Der Mann am Baum


Der Mann am Baum
Wer sterben gelernt hat, hört auf, ein Knecht zu sein.  (Epikur)



 
Am letzten Sonntag im Februar 1945 ist es noch ziemlich kalt. Frost und Schnee halten die Landschaft im östlichen Pommern fest im Griff. Das hindert mich und meine Freunde jedoch nicht daran, im Schnee herumzutollen, Zeit haben wir ja nun genug dafür. Der Schulunterricht ist seit fast drei Monaten ausgefallen, die Gebäude seit dem Spätherbst zu Lazaretten umfunktioniert worden. Mutter darf auch wieder daheimbleiben, mein Brüderchen Wolfgang hat also ebenfalls wieder einen festen Bezugspunkt in seinem jungen Leben.
   Ich bin viel unterwegs, zu meiner »Oma«, und auch zu den Eltern meines Vaters, deren Häuschen etwa eine halbe Wegstunde entfernt von unserer Wohnung liegt. Keine Entfernung für einen agilen Jungen. Die Mutter ist an diesem Sonntagnachmittag mit dem Brüderchen bei einer Nachbarin eingeladen. Hier treffen sich die Frauen schon öfter, um die allgemeine Lage zu diskutieren. Es ging dann immer um das Thema »Flucht«, das in diesen Tagen alles andere beherrscht.
   Mich selbst interessiert es zur Zeit noch wenig, deshalb sagte ich der Mutter, dass ich mal kurz zu Oma und Opa gehen möchte. Sie hat nichts dagegen und mit der Auflage, spätesten bei Dunkelheit wieder zu Hause zu sein, mache ich mich auf den Weg. Es ist wunderschön, durch die verschneiten Straßen zu wandern, dann die Abkürzung über den mit frischem Schnee bedeckten Friedhof vorbei an Vaters Grab. Hier mache ich jedes Mal kurz Halt und spreche ein paar kurze Worte mit Papa. Das habe ich mir so angewöhnt. Immer wenn ich hier vorbeikomme, versäume ich nie, das Grab zu besuchen. Der Stahlhelm auf Papas schneebedecktem Grab sieht schon ziemlich ramponiert aus. Na klar, er hängt ja auch schon zweieinhalb Jahre an diesem Kreuz, seit dem Tag, als der Vater mit militärischen Ehren hier begraben wurde.
   »Nächste Woche mache ich ihn sauber, bestimmt«, sage ich leise. Vielleicht hört Vater mich ja? Und mit einem kurzen »Bis nächste Woche, Papa!« verabschiedete ich mich vom Grab, laufe dann weiter, an dem großen Kreuz am Eingang des Friedhofs vorbei durch die dort anschließenden Parkanlagen. Alle Bäume, alle Büsche schliefen noch in winterlicher Ruhe, warten auf den Frühling, der ja nicht mehr weit ist.
 
  Dort hinten steht die Parkbank, schneebedeckt, auf der ich sommertags oft am Sonntag mit Opa sitze. Der raucht dort gemütlich seine Pfeife. Und das war auch der Platz, wo die alten Herren die militärische Lage erörterten. »Das geht nicht mehr lange gut«, hörte ich noch im Herbst von einem der alten Herren.

»Die Russen stehen schon vor Königsberg!« Ein anderer meinte dann: »Ach was, wenn erst mal unsere neuen Wunderwaffen zum Einsatz kommen, läuft der Russe davon!«
   Opa hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt.
»Du glaubst auch noch an Rumpelstilzchen, ja? Und was war denn mit der Ardennenoffensive? Nach sechs Wochen war alles wieder wie vorher. Nur noch ein paar Tausend Tote mehr!«»Nee, nee Alfred«, meinte dann auch ein anderer der alten Herren, »das Ding geht voll den Bach runter.«

 
   Ja, das war erst vor wenigen Wochen, heute sieht man schon klarer. Die Front rückt immer näher, Kanonendonner ist in der Ferne schon oft zu hören. Und Fliegerangriffe gibt es jetzt auch, bisher war die kleine Stadt davon verschont geblieben. Aus diesem Grund sind auch sehr viele Menschen aus dem Ruhrgebiet und aus Hamburg hierher evakuiert worden. Aber auch das ist nun vorbei, sowjetische Flugzeuge machen auch hier den Luftraum unsicher. Deutsche Flugzeuge, die bekannten Jagdflugzeuge Me109 und Me110 sind nicht mehr zu sehen. Aus Treibstoffmangel wurden die vorhandenen Maschinen auf den beiden Flugplätzen Stolps in den letzten Tagen des Februars am Boden zerstört!

