Das Jahr, in dem ich Sieben wurde - 1951

Autor: ehemaliges Mitglied

Das Jahr, in dem ich Sieben wurde - 1951

Es war ein recht ereignisreiches Jahr! Am 1. April wurde ich – das erste Mal eingeschult. Das Gebäude der Uppenbergschule war im Krieg nicht beschädigt worden und die Kinder, die im Kreuzviertel Münsters zuhause waren, durften dort ihre ersten Schulerfahrungen machen.

Ausgerüstet mit einem Tornister, in dem eine holzgerahmte Schiefertafel – eine Seite ohne vorgegebene Linien, die Rückseite insgesamt mit eingezeichneten Rechenkästchen bestückt – passte und an dem Tafelrahmen war mit einem Bändchen ein kleines, gehäkeltes Läppchen wie ein Topflappen festgeknotet, mit dem die Schrift oder die Ziffern weggewischt werden konnten. Aber da es auch nass genutzt werden sollte, hing das Läppchen an seinem Band natürlich seitlich am Tornister heraus.

Wir lernten unsere erste Grundschullehrerin, Frau Ostermann, kennen. Diese liebevolle Frau, tatsächlich kam sie mir als Kind rund wie ein Osterei vor, klein und oval rund, lehrte uns als erstes, wie man einen Kreidestift auf dieser Tafel zu nutzen hatte. Aber auch eine erste bunte Fibel und ein Rechenbuch sowie eine Art Etui für die Kreide, aber auch Blei- und Buntstifte füllten den noch leichten Ranzen. Eifrig machten wir uns an daran, das Alphabet und erste Worte wie Oma oder Mama zu schreiben, gleich die ganze Tafel voll und natürlich in vorgeschriebener Schönschrift.

Auf der Tafel-Rückseite füllten erste Rechenpäckchen mit Aufgaben wie 1 + 1 = 2 die Rechen-Schieferseite. Mit solchen Aufgaben vergingen die ersten Monate bis zu den „Großen Ferien“. Pünktlich ein paar Tage vor meinem siebten Geburtstag gab es sechs Wochen Sommerferien. Irgendwie war ich traurig, dass ich meine Mitschülerinnen und eine erste neue Freundin nicht an ihrem Geburtstag, dem 1. August, beglückwünschen konnte.

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Aber auch mein eigener Geburtstag, der 4. August, fiel formlich ins Wasser! Nur gut drei Wochen zuvor raffte der Krebs meine Mutter aus unserem Leben. Die großen Ferien begannen bereits Mitte Juli und da unser Vater längst festgestellt hatte, dass unsere Mutter recht bald sterben würde, ich ja erst I-Männchen war, schickte er die zwei jüngeren seines Drei-Mädel-Hauses auf's Land, wo wir richtig viel Ablenkung durch das uns unbekannte Landleben erfuhren und so gar nicht mitbekamen, dass zu Hause Trauer herrrschte.

Zurück im Zuhause hatte ich das Gefühl, Mutti wäre – mal wieder – im Krankenhaus (eine Erklärung bekamen wir „Kleinen“ nicht). Und – ganz spannend – wir verreisten, nach Borkum, ans Meer! 1951 war das noch etwas Besonderes! Mit dem Zug stundenlang von Münster nach Emden zu fahren war schon das erste Abenteuer. Ein ums andere Mal steckte ich meinen Kopf aus dem damals noch zu öffnenden Zugfenster und bekam jedes Mal einen Rüffel, ich würde mich erkälten!!

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Eine Erkältung bekam ich nicht, aber schon am nächsten Tag musste ich meine Geschwister ohne mich an den Strand ziehen lassen, durfte nicht mit und musste allein das Bett hüten. Ein dicker Schal und Bettruhe halfen, den „Ziegenpeter“ schnell zu überstehen. Und meinen siebten Geburtstag durfte ich auch im Bett verbringen. Zum Trost gab es als Geburtstagsgeschenk ein Mikado-Spiel, das ich erst mal am Tisch im Pensionszimmer allein ausprobieren, üben konnte, denn meine Geschwister sollte ich nicht auch anstecken …

Nach den Sommerferien begann die Schule in einem ganz neuen Schulgebäude, das in den Ferien endgültig bezugsfertig geworden war, und mit einer neuen Lehrerin. Meine Klasse wurde ein zweites Mal eingeschult.

Die neue Kreuzschule lag mit ihrem großen, eingezäunten Pausenhof direkt zwischen der Kreuzkirche und der Straße, an der meine erste Freundin Renate zuhause war. Vor dem Unterricht wurde erst ein Gebet gesprochen. Die neue Lehrerin glaubte offensichtlich, meine besondere Stellung in der Klasse etwas betonen zu müssen – oder war es Mitleid? Es wurde nicht nur das übliche Gebet gesprochen, sondern sie erklärte auch, dass eine Mitschülerin (ich) in den Ferien ihre Mutter verloren hatte, für die die Klasse nun auch ein Gebet sprechen wolle.

Für mich war das kein bisschen tröstlich. Eine vorlaute Erika rief in die Klasse: „Gut dass die tot ist, das war eine ganz böse Frau!“. Ich kannte meine Mutter nur sterbenskrank, schwach, bettlägerig und nur noch flüsternd, aber weder klagend noch schimpfend – nur liebevoll! Dieser gehässige Ruf in die Klasse – heute würde man das als Mobbing bezeichnen – ließ mich empört in Tränen ausbrechen, so dass der Unterricht nicht begonnen werden konnte. Und Erika kannte meine Mutter absolut nicht!! Also rief Frau Neuer meine Freundin Renate auf, mich zu ihrer Mutter in direkter Nachbarschaft am Schulhof zu begleiten, damit ich bei ihr Trost finden könnte. Mit tränenverschleiertem Blick mochte die Lehrerin mich nicht nach Hause oder zum Geschäft meines Vaters schicken. Beides wäre zu weit gewesen.

