Glosse vom 09.02.2009
Glosse vom 09.02.2009
Was ich gerne mag:
... was ich mag, was mich immer wieder in Erstaunen versetzt, sind Menschen. Menschen, die sich begeistern können, die für eine gute, wichtige, für eine schöne Sache, vor allem für andere Menschen eintreten. Für intelligente, für kluge Menschen; Menschen, die auch oder vor allem in der Lage sind, die Beschränktheit ihrer Erkenntnis zu erkennen, die Ansichten revidieren können und gegebenenfalls sogar die (richtigere) Ansicht eines Gesprächspartners akzeptieren können. Für Menschen, die lernen und dazulernen können.
So weit, so gut. Erstaunen lassen mich oder sollte ich hier besser und zutreffender schreiben: es erschrecken mich Menschen, die offenbar teilweise oder sogar völlig lernunfähig sind.
Da gibt es Menschen mit Ansichten, besser würde man schreiben: mit Vorurteilen und/oder mit offensichtlich falschen Ansichten (wir sprechen hier nicht über Geschmacksfragen oder so ... "de gustibus non disputandum"!), die oftmals nicht nur dumm und blöd sind, sondern eigentlich (halb)kriminell und/oder eigentlich strafbar sind, weil sie etwa den Charakter einer Verleumdung, Verhetzung haben und oft auch indirekt/direkt zur Gewalt aufrufen.
Offenbar nichts in der Welt kann sie von der Falschheit (im Sinne einer Falsifikation) ihrer Ansichten abbringen, sie argumentativ überzeugen.
Nun wäre man ja, bliebe man bei seinem Urteil (= Verurteilen) über solche Menschen und deren Ansichten stehen (es fällt dann gelegentlich sehr schwer, zwischen den eigentlichen Menschen und dessen Ansichten zu trennen – so als wollte man zwischen einem ehemaligen überzeugten Nationalsozialisten und Täter [er war ja ein so guter Familienvater, ein Tierfreund und ein kultureller Mensch] und dessen Handeln eine Trennung vollziehen), selbst keinen Deut besser ...
Was ich nicht mag:
... ist, wenn man selbst nur bei seinem – oft nicht weiter reflektierten – Urteil/vielleicht auch eigenen Vorurteil stehen bleibt. Denn zu fragen wäre doch, warum das so ist: warum denkt und handelt dieser Mensch so? Wie kommt er dazu?
Der Mensch, der vor uns steht, dem wir begegnen, mit dem wir diskutieren, hat seine eigene „innere“ Biographie, eine bestimmte psychische, mentale, geistige Entwicklung, an der etliche Faktoren ihren – eben unterschiedlichen – Anteil haben.
Nun sagt man vom Menschen, das er in seiner juvenilen Grundstruktur prinzipiell bis ins hohe Alter lernfähig bliebe. Ja, die Lernfähigkeit – d.h. Informationen aufnehmen, verarbeiten, einordnen, anwenden und beurteilen – ist ein konstituierendes Merkmal des Menschen. (Nicht zuletzt die Tatsache, daß hier, in dieser ST-Welt viele ältere, alte und offenbar schon sehr alte Menschen gelernt haben, mit der Informationstechnik umzugehen, bestätigt die These der ständigen Lernfähigkeit und -bereitschaft der Menschen.)
Aber was ist es, daß manchmal oder sogar oft Menschen daran hindert zu erkennen, daß ihre Ansichten fehlerhaft, unvollständig, einseitig, verzerrt oder gar falsch sind? Ist es allein Unwissenheit und Unkenntnis? Ist es Dummheit (diese seltsame Mischung aus Unwissenheit, Verstockt- und Sturheit) und Blödheit (hier kommen noch Dreistigkeit und Frechheit dazu)? Ist es Verblendung, Fanatismus?
Das Schlimme und Fatale ist dazu, daß es ja gerade bei solchen Menschen oft nicht bei diesen „Ansichten“ bleibt (meine Güte, wenn man mit ihnen nichts zu tun hat, könnte man ja solche Ansichten ignorieren) ... sondern in Verbindung mit religiösen und/oder politischen Einstellungen steigern sich solche „Ansichten“ zu einer Art Hysterie, die oft in persönlichen und/oder öffentlichen, kollektiven Gewaltakten kulminiert.
