Das Mädchen aus dem Moor


Das Mädchen aus dem Moor

 
»Swentje!«
Der Schrei des hochgewachsenen Mannes klang hohl, ohne jedes Echo, wie eben ein Ruf in einer offenen Landschaft klingt. Die Akustik innerhalb eines Moores hat nun mal keine Tragkraft.
»Swentje!«
Orwins Stimme klang nun schon ungeduldiger:
»Swentjetochter, wo steckst du?«
Er lauschte, drehte sich langsam herum, stützte sich auf seinen Stab und schaute dann in alle vier Himmelsrichtungen. Ging dann vorsichtig einige Meter auf dem schmalen Pfad zurück. Seine Schritte erzeugten dabei ein saugendes, schmatzendes Geräusch, in den Fussspuren sammelte sich sofort bräunliches Wasser.
»Swentje?«
Sein Rufen klang nun gedämpfter, fragender. Der grauweiße Nebel über dem Moor verschluckte alle Farben, ließ die ganze Natur in einem schmutzig-braunen Halbdunkel verschwinden.
»Sweeentjeee!«

Der heisere langgezogene Ruf des Mannes verklang ohne jede Resonanz, wie im luftleeren Raum. Nirgendwo ein Widerhall, keinerlei Zeichen einer Antwort. Der Nebel verschluckte jeden Ton bereits nach wenigen Schritten. Orwin blieb immer wieder stehen, schaute in die Runde.
Eine wie hingeworfen wirkende Gruppe von Zwergbirken mit traurig herabhängenden Zweigen ragte in den grauen Himmel. Niedere Blaubeersträucher versuchten mit trockener Glockenheide und silbernem Wollgras eine malerische Verbindung einzugehen. Doch der fahle Himmel vermischte alles zu einer unheimlichen, bedrohlich wirkenden Melange. Lediglich die Blüten des Sonnentaus vermochten einen farbigen Klecks in das nebelgraue Kaleidoskop zu zaubern.

Orwin ging nun behutsam und vorsichtig die Strecke zurück, die er mit seiner Tochter gekommen war, immer darauf bedacht, den Weg nicht zu verlassen. Dieser Pfad durch das Moor war nur ein und eine halbe Elle breit, die meisten Bewohner des Dorfes mieden diese Abkürzung, die direkt zu den Angerwiesen führte. Alle wussten um die Gefährlichkeit dieses Weges. Es war an nebligen Tagen schon vorgekommen, dass einer aus der Dorfgemeinschaft vom Weg abgekommen und in dem tiefgründigen Moorboden eingesunken war.

Vor vielen Monden war auch Orwins kleiner Neffe von einem Gang über diesen Moorweg nicht zurückgekehrt. Darum nahmen die Bewohner des Dorfes auch lieber den Weg um das Moor herum, obwohl dieser sehr viel weiter war, als der mitten durch das Moor.
Immer und immer wieder rief Orwin den Namen seiner Tochter. Aber es war keine Spur von Swentje auszumachen. Kein Anzeichen, dass sie jemals hier gewesen war, ließ sich erkennen. Auch an der Stelle, an der sich zwei Pfade trennten, um danach gegensätzliche Richtungen einzuschlagen: nicht die kleinste Spur seiner Tochter.
Er fragte sich, ob sie vielleicht den anderen Weg zum Kiefernwald genommen hatte! Aber nein, das konnte nicht sein, Swentje kannte das Moor genau so wie ihr Vater; sie waren ja schon unzählige Male hier entlanggegangen, um zu den Wiesen zu gelangen. Sie wusste ja, dass Vater die Ziegen nach Hause treiben wollte und dass sie dabei helfen musste.

»Swentje!«
Der Ruf des Vaters war leiser geworden. Tränen liefen über sein tiefbraun gebranntes Gesicht. Swentje war sein einziges Kind, das letzte, das ihm von Dreien geblieben war. Die anderen Beiden waren ihm im letzten harten Winter schon im Kleinkindalter genommen worden. Helgard, sein Weib hatte diesen Schmerz nicht überwunden und das Moor als letzten Ausweg gewählt. Niemand kannte die Stelle, an der sie ihre letzte Ruhe gefunden hatte.
Immer wieder schlug Orwin mit seinem Kopf aus Verzweiflung gegen den Stamm einer Birke, die am Rand des Pfades wuchs. Er spürte diesen Schmerz kaum noch, weinte dann mit heiseren, laut ansteigenden Tönen, schrie seinen Schmerz völlig hinaus in das Nichts.

