Die Suche nach einem Zeltplatz
Unser Ziel war die Halbinsel Hel in Polen. Der Trabi ächzte unter der Last und ich war froh, nicht in eine Fahrzeugkontrolle zu kommen. Ich bin ganz sicher, dass wir damals die maximal erlaubte Zuladung weit überschritten hatten. Die Hinterräder glichen X-Beinen.
Wir fuhren gemächlich auf der holperigen Autobahn Richtung Pomellen, welches der nördlichste Autobahngrenzübergang nach Polen war. Obwohl wir 1979 immer noch visafreien Reiseverkehr mit Polen hatten, mussten wir über eine Stunde an der Grenze anstehen, da alle Autos nach illegalen Mitbringseln durchsucht wurden. Als wir in Polen waren, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Laut rief ich: „Jesteśmy w Polsce!“ Als mich meine Familie fragend anschaute, wiederholte ich auf Deutsch: „Wir sind in Polen!“
In Polen ging die schreckliche Autobahn weiter, nur mit dem Unterschied, dass sich niemand an die Verkehrsregeln für Autobahnen hielt. Wir waren noch in Sichtweite der Grenzkontrollen, da wendete ein entgegenkommender PKW, indem er den Mittelstreifen überquerte. Dann fuhr dieses Auto neben uns und der Beifahrer hielt eine große Menge Geld aller möglichen Währungen aufgefächert aus dem Fenster. Dazu schrie er dauernd: „Tauschen!?“
Wir hatten bereits unser Geld bei der Staatsbank der DDR umgetauscht, sodass wir keinen Bedarf an Złoty hatten. Ich schüttelte deshalb den Kopf und rief: Nie, dziękuję!“. Da wendete das polnische Auto erneut und fuhr wieder in Richtung Grenze.
Bald verließen wir die fürchterliche Autobahn und befuhren von da an sehr gute polnische Landstraßen. Da ich versuchte, mich einigermaßen an die Geschwindigkeitsregeln zu halten, wurden wir ständig von polnischen Autos überholt. Das war umso erstaunlicher, als es sich dabei meist um Polski Fiat 126p handelte, die einen Heckmotor hatten, welcher an Hubraum und Leistung dem Trabant-Motor glich, aber ein Viertakter war. Bei fast allen stand die Heck-Motorhaube offen, um den Motor besser zu kühlen. Da diese Autos jedoch ein ganzes Stück kürzer, schmaler und niedriger waren als der Trabant, hatten die meisten einen riesigen Aufbau auf dem Dach, um alle benötigten Reiseutensilien unterzubringen. Das erhöhte den Luftwiderstand des Fahrzeugs und führte in jeder Kurve zu extremer Schlagseite.
Mehrmals sahen wir polnische Autos, die im Straßengraben auf dem Dach lagen. Offenbar hatten deren Fahrer zu viel Wässerchen, was auf polnisch wódka heißt, getrunken. Was jedoch bei uns zu einem großen Auflauf mit Polizei und Feuerwehr geführt hätte, lief in Polen ganz unauffällig ab. Es hielten ein paar weitere Wagen an, die Fahrer stiegen aus und zusammen mit dem erstaunlicherweise unverletzten Fahrer des Unglückswagens bugsierten sie das umgestürzte Auto wieder auf die Straße und die Fahrt ging weiter. Wir bewunderten, wie robust diese Autos und deren Fahrer waren.
Mittags hielten wir an einem typischen polnischen Restaurant, welches als Bar bezeichnet wurde. Ich bestellte vier Coca Cola und vier Portionen Bigos mit Brot. Als die Getränke serviert worden waren, setzte unser 9-jähriger Sohn sein Glas genussvoll an, um dann zu sagen: „Wenn ich die erste Coca Cola trinke, weiß ich, dass der Urlaub anfängt.“
Nach vielen Stunden erreichten wir endlich die Halbinsel Hel. Wir hatten noch keine Ahnung, wo wir unser Zelt aufbauen würden. Der Zeltplatz bei Chałupy war voll, weshalb wir weiterfuhren.
