Der singende Weihnachtsbaum
Beim Aufräumen des Dachbodens, ein paar Wochen vor Weihnachten, entdeckte ein Familienvater ganz verstaubt in einer Ecke liegend einen uralten Weihnachtsständer mit einem Drehmechanismus und einer eingebauten Spielwalze.
Beim vorsichtigen Drehen konnte man das Lied "Oh, du fröhliche" erkennen. Das musste der Christbaumständer sein, von dem Großmutter immer erzählte, wenn die Weihnachtszeit heran kam. Das Ding sah fürchterlich aus, aber wie würde sich Großmutter freuen, wenn sie am Heiligabend vor dem Christbaum sitzt und dieser sich wie in uralten Zeiten zu drehen beginnt und dazu "Oh du fröhliche" spielt.
Es gelang dem Vater, mit dem uralten Stück ungesehen in seinem Bastelraum zu verschwinden, wo er es erst einmal auseinander nahm. Abends zog er sich jetzt öfters geheimnisvoll in seinen Hobbyraum zurück, verriegelte die Tür und die Familie hörte ihn dort werkeln.
Auf Fragen erklärte er stets: "Weihnachtsüberraschung"!
Kurz vor dem Fest hatte er es geschafft. Der Ständer sah wie neu aus, nachdem er noch einen Anstrich erhalten hatte.
Jetzt aber los und einen vernünftigen Baum gekauft, bevor andere die schönsten wegschnappten, dachte er. Mit einem wirklich schön gewachsenen Exemplar war er bald darauf wieder in seinem Hobbyraum, wo er gleich einen Probelauf startete.
Dann konnte er die Zeit bis zum Fest kaum erwarten.
Endlich war es soweit! "Den Baum schmücke ich alleine" tönte er. "Überraschung"!
Er hatte wirklich an alles gedacht: Der Stern von Bethlehem saß oben auf der Spitze, bunte Kugeln, Naschwerk und Wunderkerzen waren angebracht, Engelhaar und Lametta dekorativ aufgehängt und natürlich echte Wachskerzen. Die Feier konnte nun beginnen, nachdem er den musikalischen Drehständer noch geschickt getarnt hatte.
Vater schleppte für Großmutter den großen Ohrensessel herbei, sie erhielt den besten Platz. Feierlich wurde dann Oma zum Ehrenplatz geleitet. Vater hatte Stühle im Halbkreis um den Tannenbaum gruppiert. Die Eltern setzten sich rechts und links von Oma, die Kinder, Andreas 7 und Monika 9 Jahre alt, nahmen außen Platz.
Jetzt kam Vaters großer Auftritt!
Bedächtig zündete er Kerze um Kerze an, dann nahm er sich auch die Wunderkerzen vor.
"Und jetzt kommt die Überraschung!" verkündete er., löste die Sperre am Ständer und nahm schnell wieder seinen Platz ein.
Langsam drehte sich der Weihnachtsbaum, hell spielte die Musikwalze "Oh du fröhliche"! War das eine Freude!!
Die Kinder klatschten vergnügt in die Hände. Oma hatte Tränen vor Rührung in den Augen. Immer wieder sagte sie: "Dass ich das noch einmal erleben durfte, wenn Großvater das noch erleben könnte!"
Mutter war stumm vor Staunen!
Vater sah stolz und mit glänzenden Augen auf sein Werk.
Eine ganz Weile schaute die Familie beglückt und stumm auf den sich im Festgewand drehenden und musizierenden Weihnachtsbaum.
Konnte Weihnachten schöner sein?
Ein schnarrendes Geräusch riss die Familie jäh aus ihrer stillen Versunkenheit. Ein Zittern durchlief den Weihnachtsbaum, die bunten Kugeln klirrten wie feine Glöckchen. Der Baum fing an, sich schneller zu drehen, bis er wie verrückt herumsauste. Die Musikwalze hämmerte los, es hörte sich an, als wolle "oh du fröhliche" sich selbst überholen!
Mutter rief mit überschlagener Stimme: "Vater, tue doch endlich was!"
Der saß jedoch wie versteinert, was den Baum nicht abhielt, sein Tempo noch erhöhen. Der drehte sich so rasend, dass die Flammen hinter den Kerzen standen.
Großmutter bekreuzigte sich und betete. Zwischen durch hörte man sie sagen: "Wenn Großvater das noch erlebt hätte!"