Inzwischen schlich die Dunkelheit ganz sacht durch das Moor. Irgendwo in der Ferne schrie ein Käuzchen, eine Vielzahl von anderen Geräuschen mischten sich in das abendliche Rauschen der Moorgräser und der Zweige der krüppeligen Birken.
Langsam ging Orwin mit müden Schritten zum Dorf zurück, seine nun leere Hütte schien ihm der einzige Zufluchtsort zu sein, die noch auf ihn wartete. Seine Ziegen mussten erst einmal ohne ihn auskommen. Vielleicht kam er morgen vorbei, oder übermorgen, vielleicht.

Das Moor aber wartete auf sein nächstes Opfer, wie es schon seit Hunderten von Jahren gewartet hatte. Irgendwann aber, nach unendlich langen Zeiten wird es seine Opfer wieder freigeben. Die Menschen versuchen dann, das Rätsel dieser Moorfunde zu lösen. Es wird ihnen aber niemals ganz gelingen.

 
Immer wieder werden Moorleichen in den Mooren gefunden. Allein in Deutschland sind bisher einige Hundert Moorleichen bei Torfabbauarbeiten gefunden worden. Das sogenannte »Mädchen von Windeby« ist darunter der bekannteste Fund. Man nahm damals an, es wäre ein etwa 13-jähriges Mädchen, das cirka 2000 Jahre im Moor gelegen hatte.
Funde von solchen Moorleichen geben Aufschluss über Leben und Tod in der Eisenzeit und früher. Es sind fast Fenster in die Vergangenheit, wenn solche Funde gemacht werden, das das Moor fast alles konserviert, was in ihm einmal begraben wurde.

Heute nun kommt die moderne Wissenschaft zu immer neuen Erkenntnissen, da die Funde nach den neuesten Methoden untersucht werden können. Endgültige Gen -Untersuchungen haben ergeben, dass dieses »Mädchen von Windeby« ein Junge gewesen sein muss!

Diese Moorleiche hat heute ihre letzte Ruhestätte im Museum von Schloss Gottorf bei Schleswig gefunden, wobei Ruhe das falsche Wort ist, denn sie kann immer besichtigt werden ...

Symbolik-31a.JPG
©by H.C.G.Lux 


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Kommentare (5)

Manfred36

Moore sind geheimnisvoll, grausam und nützlich. Der Mensch ht sie schon früh "in Angriff genommen".  Kaiserslautern liegt am Beginn der Westpfälzischen Moorniederung zwischen PrälzerWald / Sickinger Höhe und Nordpfälzer Bergland. Schon Barbarossa hatte die Idee, das Moor in einem riesigen See zu "ertränken", Der ist heute nicht mehr. Nur noch spärliche Reste zeugen vom Torfabbau und seinen Funden (Einsiedler Bruch). Über seinem Ende erhebt sich heute der weltbedrohliche Flugplatz Ramstein.

Pan

Warum sind Moore grausam? Diese Bezeichnung kann man nur dem Menschen zuordnen, denke ich.
Unsere Moore sind einzigartige Zeugen der Landschaftsgeschichte. Doch der Mensch hat seit dem 17. Jahrhundert etwa 99 Prozent aller Moore entwässert, abgebaut oder land- und forstwirtschaftlich genutzt. Diese Moorzerstörung dauert bis heute an.
Dabei ist Moorschutz unerlässlich. Moore speichern enorme Mengen Kohlendioxid, weltweit etwa doppelt so viel CO2 wie alle Wälder zusammen. Moore dienen dem Hoch- und Grundwasserschutz und sind Heimat vieler seltener Tiere und Pflanzen. Moorschutz ist nicht nur ein kostengünstiger Klimaschutz. Er trägt auch zum Erhalt der biologischen Vielfalt bei.
Jeder Mensch kann etwas zum Erhalt der Moore beitragen: indem er nur "torffreie Garten- bzw.Blumenerde" kauft!

Bei uns in Ostfriesland gibt es noch wunderschöne Landschaften, die das Moor in seiner Vielfalt und Schönheit zeigt. Möge es noch lange so bleiben!Ostfr_Moor13_.JPG

ladybird

Lieber Horst,
vor ungefähr 4 Wochen stand ich mit Ingrid wohl an dieser Stelle des Moores (Jammerstraße), die sehr beeindruckend war,
so las ich Deine Geschichte mit großem Interesse.....und verband sie mit meinem Eindruck und die Erinnerung .
Unvergesslich gespeichert
ist das bei
Renate mit herzlichem Gruß...

Pan

Hall Renate -
akt.Buch ist unterwegs...
lg. Horst aus dem "Jammertal"

 

ladybird

@Pan  

oh,lieber Horst...riesig ist meine Freude auf Dein nächstes Buch, ich habe " Über dem Nebel die Sonne" genossen und kann es nur weiter empfehlen...
das "Jammertal" ist " das reinste "Lebensfreude-Paradies"...
ich habe das letzte Wort !!!!
herzlichst
Renate


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