todesstrafe u.a., wie seinerzeit in Frankreich öffentlich die Tätigkeit des Henkers ausgeschrieben wurde. Über fünfhundert Bewerbungen gingen ein; etliche Bewerber boten an, diese Tätigkeit umsonst auszuüben. Camus fragte in diesem Essay, worin eigentlich der Unterschied zwischen einem Mörder und jenen Menschen sei, die sich danach drängten, Menschen, gleichsam staatlich sanktioniert, zu töten.
Wahrscheinlich ist es müßig, von jenen Kopf-oder-Zipfel-ab-Schreihälsen im Forum oder sonst wo (ich möchte nicht wissen, was in den einzelnen Internetforen und -blogs geschrieben wurde und wird!) irgendeine Form der Reflexion zu erwarten ... trotzdem: Sich mit den Studien von Eduard Naegli (Das Böse und das Strafrecht, 1966) und Eberhard Schmidhäuser (Vom Sinn der Strafe, 1963) auseinanderzusetzen, würde sich lohnen.








Was ich nicht mag:

der dumpf-primitiv-archaische Ruf nach Rache etc. ... welch ein (Un)Geist, welche Gesinnung offenbart sich da! Ohne über das Verbrechen des J.F. und dessen Schuld diskutieren wollen ... wie hätte man z.B. als Jüdin, als Jude, als Mensch jüdischer Herkunft und/oder jüdischen Glaubens (nachdem die ganze eigene Familie ermordet wurde) nach 1945 reagieren sollen? Etwa die Todesstrafe, Folter etc. für alle Täter und Mitläufer; oder ein gleichsam lebenslanges KZ für diese Menschen? Yehudi Menuhin glaubte an die veredelnde Kraft der Musik und an das Gute im Menschen und trat relativ früh wieder in Deutschland auf. Ich selbst, 1934 geboren, in der Schweiz überlebt, die Eltern bzw. Familie in Deutschland ermordet, meinte, mit Forschung und Lehre und somit auch mit einer intellektuellen Erziehung von jungen deutschen Menschen meinen Teil beizutragen, um ein solches Geschehen zukünftig zu verhindern.

Es waren Wissenschaftler (zunächst ausschließlich Wissenschaftler jüdischer Herkunft), die nach Ursachen, Voraussetzungen etc. fragten und nicht etwa eine Kollektivbestrafung aller Deutschen verlangten, die ihrerseits (ich spreche von der verantwortlichen Generation!) alles taten, um sich der Verantwortung zu entziehen. Ein denkender Mensch muß sich angesichts des Verbrechens von J.F. fragen, warum dies geschehen konnte. Und was dazu beigetragen hat, daß J.F. zu einem solchen Täter wurde. denn weder J.F. noch Hitler, noch Stalin etc. sind als „Verbrecher“ geboren worden.
Welche Faktoren (Eltern, soziales Umfeld, Erziehung, persönliche und charakterliche Entwicklung, physische und psychische Verletzungen, Traumatisierungen, Demütigungen, krankhafte Entwicklungen etc.) trugen dazu eben dazu bei, daß ein Mensch solche Taten begeht? (Es empfiehlt sich dringend, sich mit dem Gutachten der Psychiaterin Heidi Kastner zu beschäftigen.)





Über mich:

Einen großen Teil meines Lebens bin ich u.a. diesen Fragen nachgegangen. Verstärkt beobachte und notiere ich seit Jahren, wie menschliche Entwicklungen verlaufen, welche Rolle eben dabei die früheste Kindheit, die Eltern, das soziale Umfeld spielen. (In diesem Zusammenhang noch einmal den Hinweis auf die Bücher von Florian Havemann über seinen Vater und Montefiores Darstellung über den jungen Stalin, über dessen Herkunft und Kindheit). Auch wenn’s geradezu lapidar klingt: Sind wir uns immer wieder bewußt, daß früheste und frühe Kindheit die entscheidende Rolle für ein Leben spielen?
(Neulich ein Schriftsteller angesichts einer Preisverleihung: „Die Kindheit sei die entscheidende Quelle, aus der wir Inspiration und Stoff beziehen.“)
In einer der nahezu zahllosen Untersuchungen über die Täter des Dritten Reiches hieß es u.a., daß die Häufigkeit der schlimmsten Gewalttäter aus dem bayerisch-österreich-ländlich-katholischen Milieu signifikant wäre (19. und frühes 20. Jh.!); dies hätte wohl seine Ursache in der archaisch-ländlichen Welt, in einem „väterlich-brutalen“ Patriarchat, in der körperlichen und psychischen Gewalt, in der väterlich-elterlichen Unterdrückung. (Hier sei auf das Romanwerk des österreichischen Schriftstellers Josef Winkler [Preisträger des Büchner-Preises 2008] hingewiesen!) Seien es die Täter im Dritten Reich, seien es die anderen „Täter“ im Rahmen politischer und militärischer Aktionen (die Kriege seit 1945!) und Verbrechen (das gilt auch für die Täter in der ehemaligen DDR ... es ist unglaublich, was sich Stasi und andere Organe in der ehemaligen DDR geleistet haben, ohne bisher deswegen zur Verantwortung gezogen worden zu sein!), sei es der Täter Tim K. und der Täter Josef F. ... mit dem blind-dumpfen Rache- und Wutgebrüll aus dem Bauche nützt man weder den Opfern noch verhindert man zukünftig solche Taten und Verbrechen. Und darum sollte es doch gehen; oder? Es geht nicht um ein persönliches dumpfes Rache- und Wutgefühl. (Dazu sollte man lesen, was Naegli über diese Gefühle, über diese Haßprojektion schreibt.)