   Ich befinde mich ein paar hundert Meter vom Haus meiner Großeltern entfernt. Da bemerke ich eine große Menge von Menschen am Rande des Parks. Von Neugier getrieben, laufe ich natürlich ebenfalls hinzu. Dort steht eine große, Jahrhunderte alte Buche. Um diesen Baum herum in einigem Abstand viele Menschen. Schon von fern kann ich das Gemurmel ihrer gedämpften Stimmen vernehmen.
   Als ich näherkomme, erschrecke ich bis in das Innerste meines Herzens. Am untersten Ast der alten Buche hängt ein Mann in einem grauen Mantel, der Strick um seinen Hals hatte ihm das Leben genommen! Sein Körper dreht sich im Februarwind. Zwischen seinen Lippen ist seine bläulich angeschwollene Zunge sichtbar, halb geschlossene glanzlose Augen blicken ziellos in die Menge, die um ihn herumsteht. Dann ist da noch ein Schild aus Pappe, das ihm jemand umgehängt hat. Die Aufschrift eindeutig.
»So sterben Vaterlandsverräter!«
   Der Schock dieses Anblicks begleitet mich noch, als ich ohne die Großeltern noch besucht zu haben, langsam nach Hause gehe.
Dieser Mann dort am Baum, den der Wind hin - und herschaukelt, ist der Erste in einer Reihe von toten Menschen, die mich fortan für einige Wochen täglich und sichtbar begleiten sollten.
 
(Dieses Kapitel ist meinen autobiografischen Erzählungen "1000 Jahre und die Tage danach" entnommen)

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Kommentare (8)

ehemaliges Mitglied

Für mich als Nachkriegskind unvorstellbar, bis ich alt genug war, von den Verbrechen dieses Regimes zu hören, und mich von da an durch Lesen und Sehen zu informieren und mit meinen Eltern darüber zu sprechen. Sie stammten aus Landsberg/Warthe, Vater Jg. 1919, Mutter Jg. 1920. Sie hatten 1942 geheiratet und bei dieser Gelegenheit Westadressen ausgetauscht, weil mein Vater schon damals sagte, dass das schiefgehen MÜSSE. Meine Mutter wollte das nicht glauben...sie wurde eines Besseren belehrt...Sie fanden sich in NRW wieder, ich wurde 1946 geboren. Im Alter von 14-15 Jahren las ich alles, was ich kriegen konnte, über Jahre und Jahre - in der Schule hatten wir darüber NICHTS erfahren(!!!) - und besuchte mit meinem Vater das KZ Mauthausen (wir waren inzwischen in Österreich gelandet). Meines Vaters schlimmste Kriegserlebnisse war das österliche Trommelfeuer vor Tobruk und der Angriff auf Dresden, während meine Mutter zwei Jahre als Funkerin in Finnisch-Lappland (bei Rovaniemi) war und auf der Flucht von dort über Hammerfest mit einem Schiff mit lauter Soldaten mit Bauchschüssen, wo sie mithalf, diese Schwerverwundeten zu versorgen - sie hatte danach
einen Nervenzusammenbruch, von dem sie sich erst nach vielen Wochen wieder einigermaßen erholt hatte. 
Als die TV-Serie "Holocaust" im TV begann und die vielen Kommentare  mit dem Tenor "DAS haben wir  nicht gewusst!" las und hörte, wäre ich bald geplatzt vor Wut über diese unverschämte Lüge. Dann die häufigen Kommentare wie "Stalin hat ja noch viel mehr Menschen umbringen lassen!" und "Die Engländer haben in Afrika zuerst Konzentrationslager
errichtet!" brachten mich zur Weißglut. Als ob man das gegeneinander aufrechnen und entschuldigen könnte! Und Deutsche und Österreicher machen heute mit jenen gemeinsame Sache, indem sie Waffen in die Ukraine liefern, anstatt das EU- bzw. NATO-Versprechen, keine ehemaligen Russland-Teilstaaten an EU und NATO anzuschließen, zu halten und ausschließlich friedensstiftend zu wirken!
Ich bin froh, dass ich alt bin, und die Entwicklungen sowohl kriegerischer, politischer als auch Umwelt-, Wirtschfts-, Gender- und anderer Wahnsinne lassen mich das Schlimmste für unsere Nachkommen befürchten.
Wunderkruke - Barbara

