Ein Blick zurück ...
3. Jan. 1945
Am ersten Mittwoch im neuen Jahr 1945 ist es ziemlich kalt. Frost und Schnee halten die Landschaft im östlichen Pommern fest im Griff. Das hindert mich und meine Freunde jedoch nicht daran, im Schnee herumzutollen, Zeit haben wir ja nun genug dafür. Der Schulunterricht ist seit fast vier Monaten ausgefallen, die Gebäude seit dem Herbst zu Lazaretten umfunktioniert. Mutter darf auch wieder daheimbleiben, mein Brüderchen Wolfgang hat also ebenfalls wieder einen festen Bezugspunkt in seinem jungen Leben.
Ich bin viel unterwegs, zu meiner »Oma«, und auch zu den Eltern meines Vaters, deren Häuschen etwa eine halbe Wegstunde entfernt von unserer Wohnung liegt. Keine Entfernung für einen agilen Jungen. Die Mutter ist an diesem Mittwochnachmittag mit Wolfgang bei einer Nachbarin eingeladen.
Hier treffen sich die Frauen oft, um die allgemeine Lage zu diskutieren. Es geht dann meist um das Thema »Flucht«, das in diesen Tagen alles andere beherrscht. Mich selbst interessiert es noch wenig, deshalb sage ich der Mutter, dass ich mal kurz zu Oma und Opa gehen möchte.
Sie ist einverstanden, und mit der Auflage, spätesten bei Dunkelheit wieder zu Hause zu sein, mache ich mich auf den Weg.
***
Es ist wunderschön, durch die verschneiten Straßen zu wandern, dann die Abkürzung über den mit frischem Schnee bedeckten Friedhof vorbei an Vaters Grab. Hier mache ich jedes Mal kurz Halt und spreche ein paar kurze Worte zu Papa. Das habe ich mir so angewöhnt. Immer wenn ich hier vorbeikomme, versäume ich nie, ihn zu besuchen. Der Stahlhelm am Holzkreuz von Papas schneebedecktem Grab sieht schon ziemlich ramponiert aus. Na klar, er hängt ja auch schon zweieinhalb Jahre an diesem Kreuz, seit dem Tag, als der Vater mit militärischen Ehren hier begraben wurde.
»Nächste Woche mache ich ihn sauber, blitzblank«, flüstere ich leise. Vielleicht hört Vati mich ja? Mit einem kurz geflüsterten »Bis nächste Woche, Papa!« verabschiede ich mich, laufe dann weiter, an dem großen Kreuz am Eingang des Friedhofs vorbei durch die dort anschließenden Parkanlagen. Alle Bäume, alle Büsche schlafen noch in winterlicher Ruhe, warten auf den Frühling, der ja nicht mehr weit sein kann.
Da steht die Parkbank, voll mit Schnee bedeckt, auf der ich Sommertags oft mit Opa saß. Der rauchte dort gemütlich seine Pfeife. Und das war auch der Platz, wo die alten Herren die militärische Lage erörterten. »Das geht nicht mehr lange gut«, hörte ich noch vor einigen Tagen von einem der Alten, als ich Opa besuchte.
»Die Russen stehen schon vor Königsberg!« Ein anderer meinte dann: »Ach was, wenn erst mal unsere neuen Wunderwaffen zum Einsatz kommen, läuft der Russe davon!«
Opa hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt.
»Du glaubst auch noch an Rumpelstilzchen, ja? Und was war denn mit der Ardennenoffensive? Nach ein paar Tagen war alles wieder wie vorher. Nur noch ein paar Tausend Tote mehr!«
»Nee, nee Alfred«, meinte dann auch ein anderer der alten Herren, »das Ding geht voll den Bach runter.«
Ja, das war erst vor vierzehn Tagen, heute sieht man schon sehr viel klarer. Die Ostfront rückt näher und näher. Und Fliegerangriffe gibt es jetzt auch verstärkt, die Nächte im Luftschutzbunker sind gewiss keine Erholung! Bisher war ja die kleine Stadt davon verschont geblieben. Aus diesem Grund wurden auch sehr viele Menschen aus dem Ruhrgebiet und aus Hamburg hierher evakuiert.
······Aber auch das ist nun vorbei, sowjetische Flugzeuge machen auch hier den Luftraum unsicher. Deutsche Flugzeuge, die bekannten Jagdflugzeuge Me109 und Me 110, waren nicht mehr zu sehen.
Aus Treibstoffmangel wurden die vorhandenen Maschinen auf den beiden Flugplätzen Stolps in den letzten Tagen am Boden zerstört!
Ein paar hundert Meter vom Haus meiner Großeltern entfernt, bemerke ich eine große Menge von Menschen am Rande des Parks. Von Neugier getrieben, laufe ich natürlich ebenfalls hinzu. Dort steht eine große, mehrere Jahrhunderte alte Buche. Um diesen Baum herum in einigem Abstand sehe ich viele Menschen. Schon von fern kann ich das Gemurmel ihrer gedämpften Stimmen vernehmen.
