Ein guter Tag
Ein guter Tag
„Telefonseelsorge. Kann ich helfen?”
„Hallo Ilse, hier ist Ferdinand, der Alki.” Natürlich hatte ich sofort ihre Stimme erkannt, niemand spricht so wie sie. Das Timbre ihrer Stimme ist einzigartig. Noch nie hatte ich so oft und so gerne telefoniert wie jetzt. Kann man sich in eine Stimme verlieben?
„Hey Ferdinand! Wie war dein Tag?”
„Heute war ein guter Tag.”
Die ersten Worte fielen mir schwer, obwohl ich oft diese Nummer anrief, allerdings nur dann an, wenn ich mir genug Mut angetrunken hatte. Wieder einmal hatte ich alle vorherigen Beteuerungen, mit dem Trinken aufzuhören, über Bord geworfen und war zerknirscht. Nüchtern konnte ich nicht über meine Probleme reden. Das Wort Seelsorge hatte für mich den fahlen Beigeschmack von Pfarrer, Kirche und Beichte. Das ist etwas für Schwache, dachte ich, ich bin nicht schwach, ich bin nur betrunken.
Bei Ilse war das anders, bei ihr konnte ich die katholische Hürde überspringen, bei ihr erlaubte ich mir, hilflos zu sein. Ich wusste, dass der Name Ilse nur ein Pseudonym war, aber das störte mich nicht. Ich war ohnehin der Meinung, dass Engel keinen Namen brauchen. Freundlich fragte sie nun, wie mein Tag gewesen ist. Ich erzählte und Ilse hörte zu. Es wurde still am anderen Ende, so still, dass ich glaubte, sie sei nicht mehr da. Ich schloß die Augen und hielt die Luft an, dann fragte ich leise: „Bist du noch da?”
„Du kannst so gut erzählen Ferdinand, ich hör dir gerne zu, bitte sprich weiter.”
Genau das ist es, dachte ich, sie hört einfach zu. Selten hatte sie Einwände und wenn doch, dann konnte ich damit etwas anfangen und merkte, sie verstand mich. Sie wusste aus vielen unserer nächtlichen Gespräche, dass ich an einem Punkt angelangt war, an dem ich mich entscheiden musste. Aufhören – und vielleicht doch noch die Kurve kriegen – oder dem Saufdruck nachgeben und den Verstand verlieren. In solchen Momenten keimte in mir der Gedanke, dass zwanzig Jahre Suff genug sein könnten. Was würde sein, wenn ich die abschätzigen Blicke der Leute nicht mehr so ohne weiteres wegstecken könnte. Die Gesellschaft, deren anerkanntes Mitglied ich einmal war, kann in mir ja nichts anderes mehr sehen, als ein willenloses Subjekt, dessen Gehirn vom Alkohol zerfressen ist und das jegliche Kontrolle über sich selbst verloren hat. In lichten Momenten gab ich ihnen sogar recht und schämte mich für mein Leben.
Ilse sagte, sie könne mich gut verstehen, aufhören sei halt verdammt schwer. Sie wäre auch nicht böse, wenn ich es nicht schaffen würde, nur traurig. Erst der Nachklang ihrer Worte machte meinem Restverstand klar, dass sie an meine Ehre appellierte. Das war der Punkt. Ich wollte auf keinen Fall zulassen, dass Ilse meinetwegen traurig sein müsste. Es war mein Beschützerinstinkt gewesen, der mein Denken beeinflusste. Auch ein Bild des Verrücktseins, dachte ich. Ich, ein hoffnungsloser Säufer, der sich zeitweise vor seinem eigenen Schatten fürchtete, will jemanden beschützen? Wie verrückt war das denn?
Ich erzählte von Harry, dem ehemaligen Arbeitskollegen, den ich im Pfiff getroffen hatte, nachdem ich mir an der Pforte der Erzabtei Sankt Peter den Einstand, also das Geld für das erste Bier, geschnorrt hatte. So fing dieser Tag an. Harry meinte, er hätte Grund zum Feiern, allein würde es aber keinen Spaß machen, deshalb lud er mich ein.
