Fliegende Russen
Zähfließend, manchmal stockend, manchmal stehend, selten flüssig – so ist der Verkehr auf den Hauptstraßen Pattayas. Es gibt immer mehr riesige doppelstöckige Busse, die chinesische oder koreanische Reisegruppen herumfahren und den Verkehr zum Erliegen bringen.
Die Einheimischen nehmen es mit asiatischer Gelassenheit. Man wartet eben im Dunst des Auspuffs der vor einem Wartenden, bis sich die Schlange wieder in Bewegung setzt. Die Gegenfahrbahn aber ist auf einmal auf hundert Meter Länge fast frei. Das kennt man: Irgendwas blockiert die Fahrbahn dahinter.
Und plötzlich das Aufheulen eines Motors: Ein Fahrer auf einer schweren Maschine fegt mit Höchstgeschwindigkeit auf der Gegenfahrbahn an der geduldig wartenden Schlange vorbei und crasht ohne zu bremsen in eine quer stehende schwarze Limousine, die sich gerade langsam und vorsichtig auf die andere Straßenseite vortastet. Der Motor heult noch einmal mit höchster Drehzahl auf, da erstirbt das Geräusch.
„Jau, das war’s denn mal wieder. Ein Russe weniger!“
sagt mein Balkonnachbar, der schon seit Jahren hier lebt, lakonisch.
Ich muss wohl ziemlich irritiert geguckt haben.
„Passiert hier mindestens einmal pro Woche. Steht schon gar nicht mehr in der Zeitung,“
ergänzt er.
Ich schaue ihn immer noch verständnislos an.
„Pass mal auf. Ich mach Dir mal eine Demonstration! Übermorgen ist Samstag, nachmittags ist Rushhour, und so um vier Uhr ist die beste Voraussetzung für einen Crash.
Wir gehen ins Cafe, und Du zahlst die Getränke, wenn’s klappt!! - Ich hol Dich ab.“
„Jau,“ sagt er, als wir an der Reling des Café Brezil sitzen, direkt an der vielbefahrenen Naklua-Road,
„sozusagen Logenplatz, direkt zwischen zwei Straßeneinmündungen.“
Der Verkehr quält sich durch die Straßen, immer wieder wird der Fahrzeugstrom durchbrochen durch einige Autos oder Motorräder, die sich vorsichtig von den Seitenstraßen einfädeln oder versuchen, im Schritttempo abzubiegen. Dazwischen überall Fußgänger, die die Straßenseite wechseln. Alles schön langsam und vorsichtig. Dauert zwar, aber es klappt. Ich erkenne das System. Ist zwar mühsam und zeitaufwendig, aber jeder kommt ohne Schaden da an, wohin er will.
„Und jetzt pass mal auf,“ sagt er
und zeigt auf zwei Ausländer, die mitten im Stau stehen zwischen den vielen Kleinmotorrädern der Thai stehen und ihre schweren Maschinen immer wieder nervös aufheulen lassen. Zwei echte Machotypen: fast kahlgeschoren, verspiegelte Sonnenbrille, ohne Hemd (damit man die Tattoos besser zur Schau stellen kann), kurze Sporthose, und an den Füßen Flipflops bzw Chinelas oder Baianas oder schlicht Schlappen. Die trägt hier jeder, nur zum Motorradfahren sind sie denkbar ungeeignet. Natürlich haben sie auch einen Sturzhelm, ist schließlich Vorschrift, aber der hängt locker am Arm.
„Die da“, er zeigt auf die beiden,
„haben eine reelle Chance, den heutigen Abend nicht mehr zu erleben!“
Da es auf die Dauer allerdings uninteressant wird, den stehenden Verkehr zu betrachten, kümmern wir uns um das, was unmittelbar vor uns abläuft: Insbesondere um die vielen vorbeigehenden Thailänderinnen. Einhellig sind wir einer Meinung: Sind hübscher, schlanker, eleganter, graziler als alles, was uns aus einem früheren Leben in Erinnerung ist.