Über mich:
... vielleicht sollte man gelegentlich seinem Schicksal dankbar sein oder sagen wir so: die persönliche, also meine Biographie, so grotesk und tragisch sie die ersten fünfzehn Jahre war, hat – aus heutiger Sicht – einige positive Aspekte.
Aufgewachsen in einer Welt des kollektiven Rassen- und Massenwahns, überlebt, aber immer zwischen den Stühlen sitzend. Vielleicht am Anfang schmerzhaft, dann aber immer stärker als ein Stück Unabhängigkeit erlebt. Wäre ich eine "Sabra" gewesen, hätte sich für mich die Welt in Juden und Nichtjuden (ob sich alle Menschen nichtjüdischen Glaubens und/oder Herkunft in Israel als "Israelis" fühlen, fühlen können und dürfen?) aufgeteilt, so aber hatte ich die Gelegenheit, die Chance und auch das Glück aufgrund meiner Biographie, hinter den üblichen Etiketten von bzw. für Menschen, immer den eigentlichen Menschen zu suchen und zu sehen; unabhängig etwa von der Religion, seiner ethnischen Herkunft oder irgendeiner Staatsangehörigkeit.
Und heute ... immer mehr fragte und frage ich mich: Warum sind bestimmte Menschen so? Warum denken und handeln Menschen oft in einer Weise, die man einfach nicht gutheißen kann. (Das Denken und Handeln eines Rassisten kann man prinzipiell nicht gutheißen.) Wie kommen Menschen zu völlig verqueren Ansichten? (Dies findet man besonders in Bezug auf politische und religiöse Ansichten.)
Auch wenn es noch so dumme, blöde und/oder falsche Ansichten gibt: Kein Mensch wird so geboren. Also die Frage: Was ist geschehen, daß ein Mensch auf der einen Seite zu so einseitigen, falschen Ansichten (und daraus resultierend zu falschem Handeln) kommt; auf der anderen Seite keine Einsicht in eben diese falsche Ansichten hat.
http://community.seniorentreff.de/storage/pic/userbilder/a30f1d57825f100a5a9ba38c76fffe20/funktionsbilder01gruesseetc.090101/133304_3_Funktionsbilder_01_Gruesse_etc._090101.jpg[/img]
Dieses Funktionsdiagramm zeigt die entscheidenden Faktoren, die auf die Entwicklung eines Menschen einwirken. Dies sicherlich mit unterschiedlichem Gewicht; denn jeder Mensch reagiert vermutlich anders auf die einzelnen Faktoren.
[i]Die entscheidende Frage ist - zumindest für mich - : Ist der Mensch in der Lage, gegebenfalls diese Prägung selbst zu korrigieren oder ist er gleichsam schicksalhaft dieser (von ihm nicht verantworteten) Prägung ausgeliefert?
Wichtig ist zu erkennen, daß die entscheidende Prägung in den ersten Lebensjahren (so bis etwa sieben, acht Jahren) erfolgt. Das eine Kind kommt mit einem geringen Unterschichtenwortschatz von einigen hundert Wörtern, nicht entwickelter Syntax etc. in die Grundschule; das andere Kind mit einem Wortschaft einigen tausend Worten und elaborierten Sprachcode. Kann das erste Kind diesen Nachteil wieder wettmachen? (Erfährt ein solches Kind die entsprechende Förderung im Kindergarten, einer Vorschule und in der Grundschule?)
Traumatische Erlebnisse (familiäre Katastrophen, elterliche Gewalt, Mißbrauch, Armut, Flucht, Vertreibung, Bürgerkriege u.a.) scheinen sich auf ein ganzes Leben schicksalhaft auszuwirken.
In der Süddeutschen Zeitung wurden vor kurzem Biographien von Spekulanten [so die Bezeichnung durch die SZ] vorgestellt; es war geradezu symptomatisch, daß und wie Armut in der Kindheit, in der Familie offenbar ein, wenn nicht das Movens für die Biographie dieser Spekulanten gewesen ist. In einer Rezension (in der ZEIT) des Buches Montefiores über den jungen Stalin merkte der Rezensent an, daß es wohl kein Zufall sei, daß die beiden größten politischen Verbrecher des 20. Jahrhunderts von ihren Vätern besinnungslos geprügelt worden seien.
Natürlich wirkt sich diese frühe Prägung gegebenenfalls auch ungeheuer positiv aus, wie man anhand der Biographien von vielen Wissenschaftlern, Musikern etc. eruieren kann.