„Das ist es, was ich einen guten Tag nenne”, sagte ich zu Harry. Er sah das auch so und finanzierte eine planlose Zechtour durch die Stadt. Zum Schluss landeten wir im Kolibri, einer noblen Bar mit astronomischen Preisen, ein Lokal in dem ich normalerweise nicht verkehrte. Auf einmal war Harry spurlos verschwunden. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, die Zeche bezahlen zu müssen. Ich hatte nur ein paar Groschen in der Tasche. Während ich noch überlegte, wie ich dem drohenden Ärger und womöglich einer Anklage wegen Zechprellerei entkommen könnte, legte mir der Barkeeper Wechselgeld auf den Tresen. Harry war zwar betrunken gewesen, hatte aber, von mir unbemerkt, bezahlt und sich verdrückt, ohne auf das Restgeld zu warten. Schwein gehabt, dachte ich, auch der Einstand für morgen ist gerettet.
Es knackte im Hörer, Ilse hatte sich geräuspert, um mich in meinem Redefluss zu unterbrechen. „Sag mal, Ferdinand, wie kannst du so flüssig reden und erzählen? Du musst, deiner Schilderung nach, doch mindestens so betrunken sein wie dein Freund, oder nicht?”
„Natürlich bin ich besoffen, ich kann kaum noch richtig stehen, aber das ist nur äußerlich. Sonst bin ich okay, ich kann noch ganz gut reden, oder?”
„Und innerlich, wie geht´s dir innerlich? Ferdinand, was war mit deinem letzten Termin bei der Suchtberatung? Wir waren uns einig, du wolltest es doch auch, dass ich dir helfe den ersten Schritt zu tun. Schon vergessen?”
„Nein, ich hab es nicht vergessen. Ich hatte Angst. Wenn ich nüchtern bin, habe ich immer Angst. Es ist schwer zu erklären, aber ich fürchte mich manchmal vor mir selbst.”
Es war mir peinlich, wie sich Ilse abmühte. Ich sagte: „Ehrlich, manchmal warte ich nur darauf, dass du das Handtuch schmeißt, mir so richtig die Meinung sagst und mir die letzten zehn nicht wahrgenommenen Termine endlich vorwirfst und um die Ohren haust.”
„Das wäre keine Lösung, Ferdinand. Hör zu: Das Vorsprechen auf diesem Amt ist wichtig, denn nur da bekommst du ein Bett in der Entzugsklinik zugeteilt. Du bist nicht versichert, du kannst nicht einfach zum Hausarzt gehen und dich einweisen lassen, so funktioniert das nicht.”
„Ja, ich weiß, es tut mir leid.”
„Es braucht dir nicht leidtun, Ferdinand, du bist alkoholkrank. Versuche einfach, deine Krankheit anzunehmen. Du hast ein Recht darauf, gesund zu werden.”
Die hat leicht reden, dachte ich. Trotzdem möchte ich ihr glauben, irgendetwas in mir ließ es nicht zu. Meine Probleme löste ich schon immer mit Alkohol, auch wenn der Erfolg nur vorübergehend war. Ich wusste Bescheid und trotzdem handelte ich dagegen. Ich kann nicht dicht sein im Kopf, dachte ich.
Ilse riss mich aus meinen Gedanken, ich war knapp davor zu resignieren. Ihre Stimme klang fast ein wenig zaghaft aus dem Hörer: „Ferdinand, wenn du solche Angst hast, auf das Amt zu gehen, würdest du hingehen, wenn ich dich begleite?”
Was sagt sie da? Das gibt’s ja gar nicht! Ich wusste sehr wohl, so ein Angebot war unüblich, auf keinen Fall war es mit den Statuten der Telefonseelsorge vereinbar. Nicht umsonst hatten alle Mitarbeiter Decknamen und auch der Standort war nicht öffentlich. All dies geschah zum Schutz der Privatsphäre dieser Menschen. Für einen Moment hatte es mir die Sprache verschlagen.
„Das würdest du für mich tun?”
„Ja.”
„Warum?”
„Weil ich an dich glaube.”
Ich schluckte: „Ja, dreimal ja, am liebsten sofort. Ich kann jetzt nichts mehr sagen.”
Ich weinte.
Ein Mensch, der so unerreichbar weit weg war, der so hoch über meiner traurigen Figur stand, hatte sich bereit erklärt, mit mir den Weg zu gehen. Den wichtigsten meines Lebens. Diese Frau, die ich mehr als Schwester begriff, denn als Frau, brachte mich sehr in Verlegenheit.
Ilse ließ mir Zeit, gab mir ein paar Augenblicke, bis ich mich wieder im Griff hatte und sprudelte dann los:
„Ich krieg’ bestimmt einen Termin, ich kenn’ den Leiter des Dienstes persönlich, wir schaffen das. Wir treffen uns morgen um 10:00 Uhr im Nonntal vor der Erhardkirche. Abgemacht? Schreib dir´s auf, es ist wichtig, Ferdinand.”
