Dem Alltag entrückt


Ich habe mich in die Zeit zurückgebeamt – Beamen: das gab es damals noch nicht – zurückgebeamt in die Zeit, als das Tausendjährige Reich unterging.

Ich lese Mutters Briefe, die sie Vater ins „Feld“ geschickt hatte und die er alle mit nach Hause zurückgebracht, soweit sie ihn erreicht hatten. Seine Briefe dagegen sind bei unserer freiwilligen „Flucht“ aus Berlin und der ein Jahr später erfolgten Auflösung unseres Haushaltes verloren gegangen.

Mutters Handschrift ist einmalig schön lesbar, gleich, ob mit Bleistift oder Tinte – den hässlichen Kugelschreiber gab es vor und während des Krieges noch nicht, und mit Großvaters Kopierstiften hat sie sich nicht anfreunden können.

Sie nutzte jedwedes Papier – sowas war knapp, auch wenn es eine Firma gab, die so warb:
Schreibste ihr, schreibste mir, schreibste auf MK-Papier!
Wenn garnichts mehr zu kriegen war, dann mussten die Ränder vom VB – den „Völkischen Beobachter“ gab es immer, wogegen andere Blätter auch unter der Papiernot litten – mussten die Ränder herhalten.

Die Eltern schrieben sich, man hatte das Gefühl tagtäglich. Und ich durfte reichlich oft zur Post laufen, um Mutters Briefe aufzugeben. Sicher, manchmal waren auch Postscheckbriefe, die mit dem gelben Umschlag mit zu nehmen. Ich durfte an Mutters Stelle die Überweisungen ausfertigen, die in die Umschläge kamen. Oder ein Päckchen für Vater bedurfte wieder der Abgabe am Paketschalter.

Briefumschläge waren knapp. Knapp war nicht das Propaganda-Material. Also zeichnete Vater sich eine Schablone aus einem auseinander gefalteten Briefumschlag. Die legte er auf die Rückseiten der nicht mehr gebrauchten Landkarten über die Illustration der Vormärsche usw. und zeichnete die Konturen der gewünschten Briefumschläge nach. Die durften dann nur ausgeschnitten, dann gefaltet und schließlich geklebt werden.

Briefmarken bedurfte es keiner, wenn es Post zu Vater war. Dann kam der Stempel „Frei durch Ablösung Reich“ drauf. Andere Post bekam Briefmarken aufgeklebt, wo dann die Beamten und Helfershelfer dem Hitler(-Bild) eins auf den Kopf hauten, wenn auch ganz legal dem Hitler(-Bild) hinten geleckt wurde. Das war eben legal – nur durfte man das nicht so scheinheilig sagen.

Da liegen nun Mutters Briefe. Ich lese sie. Und ich erinnere mich immer deutlicher an diese Zeit, wo ich zu Hause den Vater vertreten musste. Vieles hat sich aus dieser Zeit eingeprägt, es ist einfach nicht zu vergessen, weil Mutter in dieser Zeit – ich war 1939 gerade acht Jahre alt, und in einem Brief erinnert Mutter den Vater „Unser Großer wird heute vierzehn!“ – weil Mutter in dieser Zeit sehr oft ihre Sorgen bei mir zur Verwahrung übergab.

Der Krieg war zu Ende. Unsere Umsiedlung. Der Vater war da noch nicht wieder zu Hause, kam alle vierzehn Tage nach Hämelschenburg Kreis Hameln-Pyrmont, wo wir erst einmal für die ersten Nachkriegsjahre untergekommen waren. Aus dieser Zeit liegt ein Päckchen von Briefen vor, die vom Vater aus Köln und später aus Bonn geschrieben waren.

Ganze zehn Jahre waren zusammengekommen, die unsere Eltern getrennt „marschieren“ mussten. Wir sind größer und mehr geworden. Mutter hatte gute Ellenbogen bekommen, die sich, klug wie sie eben war, wieder ablegen musste und es auch tat.

Wir Kinder mussten uns an unseren Vater erst wieder gewöhnen – er sah uns noch als kleine Wichte an, die man einfach dressieren kann, wir waren damit gar nicht immer einverstanden. Es rieb sich oft aneinander.

Die Großen setzten sich – oft mit etwas Druck – ab, gingen hinaus in die Ferne, bauten eines nach dem Anderen sich ein Nest und fanden auch den Partner, weil es so ohne die bis dahin gewohnte Nestwärme nicht ging. Nicht immer war es dann wirklich der Bund für’s Leben.
Je weiter wir Familienmitglieder so auseinander waren: Mutter kam hierhin, Mutter kam dahin, um beizustehen und Mut zu machen. Sie ließ aber Vater nicht alleine. Er sorgte von Anfang an für eine gute Apanage für Mutter. Die ermöglichte es ihr, wenn auch mit größter Sparsamkeit, den Kindern und dazu kommenden Enkel immer eine Kleinigkeit zu Geburtstag und Weihnachten zu senden, wobei beim Weihnachtspaket immer ein Christstollen nach Großmutters Thüringer Rezept selbst gebacken inne lag.

Was ist geblieben?

Unsere große Schwester arbeitet mit dem Rezept weiter, also jedem der Geschwister einen halben Stollen zu Weihnachten.

Gut, dass es jetzt das Mailen gibt – bloß einige der Geschwister haben immer „kaputte“ Computer, eigenartig.

Eben kam Spatzens GuteNacht-Abmeldung, ich habe mich darum eben wieder zurückbeamen lassen.

Herzliche Grüße!


ortwin

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Kommentare (1)

Traute mich haste gleich noch mit gebeamt. Die Zeiten und Verse und die Umstände kommen mir sehr bekannt vor.
Ach was waren das nur für schlimme Zustände, aber man konnte den meisten Menschen bis ins Herz sehen sie hatten in der Not, vergessen, ihre raue Schale zum Verbergen ihrer guten Eigenschaften abgelegt.
Mit freundlichen Grüßen,
Traute

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