Als ich näher komme, erschrecke ich bis in das Innerste meines Herzens. Am untersten Ast der alten Buche hängt ein Mann in einem grauen Mantel, der Strick um seinen Hals hat ihm das Leben genommen! Sein Körper drehte sich im leichten Januarwind. Zwischen seinen Lippen ist seine bläulich angeschwollene Zunge sichtbar, halb geschlossene glanzlose Augen blicken ziellos in die herumstehende Menge. Dann ist da noch ein Schild aus Pappe, das ihm jemand umgehängt hat. Die Aufschrift eindeutig. »So sterben Vaterlandsverräter! ······
Der Schock dieses Anblicks begleitet mich, als ich, ohne die Großeltern noch besucht zu haben, zurück nach Hause schleiche ...
Dieser Mann dort am Baum, der vom Wind hin - und hergeschaukelt wurde, war der Erste in einer Reihe von toten Menschen, die mich fortan für einige Wochen täglich und sichtbar begleiten sollten.
©1985 by H.C.G.Lux
Kommentare (7)
Eine sehr interessante Darstellung der Verhältnisse in des entsprechenden Zeit, liebe Ulrike.
Bitte aber dabei nicht vergessen, unter welchen Umständen die Menschen lebten. Die Persönlichkeit Deiner Großmutter war nicht vom "Zeitgeist" beseelt, wie Du meinst. Es war das Leben als Ganzes, das solche Blüten hervorbrachte - die z.T. auch ihre Berechtigung hatten.
Wie anders hätte alles in einem "obrigkeitsdenkenden" Staat funktionieren können?
Wie kann ein Mensch, dem zeit seines Lebens dieses Denken eingeprägt wurde, der plötzlich und übergangslos in eine Zeit mit Problemen katapultiert wurde, die es vorher nicht gab, wie soll dieser Mensch bestehen, wenn er die Schuld daran nicht weitergeben kann? Er muss sich irgendwie entlasten.
Deine Großmutter hatte (auch) eine Kindheit, die von der Obrigkeit geprägt war.
Bismarck und das Kaiserreich taten das Übrige, um alles schön im Lot zu halten, Opposition wurde immer unterdrückt, und das wirkte bis in die Familien hinein! Erziehung und Prägung wirken auf einen Menschen bis zum Tod!
Wohl dem, der dem entfliehen kann - die Frauen hatten es besonders schwer.
Urteile also bitte nicht so schwer über Deine Großmutter, sie hat es sicher keinesfalls aus bösem Willen getan.
Gut, dass wir heute anders denken dürfen - (oder ist es heute gänzlich anders?)
Ich mache mir so meine Gedanken,
meint mit besten Grüßen
Horst
@Pan
Meine Mutter wollte bis zum Schluss alles allein machen. Ich konnte es nach dem Lesen der Briefe plötzlich verstehen, denn sie war so geprägt worden. Wenn man jemandem nichts recht machen kann - vor allem als Tochter - dann bemüht man sich immer mehr, bis man sich abwendet. Bis man kündigt sozusagen. Sie hielt damals durch bis zum Tod ihrer Mutter, die an Krebs starb. Ich hielt durch bis zum Tod meiner Mutter, die so wunderbar friedlich einschlafen konnte. Und ich bin nun so ganz im Reinen mit der Ahnenreihe ...
Das ist jetzt sehr viel Psychologie, aber es gaht ja nicht darum, die Dinge ungeschehen zu machen oder zu verurteilen, sondern sie genau zu betrachten und zu verstehen, weil das eine Heilung möglich macht. Licht drauf scheinen lassen und loslassen.
Ich danke Dir sehr für Deine Gedanken zum Thema. Ja, ich weiß, was Du meinst ... 👍
LG Ulrike
Mai 1945… noch nicht ganz 4 Jahre alt… Wir lebten damals direkt an der Grenze zwischen den Welten, unmittelbar an der Demarkationslinie zwischen Ost und West. Ich sehe noch heute die ratternden Panzer der Amerikaner. Einige Wochen später zogen die Russen mit Panjewagen ein. In unserem großen Wohnhaus gab es unten eine kleine Polizeistation. Nachts hörte man die Gewehrsalven von der nahen Werrabrücke herüber hallen, am Morgen lagen zwei tote Männer im Flur – Flüchtlinge ohne Name… ohne Leben, tot! Forthin dann gab es viele Gefangene, die Hände mit einem Strick auf dem Rücken zusammengebunden und immer wieder auch tote Menschen im Hausflur – Bilder, die sich mir in frühester Kindheit eingebrannt haben… Bilder, die noch heute brennen!
Syrdal
Erinnerung kennt kein Alter! Sie ist auch keine Lappalie, obwohl sie heute oft so behandelt wird. Die Ergebnisse sieht man täglich, nicht wahr?