„Abgemacht, und glaube mir, so eine Verabredung vergesse ich nicht. Nie im Leben! Oh Gott, jetzt hätte ich es fast vergessen – wie erkenne ich dich? Etwa mit einer Rose im Knopfloch?” Ich musste wieder lachen. Über mich selbst. War ich wieder der alte Charmeur geworden?
„Keine Angst, mein Freund, das klappt schon, wir werden uns erkennen. Auf Anhieb, da wette ich darauf. Ein kleiner Hinweis – wir sind in etwa gleich alt und ich komme mit einem gelben Cabrio, das kannst du nicht übersehen. Servus, bis morgen, ich verlasse mich auf dich.”
Mitternacht war lange vorbei, als ich die Telefonzelle verließ und mich auf den Heimweg machte. Es war ein langer Weg bis zu meiner Unterkunft. Seit Beginn der kalten Jahreszeit war ich stolzer Inhaber eines festen Wohnsitzes. Ich wohnte in einem Schloss am Stadtrand, im Prominentenviertel. Um genau zu sein: ich bewohnte ein winziges Zimmer über der ehemaligen Schlossschänke, deren Bausubstanz nicht weniger baufällig war, als das Schloss selbst. Niemals hätte ich gedacht, dass in dieser feinen Gegend solche Löcher als Wohnraum vermietet würden. Meine Situation ließ keine Kritik zu, im Gegenteil, ich war damals heilfroh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Für einen obdachlosen Trinker wie mich war es das pure Glück. Für die Vermieterin zählte nur die Miete, sonst wurde nach nichts gefragt und die kratzte ich jeden Monat irgendwie zusammen. Das Beste an dem Haus war die Adresse: Salzburg, Fürstenberg-Promenade. Der desolate Zustand der Liegenschaft wurde mir erst nach und nach bewusst. Solange ich meinen Alkoholspiegel halten konnte, waren mir kaltes Wasser und röchelnde Heizkörper egal. Die Bilder, die am Gang und in meiner spärlich möblierten Kammer hingen, zeigten streitbare deutsche Landser mit Stahlhelm und Ritterkreuz auf der Brust. Ich befand mich in einem anderen Kampf – ich kämpfte gegen mich selbst und rang mit meinem Dämon, der meine Gier nach Alkohol täglich anfeuerte.
Früher war ich Fliesenleger, jetzt bin ich Tagelöhner. Ich wurde immer schwächer und fragte mich, wo meine Kraft geblieben war. Es gab auch glückliche Momente, denn seit ich im Schloss logierte, sah ich den Kontrollen der Polizei gelassen entgegen. Nannte ich meine vornehme Adresse, rollten sie mit den Augen, sagten Schlossgeist und schüttelten den Kopf. Und ich hatte meine Ruhe.
Der Blick in den Spiegel beruhigte mich, ich hatte die halbe Nacht an meiner Kleidung gearbeitet. Mein Hemd war schnell gewaschen und die Hose legte ich unter die Matratze, um sie zu glätten. Ein Bügeleisen besaß ich nicht, trotzdem sah alles passabel aus. Der Trachtenjanker mit der schwarzen Hose stand mir gut. Ich sehe aus wie ein Kellner beim Heurigen, dachte ich.
Ich war zu früh am Treffpunkt vor der Erhard-Kirche und darum schlenderte ich vor einer Metzgerei auf und ab. Auf einer Tafel wurde für warmen Leberkäs und frisch gezapftem Bockbier geworben. Mein Dämon forderte Alkohol. Nur jetzt nicht nachgeben, dachte ich. Leberkäs ja. Bockbier nein. Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Ein gelbes Cabriolet mit schwarzem Faltdach steuerte langsam auf den Parkplatz. Eine Frau stieg aus dem Auto, ich erkannte Ilse sofort. Sie sah aus wie Nana Mouskouri: Lange schwarze Haare, dunkle Hornbrille, weißes, bodenlanges Kleid. Sie kam auf mich zu. Ich schwitzte. Gezittert hatte ich vorher schon, wegen des fehlenden Alkohols.
„Hey Ferdinand, schön, dass du gekommen bist. Ich bin die Ilse, du weißt schon. Fesch schaust aus, bist’ schon lange da?”
Soviel Lebensfreude in einem strahlenden Gesicht. Ich war baff, atmete tief ein. Sie war eine Fee.