Alice Miller setzt sich in ihrem Buch Im Anfang war Erziehung mit der Frage auseinander, wie und warum die ersten Lebensjahre entscheidend sind; wie Erziehungsfehler im schlimmsten Fall zu verheerenden Folgen wie Verbrechen führen können. (Sie führt drei Fallstudien an: die Kindheit der drogensüchtigen Christiane F., von Adolf Hitler und des Kindesmörders Jürgen Bartsch.
Als weiteres Beispiel: Die private und öffentliche Ansicht über Homosexualität. Zugegeben: Das Registrieren der Homosexualität und die persönliche Ansicht wurden in den letzten hundert, hundertfünfzig Jahren von verschiedenen Faktoren geprägt. Sicher waren viele Menschen diesbezüglich relativ unwissend.
Aber wir schreiben 2009. Die letzten dreißig, vierzig Jahre haben diesbezüglich eigentlich für alle neue (?) Erkenntnisse gebracht, eine Revision des Strafrechtes (allein eine Betrachtung der Homosexualität im internationalen Strafrecht zeigt, wie rückständig die Gesetzgebung, das Strafrecht in Deutschland und Österreich diesbezüglich waren.)
Wie kommen also noch heute Menschen in den europäischen Gesellschaften dazu, homosexuelle Menschen zu diskriminieren? Welche Faktoren haben ein solches "Weltbild" geprägt? Und welche Faktoren verhindern, diese Diskriminierung eben als Diskriminierung zu erkennen?
Ein weiterer Nachtrag
Nach der Lektüre der Diskussion über das Thema, ob man mit den Holocaust-Leugnern reden solle und könne.
Die Komplexität nimmt zu; die obige Funktionsgrafik müßte erweitert werden. Doch zunächst muß man unterscheiden zwischen:
- Eigentliche Täter
- Zuarbeiter
- Mitläufer ...
- die Menschen aus jener Zeit, die damals mehr oder weniger volljährig, verantwortlich waren ...
(Alle Nachgeborenen betrifft - wenn man überhaupt den Begriff betrifft verwenden will - diese Geschichte nur noch indirekt.)
Wenn man sich nur auf Täter und Zuarbeiter konzentriert: Wie sind hier die einzelnen Faktoren zu erkennen und zu trennen: Politische und gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen; familiäre, schulische und sonstige Sozialisation? Endogene und exogene Faktoren? Davon abgesehen, daß es bald endgültig müßig ist, der individuellen Schuld von Täter und Zuarbeitern nachzugehen, weil nur noch wenige Menschen aus dieser Altersgruppe leben.
Dennoch die Frage: Welche der Täter und Zuarbeiter haben sich zu ihrer Schuld, zu ihrem Versagen bekannt? Mir ist nur eine einzige Person bekannt, die sich in den achtziger Jahren (nach Ermittlung und Anklage) zu ihrer Schuld öffentlich bekannt hatte. (Es handelte sich um einen Bürgermeister einer fränkischen Kleinstadt.)
Die Mitscherlichs sprachen von der Unfähigkeit zu trauern, Ralph Giordano von der Zweiten Schuld der Deutschen, nämlich das Versagen der Nachkriegsgesellschaft (also der 50er Jahre), diese Verbrechen aufzuklären und die Schuld aufzuarbeiten.
(Ein Fall von vielen; Albert Ganzenmüller hatte die Verantwortung für die Organisation und Durchführung der Massentransporte mit der Bahn in die Vernichtungslager. Kein Wort der Einsicht und der Reue. (Achtung: Der Wikipedia-Artikel ist unvollständig; ich werde ihn demnächst erweitern.)
Verantwortlich
Die Bertha
vom Niederrhein
Was ich gerne mag:
... was ich mag, was mich immer wieder in Erstaunen versetzt, sind Menschen. Menschen, die sich begeistern können, die für eine gute, wichtige, für eine schöne Sache, vor allem für andere Menschen eintreten. Für intelligente, für kluge Menschen; Menschen, die auch oder vor allem in der Lage sind, die Beschränktheit ihrer Erkenntnis zu erkennen, die Ansichten revidieren können und gegebenenfalls sogar die (richtigere) Ansicht eines Gesprächspartners akzeptieren können. Für Menschen, die lernen und dazulernen können.
So weit, so gut. Erstaunen lassen mich oder sollte ich hier besser und zutreffender schreiben: es erschrecken mich Menschen, die offenbar teilweise oder sogar völlig lernunfähig sind.
