Als die Ulla zum ersten Mal zu mir von ihrer Mutter gebracht wurde, war sie sieben. Sie wurde damals soeben eine Erstklasslerin, konnte kaum lesen und schreiben. Und ich sollte mit ihr Englischstunden machen. Ich bin keine Englischlehrerin mit Diplom, im kleinen Ort wußte man aber, dass auch meine Englischkenntnisse ausreichend sind, um unterrichten zu können.

   Die Ulla war ein hübsches, süßes Blondie, innerlich jedoch manchmal einem Teufelchen mehr ähnlich, als einem Engelein. Mit solchen Fällen kann ich aber sehr gut zurechtkommen, indem ich ein uraltes, klares Rezept verwende: Verständnis+Sympathie+Konsequenz+Strenge (wenn mal notwendig). Die sogenannte moderne Pädagogik ähnelt einer sprichwörtlichen Affenliebe, und schliesst die zwei letzteren Faktoren aus. Falsch!

   Ulla lernte schnell, obwohl wir zu Anfang natürlich kaum geschrieben und gelesen hatten; immer wieder kurze Gedichte, Dialoge, Lieder... Im Internet findet man solche Lehrstoffe in Hülle und Fülle. Unsere Beziehung war wie zwischen einer Geliebten Oma und ihrer Enkelin. Manchmal musste ich den Eindruck haben, dass die Kleine ein Gespräch über mich zu Hause mitbekommen haben musste... Denn da fragte sie zum Beispiel: Wie alt sind Sie? Warum sind Sie nicht mehr verheiratet? Verdienen Sie viel Geld? - Ich antwortete immer ohne Zorn, dass man solche Fragen nicht stellen sollte. Und, na ja, zufrieden war ich schon, als sie mal ihre Frage nach meinem Alter doch wiederholt hatte, und da antwortete ich: Ich bin ungefär im gleichen Alter, wie deine Großmutter. Sie lachte, und sagte: Unmöglich, Sie müssen viel jünger sein. (Und wir, ihre Oma und ich, sind doch Altersgenossinnen). Der Unterschied liegt wahrscheinlich weniger an dem Aussehen, mehr an der Mentalität.

   Vor drei Jahren zog ich in einen Nachbarort um. Die Ulla, so wie auch drei andere Privatschüler von mir, wollte davon nicht hören, sie könnte einen anderen Englischlehrer bekommen. Und so wird sie zu mir gebracht, mit dem Auto jetzt, zweimal in der Woche. Im November wurde sie elf. Kein Kleinkind mehr also. Sie ist absolut lieb geblieben, intelligent und kreativ. Es ist ein Vergnügen, mir einer solchen Schülerin zu arbeiten. Eines macht mich nur traurig: Sie wird immer mehr bewußt, dass ihre Familie - und somit auch sie - vermögend ist. Sie erzählt gerne, was man ihr wieder geschenkt hat, wohin sie bald wieder ausreisen wird, usw. Gestern sprachen wir im Unterricht über Transportmittel; als ich gesagt habe, dass ich bislang noch nie mit dem Flugzeug gereist bin, und dass mich nichts und niemand dazu neigen könnte, fragte sie: Und wenn man Ihnen dafür viel Geld anbieten würde...?


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Kommentare (2)

Christine62laechel

Ja, liebe Christine, reich zu sein ist keine Sünde! Hauptsache, die Kinder verstehen, dass man doch fürs Geld nicht alles kaufen kann. Und dass man nicht rund um die Uhr nur daran denken sollte. :)
Christine

werderanerin

mitLiebe Christine,

auch ich habe eine Enkelin, die 12 ist und kann daher so manches nachempfinden. Sie wachsen in sozialen Umfeldern auf, die ihnen zeigen, dass man entweder Geld hat oder nicht...schon recht früh spüren sie ganz sicher, das man ggf. auf der "besseren" Seite lebt, wenn man Geld zur Verfügung hat, sich alles oder vieles leisten kann...nicht jeden Cent umdrehen muss. 

Es ist immer an den Erwachsenen, die Kinder zum Umgang mit dem Geld richtig zu erziehen. Wenn sie wissen, dass man dafür auch oft sehr hart arbeiten muss, lernen sie es auch, damit umzugehen. Man kann sich auch mit viel Geld nicht alles kaufen, auch dies muss man ihnen zeigen.
Die Kids, die alles bekommen, mit Geld regelrecht ruhiggestellt werden, sind doch nur zu bemitleiden..., denn sie werden einmal im Leben sehr große Probleme bekommen.

Das Vorleben ist aber immernoch das allerwichtigste, denn woher sollen sie Erfahrungen sammeln..., doch in erster Linie von den Eltern, Großeltern z.B....!

Kristine


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