„Liebe Ilse, ich bin fasziniert. Ich sollte dir jetzt ein Kompliment machen, aber verzeih, ich bin momentan außer Form. Ohne Alkohol geht bei mir leider gar nichts, da rennt der Schmäh nicht.”
Ilse lächelte: „Schon okay, Ferdinand.”
Wir gingen in ein Café, ich brauchte jetzt dringend etwas zu Trinken. Alkohol brüllte mein Dämon. Ich nahm einen starken Espresso, ohne den üblichen Schuss Cognac. Das Zittern wurde stärker. Ein zwei Gläser würden alles viel leichter machen, dachte ich. Ilse bemerkte meinen Blick zu den abgehängten Whiskyflaschen an der Bar und versuchte mich zu beruhigen. „Vergiss alles, was war. Du darfst nervös sein, vor denen da oben im Amt brauchst du dich nicht zu schämen wegen deines Zitterns, die kennen Alkoholiker und die meisten deiner Kollegen schauen viel schlimmer aus als du.”
Freundlich wurden wir empfangen, es gab die üblichen Fragen: Waren sie schon einmal bei uns? Wollen sie wirklich mit dem Trinken aufhören? Meine Antworten waren kurz:
„Nein, ich war noch nie hier, obwohl ich schon zehn Termine hatte. Ich habe es nicht geschafft. Und ja, ich war schon einmal in der Nervenklinik zur körperlichen Entgiftung. Nach acht Tagen wurde ich entlassen und kurz danach habe ich mehr getrunken als je zuvor. Das war vor fünf Jahren. Jetzt möchte ich aufhören können. Ich weiß nur nicht wie. Vielleicht helfen Sie mir dabei.”
Ilse sprach über Details, vor allem über die eigentliche Therapie, denn diese sollte nahtlos an die klinischen Entgiftung anschließen. Die Gefahr wäre zu groß, in einer Warteschleife wieder im Milieu zu versacken, meinte sie.
„Heute ist Freitag, da geht nichts mehr”, sagte Dr. Walch, „aber ab Montag kann ich Ihnen ein freies Bett in der Psychosomatik zusagen.”
Ich war einverstanden – Ilse nicht. Sie wollte die Gunst der Stunde nützen und mich sofort unterbringen. Sie sprach halblaut mit Dr. Walch, ihrem Bekannten, ich verstand nicht alles, nur den Satz: „Es war für ihn schwer genug, heute diesen ersten Schritt zu tun, ersparen Sie ihm bitte, dies ein zweites Mal tun zu müssen.” Dr. Walch nickte und griff zum Telefon, rief die Klinik an, erreichte den Leiter nicht. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Ihr könnt es ja probieren, fahrt hin und versucht es vor Ort, ich gebe euch ein Empfehlungsschreiben mit.”
Ilse war glücklich, ich war gar nichts, ich war leer.
Wir gingen zum Auto und fuhren in die Klinik. Ilse war stolz auf mich: „Das war klasse, wie du dich verhalten hast. Du wirst sehen, Ferdinand, alles wird gut.”
In meinem Kopf rumorte es. Ich war nur noch Passagier. Es ging um die sofortige Aufnahme zur Entgiftung in der Psychosomatik. Dass es nicht üblich ist, an einem Freitag Patienten aufzunehmen, hat uns Dr. Walch erklärt. Es macht einen Unterschied, in welcher Abteilung man landet. Eines wusste ich: Akut- und Suizidfälle werden grundsätzlich in der geschlossenen Beobachtungsstation behandelt und das wollte ich nicht. Auf gar keinen Fall lasse ich mich einsperren oder gar an ein Bett fixieren! Das war meine Bedingung, daran hielt ich mich fest. Es ging um meine Würde. Ilse wusste das und bemühte sich nach Kräften, den Oberarzt der Abteilung irgendwo in diesem weitläufigen Areal zu finden.
Ich saß auf einem unscheinbaren Klappsitz vor der Psychosomatik und rauchte eine Zigarette. Ilse hatte mich inständig gebeten durchzuhalten, sie wollte so schnell wie möglich zurück sein.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da gesessen und mit mir selbst gerungen habe. Ich rutschte unruhig hin und her, ich merkte – mein Dämon ist da.