Da gibt es Menschen mit Ansichten, besser würde man schreiben: mit Vorurteilen und/oder mit offensichtlich falschen Ansichten (wir sprechen hier nicht über Geschmacksfragen oder so ... "de gustibus non disputandum"!), die oftmals nicht nur dumm und blöd sind, sondern eigentlich (halb)kriminell und/oder eigentlich strafbar sind, weil sie etwa den Charakter einer Verleumdung, Verhetzung haben und oft auch indirekt/direkt zur Gewalt aufrufen.
Offenbar nichts in der Welt kann sie von der Falschheit (im Sinne einer Falsifikation) ihrer Ansichten abbringen, sie argumentativ überzeugen.
Nun wäre man ja, bliebe man bei seinem Urteil (= Verurteilen) über solche Menschen und deren Ansichten stehen (es fällt dann gelegentlich sehr schwer, zwischen den eigentlichen Menschen und dessen Ansichten zu trennen – so als wollte man zwischen einem ehemaligen überzeugten Nationalsozialisten und Täter [er war ja ein so guter Familienvater, ein Tierfreund und ein kultureller Mensch] und dessen Handeln eine Trennung vollziehen), selbst keinen Deut besser ...
Was ich nicht mag:
... ist, wenn man selbst nur bei seinem – oft nicht weiter reflektierten – Urteil/vielleicht auch eigenen Vorurteil stehen bleibt. Denn zu fragen wäre doch, warum das so ist: warum denkt und handelt dieser Mensch so? Wie kommt er dazu?
Der Mensch, der vor uns steht, dem wir begegnen, mit dem wir diskutieren, hat seine eigene „innere“ Biographie, eine bestimmte psychische, mentale, geistige Entwicklung, an der etliche Faktoren ihren – eben unterschiedlichen – Anteil haben.
Nun sagt man vom Menschen, das er in seiner juvenilen Grundstruktur prinzipiell bis ins hohe Alter lernfähig bliebe. Ja, die Lernfähigkeit – d.h. Informationen aufnehmen, verarbeiten, einordnen, anwenden und beurteilen – ist ein konstituierendes Merkmal des Menschen. (Nicht zuletzt die Tatsache, daß hier, in dieser ST-Welt viele ältere, alte und offenbar schon sehr alte Menschen gelernt haben, mit der Informationstechnik umzugehen, bestätigt die These der ständigen Lernfähigkeit und -bereitschaft der Menschen.)
Aber was ist es, daß manchmal oder sogar oft Menschen daran hindert zu erkennen, daß ihre Ansichten fehlerhaft, unvollständig, einseitig, verzerrt oder gar falsch sind? Ist es allein Unwissenheit und Unkenntnis? Ist es Dummheit (diese seltsame Mischung aus Unwissenheit, Verstockt- und Sturheit) und Blödheit (hier kommen noch Dreistigkeit und Frechheit dazu)? Ist es Verblendung, Fanatismus?
Das Schlimme und Fatale ist dazu, daß es ja gerade bei solchen Menschen oft nicht bei diesen „Ansichten“ bleibt (meine Güte, wenn man mit ihnen nichts zu tun hat, könnte man ja solche Ansichten ignorieren) ... sondern in Verbindung mit religiösen und/oder politischen Einstellungen steigern sich solche „Ansichten“ zu einer Art Hysterie, die oft in persönlichen und/oder öffentlichen, kollektiven Gewaltakten kulminiert.
Über mich:
... vielleicht sollte man gelegentlich seinem Schicksal dankbar sein oder sagen wir so: die persönliche, also meine Biographie, so grotesk und tragisch sie die ersten fünfzehn Jahre war, hat – aus heutiger Sicht – einige positive Aspekte.
Aufgewachsen in einer Welt des kollektiven Rassen- und Massenwahns, überlebt, aber immer zwischen den Stühlen sitzend. Vielleicht am Anfang schmerzhaft, dann aber immer stärker als ein Stück Unabhängigkeit erlebt. Wäre ich eine "Sabra" gewesen, hätte sich für mich die Welt in Juden und Nichtjuden (ob sich alle Menschen nichtjüdischen Glaubens und/oder Herkunft in Israel als "Israelis" fühlen, fühlen können und dürfen?) aufgeteilt, so aber hatte ich die Gelegenheit, die Chance und auch das Glück aufgrund meiner Biographie, hinter den üblichen Etiketten von bzw. für Menschen, immer den eigentlichen Menschen zu suchen und zu sehen; unabhängig etwa von der Religion, seiner ethnischen Herkunft oder irgendeiner Staatsangehörigkeit.