Verantwortlich

Die Bertha
vom Niederrhein


P.S. Mit den Titelbildchen (in den 60er ff. erschienen) einiger schnell greifbaren Bücher aus meiner Bibliothek soll darauf hingewiesen werden, daß das Problem von Schuld und Sühne mich nicht erst seit heute beschäftigt.

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Kommentare (7)

marianne mir ging es auch nicht ganz gut in der Kindheit.
Das war mir mein ganzes Leben lang bewusst.

Bei unseren Kindern machte ich Fehler....obwohl, wenn ich die Dreie heute anschaue, kann ich "stolz" sein.
Soviel in meinen Kräften steht, versuche ich es bei der Enkelei gut zu machen...
M
marianne mir ging es auch nicht ganz gut in der Kindheit.
Das war mir mein ganzes Leben lang bewusst.

Bei unseren Kindern machte ich Fehler....obwohl, wenn ich die Dreie heute anschaue, kann ich "stolz" sein.
Soviel in meinen Kräften steht, versuche ich es bei der Enkelei gut zu machen...
M
senhora Wer Gewaltphantasien äußert, wie manchmal zu lesen ist, begibt sich zumindest mental auf die Ebene des Sadisten.
Wer Terroristen mit noch drastischeren Mitteln antwortet , begibt sich auf die Ebene der Terroristen.

Vom französischen Wort für Opfer (victime) wird der sogenannte »Viktimismus« abgeleitet. Dieser beschreibt die Situation, wenn Individuen sich »nach dem Muster verfolgter Völker begreifen« (Pascal Bruckner) und so ihre Verantwortung für ihr Handeln von sich weisen.

Gibt es gute und schlechte Mörder? Ich meine nicht.

Senhora
pea "Sind wir uns immer wieder bewußt, daß früheste und frühe Kindheit die entscheidende Rolle für ein Leben spielen?"

Gut, daß Du das in Erinnerung gerufen hast.

Frühkindliche Störungen sind nicht heilbar
und Strafandrohungen sind kein Hemmnis für sadistische Gewalttäter.

Solche Psychopathen konnen ihre Neigungen unter bestimmten Regimen
und in Kriegszeiten zumeist völlig ungestraft ausleben.

Es geht nicht darum, die Taten zu entschuldigen,
sondern zu verstehen und Konsequenzen daraus zu ziehen.

Das wäre ein adäquater Weg zu einer wirkungsvollen Prävention.

LG

Pea

nasti ..ich warte schon lange auf ein Gesetz, wo die psychische Qualen entdeckt und genauso wie die physische bestraft werden können.

Jaaaa, die psychische Qualen heilen langsam oder auch überhaupt nicht, während die physische...na du weiß es eh....

Ich habe Wut in Knochen wenn ich ein Amoklaufer oder so ein Sadist sehe wie F. , leider bin ich noch kein Mensch, nur eine Kette zw. Gorilla und Mensch :O))))))), ich möchte gerne zuschlagen und das blutig und endgültig so ein Sadist vernichten, aber DOCH bin ich genug ziviliesert dazu, das ich das ganze nur in Geiste durchführe.
Meine Oma hatte täglich in Getto 10 große Brote geworfen durch Zaun für Juden , greifte Sie an die elende slowakische und ungarische Nazisten und das ging so weit das Sie in Bein an geschoßen war. Sie tobte und versteckte ein judisches Baby gerade in meine Jahre. Das Mädchen verschwand spurlos, ich bin geblieben. Mit falsche Geburtsurkunde.

Nasti




Drachenmutter und danke für diesen Blog-Beitrag.

woelfin
pelagia Bertha, für diesen Beitrag. Wer im Anklagen "Größe zeigen will", sollte zuerst nach Unterlassungen fragen; Größe zeigen im Bekennen verratener Verantwortung. Wer fragt schon nach den Folterinstrumenten oder der Munition, die in den Herzen aufbewahrt wird?
I.

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