Als erstes löste sich der Stern von Bethlehem, sauste wie ein Komet quer durch das Zimmer, klatschte gegen den Türrahmen, fiel dann auf den Dackel Felix, der dort ein Nickerchen hielt. Der arme Hund war so erschrocken, dass er,. wie von einer Tarantel gestochen, aus dem Zimmer in die Küche raste, wo man von ihm nur noch die Nase um die Ecke schielen sah.
Lametta und Engelhaar hatten sich erhoben und schwebten wie beim Kettenkarussel waagrecht am Weihnachtsbaum.
Vater gab das Kommando: "Alles in Deckung!!"
Ein Rauscheengel trudelte losgelöst durchs Zimmer, nicht wissend, was er mit seiner unverhofften Freiheit anfangen sollte.
Weihnachtskugeln, gefüllter Schokoladenschmuck und andere Anhängsel sausten wie Geschosse durch das Zimmer, knallten beim Aufschlagen auseinander und hinterließen dunkle Flecken und feine Splitter.
Die Kinder hatten hinter Omas Ohrensessel Schutz gefunden. Vater und Mutter lagen flach auf dem Bauch , den Kopf mit Armen und Beinen schützend. Mutter jammerte in den Teppich hinein: "alles umsonst, die viele Arbeit, alles vergebens".
Vater war das alles sehr peinlich.
Oma saß noch in ihrem Ohrensessel auf ihren Ehrenplatz, voller Lametta, Engelhaar und Schokokugeln. Ihr kam die Geschichte in den Sinn, von der Opa aus dem Krieg 14/18 erzählte, wo er manches mal in den Ardennen im feindlichen Artilleriefeuer gelegen hatte. So muss es gewesen sein! Als ein gefüllter Schokoladenbaumschmuck an ihren Kopf zerschellte registrierte sie: "Kirchwasser!" und murmelte dazu: "Wenn Großvater das noch erlebt
hätte.
Zu alledem jaulte die Musikwalze im Schlupfakkord "Ohhhhhh duuuuuuu frööööööööliiiiiiicheeeee, bis mit einem Seufzer und einem letzten ächzenden Ton der Ständer seinen Geist aufgab.
Durch den plötzlichen Stop neigte sich der Baum in Zeitlupe, fiel auf das kalte Büffet, die letzten Nadeln von sich gebend.
TOTENSTILLE !!!
Großmutter, aussehend, wie nach einer New Yorker Konfettiparade, erhob sich schweigend, kopfschüttelnd begab sie sich, eine Lamettaschlange hinter sich her ziehend, auf ihr Zimmer. In der Tür sagte sie: "wie gut, dass Opa das nicht mehr erleben musste !" ... und schlug die Tür zu.
Mutter, völlig aufgelöst sagte zu Vater: " Wenn ich mir diese Bescherung ansehe, dann ist deine Überraschung gelungen !"
Andreas meinte: "Du Papi, das war echt stark! Machen wir das jetzt immer so?"
"Hör zu, mein Sohn" antwortete dieser, "es gibt Dinge im Leben, die sind einmalig, da gibt es keine Wiederholungen.
Und dazu gehört unser rasender Weihnachtsbaum !"
Kommentare (2)
pfundig
Ich musste herzhaft lachen als ich die Geschichte las, es erinnerte mich an meine Kindheit, genau so einen Christbaumständer hatten meine Eltern auch. Spielte O du fröhliche und Stille Nacht. Nur wir durften die Spieluhr mit geschmückten Baum nicht anstellen, ging auch gar nicht, die Zimmer waren nicht so groß, dass der Baum frei stehen konnte . Einmal bat uns unsere Mutter nach Weihnachten den Christbaumschmuck abzunehmen, sie ging derweil zum Einkaufen. Als der Schmuck entfernt war, kamen meine Schwester und ich auf die Idee, die Spieluhr einzuschalten und mit Baum drehen lassen. Früher gab es ja nur Fichtenbäume und in der warmen Stube nadelten die auch bald. Wir zogen den Baum aus der Ecke und machten die Spieluhr an. Entzückt saßen wir am Boden und unter den Klängen von Stille Nacht und O du fröhliche rieselten die Nadeln auf uns herunter. Als unsere Mutter vom Einkauf zurück war, sah sie nur noch ein Gerippe von Baum , keine einzige Nadel war mehr dran. Wir lachen heute noch darüber. LG pfundig
"Das war in dem Jahr, als der Weihnachtsbaum ausser Kontrolle geriet."
LG Koala