Die richtige Seite
In meinen Gedanken noch das Leid der Opfer, folgt auf dem Fuße ein Bericht von der Preisverleihung für die Filmschaffenden. Schöne Bilder mit glitzernden Kleidern und bezaubernden Gesichtern. Ich überlege. Wie lange hat die Verzauberung dieser Gesichter wohl gedauert? Länger als die Veranstaltung?
Ich komme zu keinem Ergebnis, weil inzwischen im neuen Thema der Abgeordnete Sch. völlig atemlos mit einem Bericht von seiner gestörten Wahlkampfveranstaltung zu Gehör kommen möchte. Er ist wirklich zu bedauern, kam er dabei doch nicht dazu, seinen Gegner der Verbreitung von Unwahrheit zu bezichtigen.
Ich schalte einen Kanal weiter. Siegmund B. erzählt gerade, wie er sich täglich über seine gesunde Ernährung freut. Aha, Werbung, seniorengerecht natürlich. Ich sollte eigentlich auch gesünder leben, schießt es mir durch den Kopf! Der Gedanke ist jedoch schnell wieder entflohen.
Auf NDR läuft eine Sendung über den Sudan. Mein schlechtes Gewissen meldet sich. Ich lebe ja auf der richtigen Seite des Zauns! Ein bisschen schäme ich mich, aber ich kann nichts dafür, dass ich weiss und nicht dunkelhäutig bin. Ein Gefühl von Ohnmacht beschleicht mich. Was kann ich aber direkt tun beim Anblick dieses Elends? Ich schalte einfach um.
Gibt es nicht immer einen Ausweg? Da, WDR, endlich eine interessante Reportage. Es geht um eine Hauptschule in Berlin. Ich bin ganz bei der Sache. Habe mir nebenbei ein Bier eingeschenkt. Ich will gerade einen Schluck nehmen, da sehe ich ein etwa 15 Jahre altes Mädchen.
»Hast Du Träume?« fragt die Stimme einer Reporterin. »Meine Träume kann niemand erfüllen!« Die Antwort kam zielgenau. »Deshalb muss die auch keiner erfahren! Vielleicht irgendwann einmal, wenn ich wieder in den Iran kommen kann?« Charakterstark, denke ich bei mir. Doch schaut sie sehr verloren in die Welt, sie wirkt dabei so zerbrechlich.
Ich schalte das Gerät aus. Ich ahne, was aus ihr wird, und sie weiss es auch. Mir schleicht eine Träne ins Auge. Das ist mir schon seit Ewigkeiten nicht mehr passiert. Warum eigentlich? Ich lebe doch auf der richtigen Seite des Zauns!
Die Illusion von vermeintlicher Sicherheit ist mir zur zweiten Haut geworden. Ich bin hier Zuschauer und Voyeur, weit weg von Opfern und Tätern. Geborgen in der anonymen Masse der betroffenen Gesellschaft. Die Realität wird mir portioniert nach Hause geliefert, in appetitlichen Dosen. Und wenn es zu viel wird, schalte ich einfach ab.
Ich höre und sehe täglich aufs Neue viele grauenvolle Dinge. Aber da muss doch irgendwo noch die Welt intakt sein? Solange »Gefragt, Gejagt« über die Bildschirme rauscht, solange »Bauer Fritz noch seine Frau sucht«, da kann doch alles nicht so schlimm sein, wie man immer tut.
Oder? So ganz sicher kann ich mir aber nicht sein. Einen Trost habe ich aber gewiss: Solange ich die Fernbedienung in der Hand halten kann, habe ich noch die volle Kontrolle …
Kommentare (7)
Lieber Syrdal -
kannst Du Dir denken, wie schwer es fällt, zu ertragen, den Kopf zu schütteln, und nebenbei auch noch Werbung zur Europa-Wahl mit
den entsprechenden hirnlosen Möchtegern-Politikern anzuschauen??
Natürlich weisst Du es. Aber wir sagen es niemanden weiter, gell?
@Pan
Sehr einverstanden, lieber Horts, denn
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Und absolut treffend sagte der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière einmal: "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern."
Lieber Horst,
bei Deiner Erzählung schilderst Du die gesamte Bandbreite der Emotionen, die den aufmerksamen Zuschauer bei der Nachrichtenaufnahme erfassen können, und die er gleichzeitig irgendwie verarbeiten muss.
So konnte ich die beschriebenen Szenen-Situationen, auch mit all ihren (teilweise sarkastischen) Kontrasten, direkt bildlich vor mir sehen, und tatsächlich auch ähnlich nachempfinden.
Super geschrieben!
Herzliche Grüße
Rosi65
@Rosi65
Rosi - ich danke Dir für Deine ermunternden Ausführungen. Macht doch Mut auf neue Kleinigkeiten zu achten ...
liebe Grüße
Horst
Nach etlichen nur schwer zu ertragenden Berichten steht geschrieben: "Ich schalte das Gerät aus." Dabei hast du recht lange "ausgehalten". – Durch die Erkenntnis meiner persönlichen Ohnmacht hinsichtlich all dieser bildhaft dokumentierten Horrormeldungen ist meine Kraft längst verbraucht und damit sogar die Kraft, das Gerät überhaupt erst einzuschalten. Freilich bringt das auch keine Veränderung in der Welt, zumindest aber beschädigt es nicht wieder und wieder meine Seele... Sie ist das einzige, das ich noch einigermaßen zu schützen vermag, meint
Syrdal