Und heute ... immer mehr fragte und frage ich mich: Warum sind bestimmte Menschen so? Warum denken und handeln Menschen oft in einer Weise, die man einfach nicht gutheißen kann. (Das Denken und Handeln eines Rassisten kann man prinzipiell nicht gutheißen.) Wie kommen Menschen zu völlig verqueren Ansichten? (Dies findet man besonders in Bezug auf politische und religiöse Ansichten.)
Auch wenn es noch so dumme, blöde und/oder falsche Ansichten gibt: Kein Mensch wird so geboren. Also die Frage: Was ist geschehen, daß ein Mensch auf der einen Seite zu so einseitigen, falschen Ansichten (und daraus resultierend zu falschem Handeln) kommt; auf der anderen Seite keine Einsicht in eben diese falsche Ansichten hat.
http://community.seniorentreff.de/storage/pic/userbilder/a30f1d57825f100a5a9ba38c76fffe20/funktionsbilder01gruesseetc.090101/133304_3_Funktionsbilder_01_Gruesse_etc._090101.jpg[/img]
Dieses Funktionsdiagramm zeigt die entscheidenden Faktoren, die auf die Entwicklung eines Menschen einwirken. Dies sicherlich mit unterschiedlichem Gewicht; denn jeder Mensch reagiert vermutlich anders auf die einzelnen Faktoren.
[i]Die entscheidende Frage ist - zumindest für mich - : Ist der Mensch in der Lage, gegebenfalls diese Prägung selbst zu korrigieren oder ist er gleichsam schicksalhaft dieser (von ihm nicht verantworteten) Prägung ausgeliefert?
Wichtig ist zu erkennen, daß die entscheidende Prägung in den ersten Lebensjahren (so bis etwa sieben, acht Jahren) erfolgt. Das eine Kind kommt mit einem geringen Unterschichtenwortschatz von einigen hundert Wörtern, nicht entwickelter Syntax etc. in die Grundschule; das andere Kind mit einem Wortschaft einigen tausend Worten und elaborierten Sprachcode. Kann das erste Kind diesen Nachteil wieder wettmachen? (Erfährt ein solches Kind die entsprechende Förderung im Kindergarten, einer Vorschule und in der Grundschule?)
Traumatische Erlebnisse (familiäre Katastrophen, elterliche Gewalt, Mißbrauch, Armut, Flucht, Vertreibung, Bürgerkriege u.a.) scheinen sich auf ein ganzes Leben schicksalhaft auszuwirken.
In der Süddeutschen Zeitung wurden vor kurzem Biographien von Spekulanten [so die Bezeichnung durch die SZ] vorgestellt; es war geradezu symptomatisch, daß und wie Armut in der Kindheit, in der Familie offenbar ein, wenn nicht das Movens für die Biographie dieser Spekulanten gewesen ist. In einer Rezension (in der ZEIT) des Buches Montefiores über den jungen Stalin merkte der Rezensent an, daß es wohl kein Zufall sei, daß die beiden größten politischen Verbrecher des 20. Jahrhunderts von ihren Vätern besinnungslos geprügelt worden seien.
Natürlich wirkt sich diese frühe Prägung gegebenenfalls auch ungeheuer positiv aus, wie man anhand der Biographien von vielen Wissenschaftlern, Musikern etc. eruieren kann.
Alice Miller setzt sich in ihrem Buch Im Anfang war Erziehung mit der Frage auseinander, wie und warum die ersten Lebensjahre entscheidend sind; wie Erziehungsfehler im schlimmsten Fall zu verheerenden Folgen wie Verbrechen führen können. (Sie führt drei Fallstudien an: die Kindheit der drogensüchtigen Christiane F., von Adolf Hitler und des Kindesmörders Jürgen Bartsch.
Als weiteres Beispiel: Die private und öffentliche Ansicht über Homosexualität. Zugegeben: Das Registrieren der Homosexualität und die persönliche Ansicht wurden in den letzten hundert, hundertfünfzig Jahren von verschiedenen Faktoren geprägt. Sicher waren viele Menschen diesbezüglich relativ unwissend.