Im Herbst lernten wir dann auch die Ruhestätte unserer Mami kennen, durften mitbestimmen, was für ein Stein ihr Grab schmücken sollte und durften entscheiden, wie das zärtliche Wort Mami darauf richtig geschrieben würde – mit einem „m“ oder zwei „mm“ in der Mitte.

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1952 auf dem Spielplatz des Internates.

Unsere Älteste, damals gerade 11 Jahre alt, von Natur aus ziemlich rechthaberisch und daher sehr für Streitereien zu haben, kam ins Internat, wo sie sich so wohl fühlte, dass sie Jahre später – dann selber Mutter zweier Töchter – ihre Zwei ebenfalls einschulen ließ. Meine jüngste Schwester, gerade dreieinhalb, vereinnahmte unsere Oma, die nun Mutterstelle an uns vertrat, für sich – und ich hatte das Gefühl, ich sei übrig, hing emotional in der Luft. Unsere Jüngste liebte es, bei Oma auf dem Schoß zu sitzen. Aber Oma hatte zwei Beine, da wollte ich ebenfalls auf ihrem Schoß, auf ihrem zweiten Bein sitzen. Ihr wird es nicht bewusst gewesen sein, dass ich noch Sechsjährige ihr zu schwer sein sollte, war ich doch nur ein untergewichtiges kleines Mädchen. Ich fühlte mich weggestoßen, ungewollt.

So etwas vertraute ich mich lieber dann den immer wieder neu wechselnden Hausmädchen an, die für Sauberkeit und Ordnung in der Wohnung sorgten. Unsere Oma übernahm das Kochen und genoss es offensichtlich, nachdem sie in jungen Jahren drei Söhne groß gezogen hatte, nun drei Mädels um sich zu wissen.

Es war das erste Weihnachtsfest, das wir ohne Mutter, dafür mit Vater, seiner Mutter und unserem Hausmädchen gefeiert haben.

Foto 78 Gitta mußte immer auf jeden Schoß auch bei Hilde 1951.jpg
Und es gab einen Dackelwelpen zu Weihnachten, der umgehend nachts ausprobierte, wie die auf Stuhllehnen in der warmen Küche abgelegte Kinderkleidung schmeckte und sich auch darauf, so allein gelassen, erleichterte. Wir nannten ihn Filou und er war auch einer!

Foto 83  bei so viel Schnee durften Uschi und Gitta mit Filou rodeln Winter 1951, 1952.jpg
Er begleitete uns nur wenige Wochen, dann wurde aus ihm ein wohlerzogener Jagdhund unseres Onkels!

1951/52 war ein richtiger Winter! Es wurde auch in der Stadt so kalt, dass es mehr Schnee gab, der auch liegen blieb und so kam dann endlich mal ein vom Vater selbst gebauter Schlitten in der Promenade zum Einsatz. Zum zugefrorenen Aasee wagte ich mich damals noch nicht. Aber die „Todesbahn“ die einige Jungs einen etwas steileren Abhang nahe einem Teich glatt gefahren hatten, bin ich dann auch gefahren – Juchhu! Da musste ich dann mit der Schussfahrt den kleinen Abhang hinunter den Schlitten lenken können, um einen noch vorhandenen Wasserstreifen am Teichrand zu „überfliegen“ und auf dem dickeren Eis zu landen. Ins eisige Wasser bin ich nicht gefallen!!

Foto 88 Filou folgt dem Schlitten lieber zu Fuß.jpg
Wenn ich es recht überlege, waren meine riskanten Kindheitserlebnisse eine recht gute Unterstützung für die spätere Erziehung meines Sohnes, aber auch meiner Tochter. Heute, als Oma denke ich so manches Mal, mein zehnjähriger Enkel sei zu vorsichtig. Muss er wohl von seinem Opa, meinem Mann geerbt haben. Der riskierte nichts! Er kletterte nicht mal mit uns auf einen Aussichtsturm – da könne man ja herunterfallen … Ist mir nie passiert, auch meine Kinder lieben es, gelegentlich doch mal dies oder das zu riskieren. Aber er ließ uns im Sauerland, wo er oft in der Hütte seiner Patentante Urlaub gemacht hatte, einen ziemlich rutschigen Abhang hinaufklettern, obwohl er den besseren Weg zum Ziel kannte … Und auf dem Send das Achterbahnfahren überließ er lieber den Kindern mit mir.
 

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Kommentare (2)

Prakash

Einfach wunderbar! Du versetzt uns in jene Zeit und die Fotos sind sagenhaft schoen! Die Erinnerungen verstaendlicherweise gemischt! Danke!

ehemaliges Mitglied

@Prakash 

Ich freue mich, Prakash, dass Du Dich in meine Erinnerungen mitnehmen ließest. Der bevorstehende Muttertag und das Alter hatten mich ein wenig in der Vergangenheit gefangen gehalten.

Warum dann nicht auch anderen Usern in meinem Alter in die vielleicht schöne oder abenteuerliche, manchmal leider auch schwere Kindheit einen Blick werfen lassen? Die heutige Zeit ist auch nicht gerade ohne ...

denkt Uschi


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