Die unbeschreibliche Stille


Die unbeschreibliche Stille

Als er in der Frühe zu ihr kommt, hat der morgendliche Ablauf schon seinen Anfang genommen. Wie jeden Morgen singt Maria mit ihrer wunderschönen glockenhellen Stimme ihr Lied und die Menschen im Speisesaal hören ihr wieder begeistert zu. Alle Schwestern und Patienten kennen dieses eintönige, unharmonische Lied, es beginnt und endet immer mit dem gleichen Ton. Dieser Ton verklingt zwar schnell, ist jedoch unterschwellig immer hörbar, ohne dass ein Nachhall die Resonanz stört. Irgendwann wird der letzte Ton zum Schweigen gebracht, ist nun nach zahllosen Wiederholungen unhörbar geworden. Dann tritt für lange Zeit eine Stille ein. Eine erbarmungslose Stille, sie eroberte den Raum sehr schnell wieder zurück.
    Maria verbeugt sich nach allen Seiten, wirft eine Kusshand in den Saal und setzt sich dann an ihren Frühstückstisch. Dann schweigt sie. Es ist, als wäre der Stundenschlag der Glocke verhallt und ruhte sich nun aus für den nächsten Auftritt. Die wunderschönen blauen Augen der Frau leuchteten früher stets in leidenschaftlichem Glanz, jetzt sind sie stumpf geworden, blicken rastlos im Raum umher. Ihre ziellosen Blicke verursachen ein Chaos in seinen Gedanken.  
      Sie schaut ihn an, aber sie sieht ihn nicht. Sie erzählt etwas und weiss doch nicht, was sie sagt. Sie sitzt vor ihrem Teller und kann allein nichts damit anfangen. »Mutti« nennt sie die Nachtschwester und erzählt ihr, dass ihr Bruder sie geschlagen hätte. Ihre Worte sind keine Sätze mehr, nur halb verständliches Kauderwelsch.
   Jeder dieser emotionale Momente bringt seine Gedanken ins Ungleichgewicht, baut sich zeitweilig auf zur Aggression, um kurz darauf in eine tiefe Mitleidsphase zu versinken. Er will mit ihr zusammen sein, ja, aber er kann sie nicht mehr erreichen. Sie lächelt ihn an, ein leeres Lächeln, das nichts weiter bedeutet. Er versucht daraufhin, ihr etwas Liebes zu sagen, sie versteht es nicht, nickt nur mehrmals heftig mit dem Kopf. Ihr Blick verrät ihm, dass sie nichts verstanden hat.
     Trauer macht sich in seinem Gemüt breit, wie stets in solchen Situationen drückt sie sein eigenes Ego völlig an den Rand des Daseins. Maria ist nicht mehr seine Maria und doch ist sie seine Frau, die er so sehr geliebt hat und immer noch liebt. Er wünscht sich nichts mehr, als in ihre Welt eindringen zu können, sie zu verstehen, wie er sie in all den Jahren ihres Zusammenseins immer verstanden hat. Doch sie ist ihm entglitten, ist nur mehr eine leere Hülle, ihre Seele hat sie schon längst verlassen. Er muss einfach akzeptieren, dass ihrer beider Herzen nicht mehr im gleichen Takt schlagen, sondern getrennt voneinander in verschiedenen Existenzen leben.
    Welch eine Wahrheit, welch eine unselige Gewissheit wird hier offenbar. Wie weit reicht Liebe? Kann sie den Tod überdauern? Vielleicht. Kann sie aber einem Leben so viel Energie schenken, dass sie auch weiterhin, trotz einseitiger Zuwendung, bestehen bleibt? Fragen, die kaum jemand beantworten kann.
     Maria ist seine Frau. Gewiss. Aber sie ist ein anderer Mensch. Er liebt sie auch weiterhin, aber er liebt einen Menschen, der einmal war und nun nicht mehr der Gleiche ist, nie mehr sein wird. Um diese Diskrepanz zu begreifen, wird er noch lange Zeit brauchen. Diese frühere Zeit ist auch nicht mehr rückholbar, damit muss er leben. Dieses Leben, sein eigenes Leben in der Zukunft aber wird bedeutend schwerer sein als das Leben seiner Frau, deren Gedanken im Nirgendwo ihre Heimat gefunden haben!


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Kommentare (2)

Christine62laechel


In Deinem Text, Horst, finde ich den Satz "Aber sie ist ein anderer Mensch" am meisten dramatisch. Ich musste auch mal so etwas erleben, als sich eine mir ganz nah stehende Person infolge einer anderen Art Krankheit total geändert hatte. Da war ich noch nicht alt, und er ja auch nicht. Doch einen anderen Fall fand ich noch trauriger: der 10-jährige Sohn von meiner damaligen Arbeitskollegin hatte einen Unfall, wobei sein Gehirn beschädigt wurde. Die Ärzte haben sich viel Mühe gegeben; da wurde nicht nur das Leben des Jungen gerettet, sondern er konnte auch noch nicht schlecht funktionieren, sowohl körperlich, als auch intellektuell. Mal hatte seine Mutter uns aber erzählt: er war vorher eher schweigsam, sehr ruhig, zurückhaltend. Jetzt redet er viel und laut, er lacht gerne - und das sollte man eigentlich als etwas Positives wahrnehmen. Nur - mein Kind ist jetzt plötzlich ein ganz anderer Mensch...

Mit Grüßen
Christine

Syrdal


...er liebt einen Menschen, der einmal war und nun nicht mehr der Gleiche ist, nie mehr sein wird.“

Aber:
Was n
icht mehr wie bisher sein wird, ist lediglich die rein erdgebundene Erscheinung. Das unvergänglich Geistige ist nur ein kleines Stück voraus gegangen und befindet sich von allem Irdischen enthoben bereits in einer höheren Dimension…

...sagt mit ganz persönlich empfundener Gewissheit
Syrdal


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