Glosse vom 16. März 2009


Glosse vom 16. März 2009


Vorbemerkung
In Zusammenhang mit dem Geschehen in Winnenden und vor allem der medialen Inszenierung und Aufbereitung (nicht zuletzt auch hier: In eine Textdatei unformatiert übertragen über 130 Seiten Kommentare, Anmerkungen und Meinungen, Meinungen, Meinungen ...) werden auch Zweifel eben an dieser medialen Aufbereitung laut.
Es entspräche nicht der Intention dieser Glosse, wenn einem Leser nicht anderes einfiele, die nur und ausschließlich auf sein Medienverhalten zu beziehen (das ist mit Verlaub der Schreiberin dieser Zeilen völlig gleichgültig), sondern es geht um ein - sagen wir mal - Bewußtseins-Phänomen, das den einen oder anderen vielleicht nicht gleichgültig läßt.
Und es gibt natürlich Personen, Gruppen, Kreise, denen die Bewußtseinsmanipulation durch Medien, lies: hier vor allem durchs Fernsehen, höchst willkommen ist.
Schöne neue Welt; brave new world.

Verantwortlich
Die Bertha
vom Niederrhein



Was ich gerne mag:

... ob ich’s wirklich mag – nun, ich mache es einfach. Nämlich: Den Dingen manchmal etwas auf den Grund gehen. Oder besser: Etwas auf einer Meta-Ebene oder Meta-Meta-Ebene betrachten. Dazu bietet das Geschehen von Winnenden mehr als einen Anlaß. Hier geht es mir in diesem Zusammenhang um die mediale Inszenierung. Denn ein solches Geschehen ist ja für 99,9 Prozent – hier natürlich symbolisch gemeint – der „deutschen“ Bevölkerung nur ein mediales Geschehen.
(So nebenbei: Mal während dieser Tage Zeitungen aus der Schweiz und/oder aus Österreich gelesen?)

Alles, was die Menschen wissen oder zu wissen glauben, ist medial überliefert, damit gefiltert, selektiert und akzentuiert.
Werfen wir einen weiten, weiten Blick zurück; gleichsam in die Anfänge der Menschheit. Damals lebte und überlebte der Mensch aus der mehr oder weniger aus der unmittelbaren Erfahrung und Kenntnis der Natur und seiner damaligen Umwelt. Man könnte fast sagen: Realität und persönliche Erfahrung waren deckungsgleich. Mit der mündlicher und vor allem mit der schriftlichen Tradition der Überlieferung änderte sich dies, zunächst ansatzweise (denn lesen konnte z.B. etwa im frühen Mittelalter kaum jemand; Kleriker und die jüdische Bevölkerung [diese männliche allerdings nahezu vollständig]). Mit der Erfindung des Buchdrucks (Siehe dazu Michael Gieseckes Habilitation!), dann vor allem mit dem Beginn der Massenmedien und dem Zugang der Bevölkerung zu diesen Massenmedien ändert sich dies radikal.
Denn nun stellen Medien nicht nur irgendeine Form der Informationsquelle dar, die die Menschen – etwa neben anderen Informationsquellen – verwenden, wobei ihre unmittelbare Erfahrung immer noch die erste, wichtigste und entscheidendste Quelle für ihr Bewußtsein ist, sondern die Medien ersetzen mehr und mehr die Realität, sie bestimmen das Bild der Realität, sie werden immer mehr „die“ Realität. Nicht: “cogito, ergo sum”. (Ich denke, also bin ich.), sondern „video, ergo sum“, wobei hier das „video“ (videre) nicht für „sehen, schauen“ (welche semantische Breite das deutsche Verb „schauen“ bietet!) und damit auch „erkennen“ steht, sondern video = glotzen.


Was ich nicht mag:

... sagen wir wieder besser: Worüber ich mich wundere. Daß den Menschen offenbar kein Zweifel angesichts dieser medialen Inszenierung der Wirklichkeit packt. Daß sie offenbar nicht merken, wie sehr sie immer mehr nur noch Objekte der Medienindustrie werden und sind.
Nicht, daß die Menschen diese Medien nutzen und benutzen – das wäre bzw. ist normal – , sondern daß sie auf der einen Seite mit der Tatsache, daß sie z.B. als Fernsehzuschauer nur noch eine Quotenfunktion haben (wobei den Verantwortlichen beim Öffentlich-rechtlichen Fernsehen und auch bei den Privatsendern, seit geraumer Zeit ja nur noch als Unterschichten- und/oder Prekariatsfernsehen tituliert, letztlich ‚wurscht’ ist, mit welchen Mitteln und Inhalten sie die Menschen vor die 'Glotze' bekommen), also Mittel zum Zweck sind, daß aber auf der anderen Seite – und hier liegt für mich das Fatale! – , daß das Bild von der Wirklichkeit und damit das Bewußtsein immer mehr von der inszenierten Bildwirklichkeit des Fernsehens bestimmt wird.
Das heißt wohl: Die bunte, oft nur irre und wirre Bilderwelt auf dem Monitor wird als Wirklichkeit, als Realität wahrgenommen. Während die Verwendung anderer Medien (Schriftmedien, aber auch die reinen Hörmedien) Reflektion, Überlegung, Verarbeitung erfordern, werden diese Bilder wohl nahezu eins zu eins übersetzt ... d.h. Fernsehen als/ ist die Wirklichkeit. Allein die Tatsache, wie oft und wie lange Menschen fernsehen (interessant, dies auch global zu betrachten!), ist nahezu erschütternd. Wenn hierzu noch die anderen, eben sogenannten neuen Medien, also Computer und Internet dazu kommen ... mal ganz ehrlich: ist Ihnen das nicht unheimlich?
George Orwells düstere Vorstellung eines totalen und totalitären Staates war ja – gegenüber der heutigen Realität medialer Praxis und vor allem weiterer Möglichkeiten (!) – dagegen noch harmlos. (Daß hier die Digitalisierung mit ihren technischen Möglichkeiten eine Schlüsselstellung einnimmt, so nur so angemerkt.)


Über mich:

Damit kein Mißverständnis auftritt: Es geht nicht, vor allem angesichts des Geschehens in Winnenden, um irgendeine Form der „Medienschelte“ (auch diese ist inzwischen Gegenstand der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Rundschau) und auch nicht um etwa (m)eine persönliche Aversion – etwa weltanschaulicher und/oder kulturkritischer Art (obwohl - letzteres trifft schon auch zu) gegen das Fernsehen, sondern um die Vermutung (oder ist es doch bereits die Tatsache), daß Fernsehen immer weniger die Wirklichkeit vermittelt und auch „interpretiert“. Denn dagegen ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden, wenn dies per se erkennbar und gekennzeichnet ist, In den seriösen Printmedien wird eben unterschieden: "facts are sacred, comments are free". Es wäre auch billig, dem Fernsehen (obwohl bereits hier unterschieden werden sollte zwischen eben einzelnen Sendern!) in diesem Zusammenhang eine/die 'Alleinverantwortung' zuzuschieben. Denn man wird weder zum Fernsehen gezwungen noch ist es die einzige Informationsquelle. Nein, es geht darum, daß offenbar das Fernsehen für viele Menschen immer mehr die Wirklichkeit ersetzt. Auf der einen Seite, indem es eine bunte Traum- und Ersatzwelt vermittelt und suggeriert (wie in den Zeitschriften manchmal gar nicht mehr zu erkennen ist, was gegebenenfalls noch real genommen werden soll und was bereits Werbung ist); auf der anderen Seite – und hier „aufgemerkt“, würde 'Erwin Pelzig' sagen! – , daß das Fernsehen die Wirklichkeit selektiert und interpretiert, was eben vom Zuschauer gar nicht mehr als solches wahrgenommen wird. Der Blick in Bildschirm ersetzt wohl den Blick in die Wirklichkeit. (Zu Winnenden – nach rund 130 Seiten allein hier im ST! – gibt es wohl nichts zu sagen.)

Apropos Wirklichkeit
Heute morgen, während des Spaziergangs an der Donau, über die Steinerne Brücke, fröhliches Vogelgezwitscher, während sich die dunklen Wasser der Donau am Ufer vorbeiwälzten.



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Kommentare (2)

niederrhein Natürlich ist man in solchen Situationen hilflos ...

und man weiß nicht, was man sagen bzw. schreiben soll. (Vielleicht sollte man auch besser schweigen?). Aber es ist wohl so, daß ein solches Geschehen wie in Winnenden primär als mediales Ereignis gesehen, erlebt und vor allem vermarktet wird. Ist das Ganze medial ausgeschlachtet (anders kann man es nicht nennen!), ist es keine Sache mehr für die Öffentlichkeit. Und ich stimme Dir ausdrücklich zu: Vom Verhungern und Verdursten, Verrecken und Krepieren vieler, vieler Kinder auf dieser Welt ist (fast) keine Rede.
(Wobei natürlich angesichts solcher Dinge ... hier wie dort ... ein Vergleich deplaziert ist.)

Die Bertha
vom Niederrhein

minu Der Schmerz ist gross, wenn Menschen sterben, in unmittelbarer Nähe, das verstehe ich sehr gut.
Doch was ist mit den unzähligen Müttern, die ihr totes Bebe im Arm tragen, weil es nichts zu Essen und zu Trinken gibt.
Was ist mit all den Müttern, deren Söhne in den Krieg ziehen müssen und dann tot und fürs Leben gezeichnet, nach Hause kommen.
Diese Wirklichkeit, will man nicht mehr sehen.
Gibt wohl auch keine Einschaltquoten.

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