In Kuźnica fragte ich einen Herrn, der gerade in seinem Garten arbeitete in meinem besten Polnisch, wo man denn hier zelten könne. Er bat mich, ihm zu folgen und führte mich zu einer alten halb verfallenen herrschaftlichen Villa. Sie war total mit Efeu überwuchert, was ihr ein unheimliches Aussehen verlieh. Am Eingang standen zwei Typen als Wachposten, denen er erklärte, was ich wollte. Einer davon nahm mich mit ins Haus und flüsterte mir zu, dass er mich zum „Patron“ brächte, der an der Krankheit „Beriberi“ leide. Ich schluckte schwer, wollte mir aber nichts anmerken lassen.
Ich betrat einen großen dunklen Raum, in dessen Mittelpunkt eine Liege gestellt war. Darauf lag der sogenannte Patron - ein junger Mann. Er war umringt von vielen jungen Leuten, die anscheinend viel Spaß mit ihm hatten. Ich wurde von dem Wachmann ins Blickfeld des Kranken geschoben. Der unterbrach sein Gespräch, sah mich aufmerksam an und fragte: “Proszę pana?“
Ich stammelte: „Dzień dobry, pana, szukam kemping.“
Er bemerkte sofort, dass ich Deutscher war und antwortete mir auf Deutsch: „Bitte kommen Sie in meinen Garten. Bauen Sie Ihr Zelt hier auf. Sie sind herzlich willkommen.“
Für die Einladung dankend verließ ich ziemlich schnell die gruslige Stätte. Mir saß die Angst im Nacken, denn ich hatte keine Ahnung, woher diese Beriberi-Krankheit kam und ob sie ansteckend war. Außerdem wurde ich den Anblick des Kranken mit seinen merkwürdigen Jüngern in der gespenstischen Villa nicht los. Auf dem Weg zum Auto drehte ich mich mehrmals vorsichtig um, ob ich verfolgt würde, aber außer einigen Raben oder Krähen, die über mir flogen und unheilvoll krächzten, sah ich nichts. Meine Schritte wurden schneller und schneller bis ich endlich das mysteriöse Grundstück verlassen hatte. Hastig startete ich den Motor und fuhr los.
Als wir weit genug weg waren, sagte ich laut: „Da war kein Zeltplatz.“ Meiner Frau flüsterte ich heimlich ins Ohr: „Ich war in einem Spukschloss und bin froh, dass ich wieder bei euch bin.“
Während wir in Richtung Festland fuhren, wurde es bereits dunkel. Ich hatte auf dem Hinweg an der Straße einen Biwakplatz gesehen. Den steuerte ich an, denn schließlich brauchten wir eine Bleibe.
Als wir bei diesem Pole Biwakowe ankamen, suchten wir nach guter deutscher Art den Verantwortlichen, um zu fragen, ob wir unser Zelt aufstellen dürfen. Wir fanden aber niemanden. Die Frage nach dem Kierownik löste bei anderen Campern Gelächter aus. Einer sagte: „Setzen Sie sich!“
Wir verstanden die Aufforderung so, dass wir unser Zelt einfach aufbauen durften, wo Platz war. Das taten wir dann auch und da wir beim letzten Abbau alle Zeltstangen beschriftet hatten, ging es recht schnell vonstatten. Wo und wie viel wir für den Zeltplatz bezahlen sollten, fragte ich erst gar nicht.
Aus dem Kapitel "Chałupy (Polen)" meines Buches "Reisehusten und andere Urlaubsabenteuer".
Kommentare (4)
@Meerjungfrau43 Ja, alle Geschichten in meinen beiden Reisebüchern beruhen auf wahren Erlebnissen. Nur manchmal habe ich etwas hinzugedichtet - hier sind es die Raben.
Ich habe mich beim Lesen schön amüsiert; diese Verhältnisse kenne ich ja sehr gut. :)
Mit Grüßen
Christine
Das liest sich spannend und geheimnisvoll ! Eine schöne (erlebte?) Geschichte!