- grüßt Horst
deine Erinnerungen gehen unter die Haut, Horst
es ist so unvorstellbar und doch war es so -
seit meiner Kindheit bin ich froh, dass ich erst nach dem Krieg geboren wurde
Eine kleine Frage, vielleicht magst du sie beantworten.
Wenn du diese Situationen heute wieder erinnerst, sind sie immer noch emotional belastet, oder ist es so, dass die Zeit dich zur Ruhe kommen ließ, wie manche sagen?
lieben Gruß
WurzelFluegel
Zur Ruhe gekommen? Gewiss.
Belastend? Sicher.
Aber ich schreibe nur darüber, weil ich den Grundsatz beherzige:
"Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen."
(George de Santayana, 1863 - 1952)
Grüße von mir,
Horst
Deine Geschichte geht mir sehr unter die Haut. Ich bin 9 Jahre nach dem Krieg geboren, habe aber jetzt durch den Heimgang meiner Mutter, die sehr alt geworden ist, ihre gesamte Lebenskorrespondenz in ihrem Nachlass gefunden. Darunter Briefe meiner Großmutter an meine Mutter, die mit 12 Jahren (1942) in der KLV war - ein halbes Jahr von zuhause fort. Und zuhause musste täglich mit Bombenangriffen aus der Luft auf die Stadt gerechnet werden. Immer wieder ist von den "Tommis" die Rede.
Am meisten hat mich allerdings entsetzt, wie meine Großmutter, die vor meiner Geburt schon verstorben war, mit ihrer eigenen Tochter "gesprochen" hat. Ich bin fast froh, dass ich sie nicht kennen gelernt habe. Die Briefe sind durchsetzt von scharfer Kritik. Die Zeugnisse gefielen nicht, nicht die Handschrift, nicht die Rechtschreibung. Dabei erklärte sie Rechtschreibphänomene, die meine Mutter richtig erfasst hatte, oft genau entgegengesetzt den Regeln. So empörte sie sich etwa darüber, dass meine Mutter zum Laufen groß schrieb. "Das ist doch kein Hauptwort!!!". Meine Mutter solle sich zudem ein Vorbild an ihrem großen Bruder nehmen, hieß es da. Und der griff denselben Tonfall wieder auf, äußerte sich ähnlich gouvernantenhaft gegenüber den kindlichen Flausen seiner Schwester. Wichtig war der Mutter, dass ihre Tochter dem Lehrpersonal keine zusätzliche Arbeit bereite, dass sie ihre häusliche Schule als ordentliche Schule vertrete, dass sie ihre Röcke in der vorgegebenen Reihenfolge abtrage, dass sie ihre Schuhspitzen mit Eisenspitzen beschlagen lassen möge und vieles mehr.
Meine Großmutter war Lieferantin der schönsten selbstgenähten Kleidungsstücke, lief selbst aber herum wie in Sack und Asche (ich weiß es nur von ein paar wenigen Fotos aus der Zeit).
Zeitgeist ... sagen mir manche dazu. Nein, das stimmt nicht. Es war schon ihre Persönlichkeit, die natürlich auch durch den Zeitgeist mitgeprägt wurde, doch habe ich den Eindruck, als ob die lange Ahnenreihe vor ihr eine viel größere Rolle gespielt hat.
So setzte sich dieses Denken und Handeln durch meine Mutter bis zu mir weiter fort. Wir werden daher ja auch die Kriegsenkel genannt, die noch sehr vieles unbewusst in sich tragen, was dringend ans Licht will.
Ich habe meine Mutter, die eine schrecklich lieblose Kindheit durchlebt hat, am vergangenen Pfingstsamstag loslassen müssen. Oder auch dürfen, denn sie ist einfach morgens nicht mehr aufgewacht. Sie war dement, fühlte sich übrig in dieser Welt und durfte ganz sanft in die LICHTE FREIHEIT gehen. Gleichzeitig war für mich unser familiäres Lebenspuzzle gelöst, da sie in ihrer Korrespondenz, die ich schon vor ihrem Heimgang einsehen konnte, ganz deutlich beschreibt, was für uns der Grund für ein sehr schwieriges und zum Schluss völlig von Misstrauen (ihrerseits) durchsetztes Verhältnis war.
Für mich - wenn es auch merkwürdig erscheint - ein in einen gemeinsamen Frieden mündendes Geschehen. Nun gehe ich allein voran - ohne das innere Netz, in dem ich festklebte, ohne wirklich zu wissen, warum.
Deine Begegnungen mit zu jener Zeit geächteten Menschen, die für ihre Haltung ihr Leben lassen mussten, hat sicher zu tief in Deinem Inneren sitzenden Ängsten geführt. Es ist für mich unvorstellbar, wie man damit jemals im Leben ganz fertig werden könnte. Du hast mein ganzes Mitgefühl!
Mögen Dir so grausame Bilder nie wieder im Leben begegnen. Das wünsche ich Dir von ganzem Herzen!
Liebe Grüße,
Puzzle(ul)rike