Syrdal


Deiner Erzählungen könnte/müsste ich fortsetzen unter dem Titel „Die Jahre danach…“, doch schrecke ich davor zurück, musste ich doch als Kleinkind etliche Male nach „metallisch geräuschvoller“ Nacht am Morgen vor unserem Haus unmittelbar an der „Demarkationslinie“ über blutbeschmierte Körper steigen auf dem Weg zum Kindergarten, in dem es hoffentlich irgend etwas zu essen gab, eine Möhre, vielleicht einen Apfel oder gar ein kleines Stück Brot.
Ja, lieber Horst, das alles müssen wir noch lebenden „Zeitzeugen“ unbedingt erzählen, denn…
...schaue ich mich um in dieser Welt, bekomme ich sofort wieder das von damals noch immer im Inneren dumpf dröhnende Grauen.

Syrdal

Rosi65

Man ist einfach nur sprachlos und geschockt, welche Grausamkeiten vielen Menschen in diesem Krieg angetan wurden. Von meinen Eltern habe ich auch furchtbare Dinge erfahren, obwohl dieses Thema eigentlich tabu war und sie lieber darüber schwiegen.

Mein älterer Cousin, der damals mit seiner Mutter von Ostpreußen nach Dänemark flüchtete, erzählte mir, dass er sich immer sofort unter Bäumen auf den Boden geworfen hat, sobald er ein Flugzeug hörte.
Und obwohl er doch schon in einem sicheren Land war, überwältigte ihn jedes mal die pure Angst.

Eigentlich unvorstellbar, wie die betroffene Kriegsgeneration diese furchtbaren Erlebnisse verarbeiten konnte. Eine psychiatrische Hilfe gab es ja nicht. 

Rosi65

Lerge

Am letzten Sonntag im Februar 1945 waren wir dankbar, auf der Flucht aus Schlesien knapp dem Dresdener Angriff entkommen zu sein.

Ich erinnere mich zwar nicht an so ein schreckliches Erlebnis wie Deins, muß aber noch heute dran denken, wie oft ich - fünfjährig - über Leichen klettern mußte, die am Wegesrand lagen.
Sowas vergißt man nie.

Und trotzdem bin ich heute dankbar für ein langes und lebenswertes Leben.

Lieben Gruß, Lerge 

Distel1fink7

"es muss ja mal genug sein "
Genug ist das nie, das Erinnern und erinnert werden,
". ach Krieg so nah - wie nie zuvor "

Bin sprachlos.
Diestel1fink7

ehemaliges Mitglied

Deine Erinnerungen machen mich immer wieder sehr betroffen.
Ich gehöre ja zu den Glücklichen, die Krieg nicht hautnah miterleben mussten und hoffe inständig, dass das auch so bleiben wird.
Die persönlichen Berichte von Menschen, so wie deine, halten meine Aufmerksamkeit für die Zeitgeschichte wacher, als es die Geschichtsbücher dieser Welt je könnten. 

Danke fürs Erzählen.

liebe Grüße
WurzelFluegel
 

Pan

@WurzelFluegel  
Schön, dass es gefällt. (Manch einer sagte mir schon, dass es langsam genug wäre! Und ob ich als Nestbeschmutzer gut schlafen könne!)
Meine Antwort: NEIN, ich schlafe nicht gut, das liegt jedoch nicht an meinen Berichten, sondern an dessen Folgen ...
Ich grüße Dich,
Horst

ehemaliges Mitglied

@Pan  

ach Horst, 
gefallen würde mir, wenn ein Erinnern nicht mehr nötig wäre, weil wir uns keine Gedanken mehr machen müssten, dass Ähnliches unter leicht veränderten Vorzeichen wieder passieren könnte...

Kein Kind sollte erleben müssen, was du und ihr erlebt habt...

nachdenklich
WurzelFluegel
 


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