Er wohnt an einem unbekannten Ort in meinem Kopf. Er war seit langem mein privater Verführer und stets dann zur Stelle, wenn ich abtrünnig wurde und im Begriff war, ihm die Gefolgschaft zu kündigen. Ich hörte ihn nicht akustisch und doch kamen seine Impulse bei mir an. Ich kannte seine Strategie. Er beschimpfte mich, brüllte mich an:
„Was bist du nur für ein armer Wurm. Du sitzt hier und wartest bis man dich vollends erniedrigt, lass dich doch nicht von christlichem Weibergewäsch verrückt machen, die Weißkittel bringen dich noch so weit, ihnen zu erzählen, dass du mit mir sprichst. Dann ist aber endgültig Schluss mit Wein, Weib und Gesang, du landest ganz sicher im Narrenhaus! Also hau ab, solange es noch geht, schau, dass du wieder in Stimmung kommst, ich helfe dir dabei, das haben wir zwei doch noch immer elegant hingekriegt, oder? Sei endlich wieder der Alte. Lass dich nicht unterkriegen. Steh auf, wenn du ein Mann bist!”
Ich stand tatsächlich auf, aber nur um zu zeigen, dass ich bereit war, zu kämpfen. Nein und nochmal nein, heute gebe ich nicht nach, heute bleibe ich mir treu. Meine Ehre lässt es nicht zu, dass ich Ilse, die an mich glaubt und sich in diesem Moment für mich einsetzt, enttäusche. Nein, das tue ich nicht. Niemals!
Die gläserne Flügeltür ging auf und Ilse stand mit dem Oberarzt vor mir. „Alles klar, Ferdinand, du kannst bleiben“, sagte sie. Ich hatte ein mulmiges Gefühl und Watte im Hirn. Mir fehlte die Sicherheit, für mich war alles nur Obrigkeit. Sich-fügen-Müssen, totale Kapitulation. Kein Zurück. Mit zitternder Hand unterschrieb ich irgendein Formular und war formell aufgenommen. Täuschte ich mich oder sah ich Tränen in Ilses Augen? Sie verabschiedete sich schnell und versprach, mich am nächsten Tag zu besuchen und mir Zigaretten mitzubringen.
Nach einer kurzen Untersuchung durch den Oberarzt war die Diagnose klar – chronischer Alkoholismus. Erste Medikation waren Vitamin-B-Infusionen zur Vorbeugung gegen das Delirium tremens, den Entzugserscheinungen. Alle anderen Medikamente lehnte ich ab.
Mir wurde ein Bett zugewiesen. Ich fühlte mich wie neu geboren in diesem Bett. Strahlend weiße Bettwäsche, sie duftete nach Frische und Reinheit. Wie wenn alles neu wäre. So, dachte ich, muss es im Paradies sein. Die Nacht war die ruhigste seit vielen Jahren.
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©ƒerdinand
Kommentare (5)
Lieber Ferdinand,
nun ist mir förmlich der Atem stehen geblieben. Wie offen und fesselnd Du diese Situtationen geschildert hast.
Ich bewundere ich Dich. Vor allem auch deshalb, weil mir bei der Lektüre schmerzliche Erinnerungen an unseren Sohn kommen, der all das auf ähnliche Weise erlebt hat, jedoch daran zugrunde ging. Er war schwer rheumakrank und hat jahrelang versucht, die Schmerzen mit Medikamenten und Alkohol zu bekämpfen. Bis hin zum mutlitplen Organversagen.
Noch nie ist mir eine so offen erzählte Lebensgeschichte begegnet.
Dafür danke ich Dir.
Andrea
Sorry, leider ist der Artikel wieder relativ lang. Es ist ein Auszug aus meinem Buch-Projekt. Ich hoffe, es macht euch nicht allzugroße Mühe, sich durchzuarbeiten.
Es ist eine wahre Geschichte, die sich allerdings vor mehr als dreißig Jahren abspielte.
Ferdinand
Ja, das ist meine Geschichte, oder besser gesagt, ein kleiner Teil davon.
Danke für's Lesen und die lieben Worte.
Und noch was fällt mir ein: Respekt bezeugen - heißt Würde geben.
Ferdinand
Ist es Deine Geschichte?
Wie auch immer - ich habe vor jedem, der seine Sucht besiegt den allergrößten Respekt.
Seija
Hallo Ferdinand,
ich lese hier einen erschreckenden Tatsachenbericht der sich in vielen Familien in den Nachkriegsjahren zugetragen hat.
Egal ob Vater , Bruder oder Sohn , es war für die betroffenen Familienangehörigen die Hölle .
Du hast es geschafft „ Glückwunsch“
schöner Beitrag der Erinnerungen weckt
alles Gute dir wünscht jochen