Ein Wiedersehen
Dann, ganz plötzlich, vernahm ich ein Flüstern, fast unhörbar, ich musste schon ganz genau hinhören, um diese Stimme zu verstehen.
»Hallo«, sagte die Stimme, »da bist du ja endlich. Ich habe lange auf dich gewartet. Unendlich lange.«
Erstaunt und auch etwas erschrocken sah ich nach rechts in den Garten hinein. Ich hatte ihn ja schon vorher betrachtet, eigentlich müsste ich sagen: wiedergesehen! Ich wusste nur nicht, ob er mich nach zwanzig Jahren noch erkannt hatte.
»Du weißt noch, wer ich bin?«, fragte ich leise.
»Natürlich weiß ich das, wir waren doch damals unzertrennlich. Oder hast du das vergessen?«
»Ich hab nichts vergessen«, sagte ich, »erinnerst du dich noch, was ich hier alles getan habe?«
Ich unterstrich mit einer weitausholenden Handbewegung meine Worte. Wie ein buntes Kaleidoskop sah ich dabei vor meinen inneren Augen die Zeit vor mir, als wir wirklich eng beieinander lebten. Als ich hier in diesem Haus lebte und wirkte.
Es war eine wunderschöne und lebensbereichernde Zeit, damals vor fast vierzig Jahren. Hier in diesem Garten spielten meine Kinder, ja, und er wuchs ja praktisch mit ihnen auf, es war, als würde er auch zur Familie gehören.
Er sah mich an, es schien mir, als würde er ebenso nachdenkend sein Haupt schütteln und dabei in die Vergangenheit blicken.
»Ja«, flüsterte er dann leise, »es war wunderschön hier bei euch. Erinnerst du dich noch an die Federballspiele an Sommerabenden, als ich euch oft im Wege stand und ihr dann meintet, ich sollte mich doch ein paar Meter weiter hinstellen?«
Ich musste lächeln. Ja, so war es wirklich. Er stand immer im Wege und doch waren wir glücklich, weil er da war! Wir halfen ihm auch stets, wenn er Schwierigkeiten hatte. Das war ja selbstverständlich. Jeder von uns, auch meine Kinder liebten ihn, weil er eben so einmalig war, weil er gewissermaßen zu uns gehörte.
Später dann waren die Kinder alle aus dem Hause, suchten ihr eigenes Glück im eigenen Heim. Danach waren wir beide lange Zeit ganz allein, er und ich. Aber auch meine Partnerin, die dann zu mir kam, mochte ihn sehr, er gehörte eben dazu.
Etwas später kam meine Pensionierung und wir mussten dieses Haus, das meine Dienstwohnung war, verlassen. Ich war unglücklich, von diesem Ort fort zu müssen, und ich glaube, er war ebenfalls traurig! Oft war ich bei ihm, wenn meine persönlichen Nöte und Sorgen mich bedrückten, bei ihm habe ich mich auch manchmal ausgeweint, wie ich ehrlich zugeben muss.
Aber irgendwann kam es, wie es kommen musste, ich verließ das Haus, den Ort und ich verließ auch ihn!
Heute nun kam ich nach fast fünfundzwanzig Jahren wieder zurück. Ich sah ihn und die Erinnerungen stiegen in mir auf. Es war fast so wie damals, als ich ihn verlassen musste! Er war in den Jahren gewachsen, etwa zwanzig Meter hoch. Als ich ihn pflanzte, den kleinen Weihnachtsbaum mit Wurzeln, maß er gerade einen Meter!
Mein Pflegen, Gießen, Düngen hatte mitgeholfen, ihn zu einem stattlichen Baum werden zu lassen. Und darauf bin ich stolz!
©2019 by H.C.G.Lux
Kommentare (6)
Es ist ein unbeschreibbar hohes Lebensglück, wenn man solche herzberührende Erlebnisse in sich trägt und sich ihrer mit Freude ab und an erinnern darf.
Mitschwingend grüßt
Syrdal
So ähnlich, lieber Horst, erging es uns auch.
Nur leider konnte unser kleines Tännchen, in einer "Größe" von anfangs ca. 30 cm, zwar einige Jahrzehnte wachsen, aber irgendwann in der Adventszeit nutzte ein wohl nicht nüchterner Fremder unsere Garageneinfahrt zum Wenden und riss die in der hohen, geraden Tanne leuchtende Lichterkette heraus und mit ihr so einige Äste ... Nun stand sie schief und keineswegs mehr sicher. Wir mussten sie dann leider fällen.
Heute würde ich gern noch einmal zu diesem Fleckchen Erde fahren, mir alles noch einmal anschauen. Aber es ist erst ein gutes halbes Jahr her, dass ich mein Haus verkaufte. Gern würde ich mir ansehen, wie die neuen Bewohner nun alles nach ihrem Gutdünken drinnen und im Garten vor und hinter dem Haus vielleicht verändert haben. Noch fehlt mir die Kraft dazu ...
Für diese auch für mich schöne Erinnerung bedankt sich
Uschi
Eine sehr schöne Geschichte, lieber Horst.
Ob sich der Baum an dich und deine Mitmenschen erinnern kann? Ich bin es mir ganz sicher. Ein Gedächtnis muss ja nicht unbedingt nur einem menschlichen ähnlich sein, nicht wahr?
Mit besten Grüßen
Christine
Du erinnerst mich, lieber Horst, an unser ehemaliges "Aussteigergrundstück", auf dem wir alles pflanzten, dessen wir habhaft werden konnten, und jedesmal in einem "Ereignis". Die Bäume und Sträucher, mit dem vermengt, was schon da war, sind jetzt auch alle groß in ihrer "Wildnis", denn da wird nichts mehr gepflegt. Sie können reden wie deine Tanne. An der riesigen Zypresse sieht man noch, wo früher Räuber die Äste gekappt haben, um damit als Gräberbelag für den Winter zu handeln. Mich überkommt Wehmut.
L.G. Manfred
Gerne, lieber Horst, gehe ich auch mal an Orte zurück, mit denen mich etwas verbindet. Man kann sinnieren, sich erinnern und ist, je nachdem, was dieser Besuch auslöst, auch sehr bewegt. Einen Baum habe ich noch nicht gepflanzt, aber ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es einen mit Stolz erfüllt, wenn man es denn getan hat und daraus ist so ein prächtiger "Kerl" geworden. Auch ein Baum kann einem ans Herz wachsen. Danke für das teilhaben lassen an deinen Erinnerungen, die ich gerne gelesen habe.
Herzlichen Gruß
Brigitte
schön einfach wunderschön
danke Distel1fink7