Und ich, schon etwas älter, ein angegrauter, etwas lädierter, gerader pensionierter, aber noch vorzeigbarer Mensch (letzteres entspricht wohl eher meiner Einschätzung) komme natürlich auf die Idee, meine weitere Zukunft in den Armen eines dieses ätherischen, immer lächelnden Wesen in einem bescheidenen Häuschen unter rauschenden Palmen,
am weißen Strand mit plätschernden Wellen unter blauem Himmel ……
Ein ohrenbetäubendes Aufbrüllen von Motoren reißt mich aus meinen Träumen: Vor uns preschen zwei Schatten vorbei, verfehlen ein paar Fußgänger, die über die Straße wollen, nur knapp, versuchen etwas zögerlich, zu bremsen, um nicht in den Querverkehr, der sich gerade aufbaut, hineinzugeraten. Ist aber hoffnungslos: Der eine gräbt sich mitsamt seiner Maschine in die Flanke eines Kleinbusses und ist nicht mehr zu sehen, der andere rammt einen Kleinlaster in der Höhe des Motorblocks, was ihm selbst die Gelegenheit gibt, runde dreißig Meter elegant mit den Kopf zuerst durch die Luft zu fliegen; sogar seinen Helm hat er noch in der Hand. Dann verschwindet er im Verkehrsgewühl.
„Jau, das war’s dann wohl, Demonstration geglückt! Du zahlst!!“
Auf dem Rückweg zu unserem Hotel muss ich mich erstmal hinsetzen. Mir zittern immer noch die Knie. Und der Verkehr ist nun endgültig zum Erliegen gekommen.
Wird man eigentlich so kaltschnäuzig, wenn man hier länger lebt? Sind hier alle so? Oder nur die Ausländer? Oder nur die Motorradfahrer? Oder nur die Russen? Oder etwa auch die so sanftmütigen Thaifrauen? Oder lebe ich in einer Traumwelt und bin der Realität nicht gewachsen?
Am nächsten Abend treffe ich meinen Balkonnachbarn wieder. Wir gehen ein Bier trinken. Ich gestehe ihm, dass ich immer noch an der gestrigen „Demonstration“ zu knabbern habe. Und dass ich mir alles eigentlich etwas anders vorgestellt habe. Und dann erzähle ich ihm auch, dass ich schon daran gedacht hatte, mir etwas altersgemäß Nettes aufzubauen, so mit netter Umgebung und netten Menschen und vielleicht einem dieser netten ätherischen Wesen, das mir des Abends meine Seele streichelt.
„Ach, diese Träume hat jeder, der hierherkommt“, sagt er.
„Sie sind auch zu verwirklichen, wenn man einige Regeln beherzigt:
1. Lerne Thai, und zwar gut, denn da, wo du hin willst, spricht keiner mehr englisch.
2. Kaufe in diesem Land nichts, auch kein kleines Häuschen am Strand. Denn du kannst hier als Ausländer kein Eigentum erwerben. Kaufe auch nicht im Namen Deiner so geliebten zukünftigen ätherischen Thaifrau. Denn die ist eines Tages weg – und damit dein Haus. Miete es!
3. Sieh zu, dass du immer flüssig bist. Ohne Geld bist du ein Nichts, denn du hast nirgendwo Kredit.
4. Und sieh zu, dass du gleichgesinnte Freunde findest, ohne sie bist du hier verloren.
Ich lebe hier so seit nun schon 19 Jahren. Es geht mir hervorragend, ich hab alles, was ich will. Und ich kann, wenn ich will oder muss, morgen meinen Koffer packen und verschwinden.“
„Ja,“ sage ich nachdenklich, „einfache Regeln. Aber möglicherweise schwer einzuhalten!“
„Da hast du recht. Besonders problematisch sind die Sprache und die Liebe!“
„Eines will ich dann noch wissen: Wieso eigentlich nur die Russen, die da fliegen?“
„Ist nicht spezifisch. Aber sie neigen zur Rudelbildung. Achte mal auf der Beach-Road auf Gruppen junger Männer. Sind meistens machomäßig aufgestylte jungen Russen, die, eine Bierflasche in der Hand, irgendwann vor einem Motorradverleih stehenbleiben und die Vor- und Nachteile der PS-starken Maschinen diskutieren und probesitzen.
Irgendwann stellt einer dann seine Bierflasche an den Randstein, mietet eine dieser Raketen und verschwindet unter den bewundernden Blicken seiner Kumpel lautstark auf Nimmerwiedersehen!“
castellanos
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