Aber wir schreiben 2009. Die letzten dreißig, vierzig Jahre haben diesbezüglich eigentlich für alle neue (?) Erkenntnisse gebracht, eine Revision des Strafrechtes (allein eine Betrachtung der Homosexualität im internationalen Strafrecht zeigt, wie rückständig die Gesetzgebung, das Strafrecht in Deutschland und Österreich diesbezüglich waren.)
Wie kommen also noch heute Menschen in den europäischen Gesellschaften dazu, homosexuelle Menschen zu diskriminieren? Welche Faktoren haben ein solches "Weltbild" geprägt? Und welche Faktoren verhindern, diese Diskriminierung eben als Diskriminierung zu erkennen?
Ein weiterer Nachtrag
Nach der Lektüre der Diskussion über das Thema, ob man mit den Holocaust-Leugnern reden solle und könne.
Die Komplexität nimmt zu; die obige Funktionsgrafik müßte erweitert werden. Doch zunächst muß man unterscheiden zwischen:
- Eigentliche Täter
- Zuarbeiter
- Mitläufer ...
- die Menschen aus jener Zeit, die damals mehr oder weniger volljährig, verantwortlich waren ...
(Alle Nachgeborenen betrifft - wenn man überhaupt den Begriff betrifft verwenden will - diese Geschichte nur noch indirekt.)
Wenn man sich nur auf Täter und Zuarbeiter konzentriert: Wie sind hier die einzelnen Faktoren zu erkennen und zu trennen: Politische und gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen; familiäre, schulische und sonstige Sozialisation? Endogene und exogene Faktoren? Davon abgesehen, daß es bald endgültig müßig ist, der individuellen Schuld von Täter und Zuarbeitern nachzugehen, weil nur noch wenige Menschen aus dieser Altersgruppe leben.
Dennoch die Frage: Welche der Täter und Zuarbeiter haben sich zu ihrer Schuld, zu ihrem Versagen bekannt? Mir ist nur eine einzige Person bekannt, die sich in den achtziger Jahren (nach Ermittlung und Anklage) zu ihrer Schuld öffentlich bekannt hatte. (Es handelte sich um einen Bürgermeister einer fränkischen Kleinstadt.)
Die Mitscherlichs sprachen von der Unfähigkeit zu trauern, Ralph Giordano von der Zweiten Schuld der Deutschen, nämlich das Versagen der Nachkriegsgesellschaft (also der 50er Jahre), diese Verbrechen aufzuklären und die Schuld aufzuarbeiten.
(Ein Fall von vielen; Albert Ganzenmüller hatte die Verantwortung für die Organisation und Durchführung der Massentransporte mit der Bahn in die Vernichtungslager. Kein Wort der Einsicht und der Reue. (Achtung: Der Wikipedia-Artikel ist unvollständig; ich werde ihn demnächst erweitern.)
Verantwortlich
Die Bertha
vom Niederrhein
Kommentare (2)
Drachenmutter
Danke, dass Du in diesem Zusammenhang das Buch von Alice Miller erwähnt hast. Ich habe innerhalb der letzten 5 Jahre alle ihre Bücher zum Thema Kindesmisshandlung / Kindesmissbrauch gelesen und kenne auch ihre Internetseite sehr gut, lese dort regelmäßig die erschütternden Leserbriefe, unter denen sich auch einige von mir befinden.
Das Buch Am Anfang war Erziehung hat mich sehr erschüttert, aber auch viele Erklärungen geliefert. Nach dieser Lektüre habe ich klarer gesehen.
Danke für Deinen Beitrag.
Liebe Grüße,
woelfin
Das Buch Am Anfang war Erziehung hat mich sehr erschüttert, aber auch viele Erklärungen geliefert. Nach dieser Lektüre habe ich klarer gesehen.
Danke für Deinen Beitrag.
Liebe Grüße,
woelfin
(Erich Kästner)
Das ist die eigentliche Tragödie, ich kann ein guter Staatsbürger sein, alle Normen, Regeln und Gesetze einhalten und dennoch ein höchst unmoralischer Mensch sein.Viele glauben ein „Gutmensch“ zu sein, nur weil sie im Mainstream mit schwimmen. Das eigene Gewissen über Staat und Gesetz stellen, dazu gehört Widerstand und Mut.
Manche Menschen scheinen ihre Meinung in eine Art Satzbausteine gegossen zu haben, daraus werden dann bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit Stücke heraus geholt und immer und immer wieder präsentiert.
Sie kennen keine Zweifel, keine Entwicklung, für sie gibt es nur Output, niemals neuen Input.
Senhora