Die Reifeprüfung
Nun sitze ich als Lehrerin im Saal, und beobachte die Abiturienten, wie sie ihre schriftliche Reifeprüfung in ihrer Muttersprache ablegen. Sie haben 170 Minuten Zeit, und eine jede Aufgabe bezieht sich auf eine bestimmte Epoche, einen Schriftsteller, ein Ereignis. Sie dürfen Sprachwörterbücher benutzen. Ich versenke in Gedanken... Was kann man Besseres sonst noch tun, man darf weder lesen, noch Kreuzworträtsel lösen, was absolut verständlich ist.
Ich erinnere mich an meine Prüfung. Es war das Jahr 1974. Damal dauerte hier diese Prüfung rund fünf Stunden; natürlich konnte den Raum verlassen, wer früher fertig war. Was jetzt nicht mehr zu denken ist, es war während der Prüfung gegessen und getrunken. Genauer gesagt, hatten die Mütter von den Abiturienten belegte Brote oder Brötchen zubereitet; die durften erst nach zwei (oder drei?) Stunden in den Saal rein getragen werden. Man aß und schrieb zugleich. :) Die Lehrer durften natürlich auch essen und trinken. Heutzutage dürfen die Abiturienten nur eine kleine Flasche Mineralwasser mitbringen; was die Lehrer anbetrifft, da sagt man: Na ja... Und ich glaube, immer wenn Jugendliche mehr dürfen, als die Erwachsenen, dann bedeutet es einfach nur Demoralisierung.
Drei Themen gibt es meistens nun zur Wahl; zu meinen Zeiten waren es fünf. Davon bezogen sich die vier ersten auch auf einen Schöpfer, eine Epoche, ein Problem. Und dann gab es noch ein sogenanntes "freies" Thema. In meinem Fall hieß es ungefähr: Inwieweit konnte die Weltliteratur im Laufe der Zeit die Frage beantworten, wie man leben sollte? Ach, die Achzehnjährige hatte solche Fragen sehr gern, war belesen, führte sogar regelmäßig ein großes Heft mit Zitaten, um ihren Reifeaufsatz noch interessanter zu machen. Kurz nachgedacht... Der Anfang so, das Ende so (und das war ein sehr schönes, obwohl ein wenig trauriges Gedicht (nicht selber verfasst), das mit den Worten endete: Es war einmal - ich...
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