Brentanos Glaubensballade "Die Gottesmauer"






A.St.R.:

Fontane-
Aufsatz I:



In Neu-Ruppin ... - ein wunderschöner Ort,
neben Fontane Platz zu nehmen und seiner Poesie zu lauschen...






Clemens Brentanos sentimentale Glaubensballade "Die Gottesmauer":



- Artikel zum Lyrischem Stichwort „Gott“ im Spannungsfeld von Literatur und Theologie. - Folge 1993/III -


Vom Gottvertrauen und dem sich entwickelnden kindlichen Selbst


Clemens Brentanos „Die Gottesmauer" als beispielhaft zitiertes Gedicht in Theodor Fontanes Roman „Effi Briest"





A1s junge, von ihrem Mann psychisch enttäuschte Ehefrau erzählt Effi Briest, jetzt Frau Baronin von Innstetten, auf einem winterlich kalten Spaziergang dem galanten Herrn Crampas von einem Gedicht, das sie als kleines Mädchen im Elternhaus Hohen-Cremmen auswendig lernte.


Text 1:

Fontane: Effi Briest
(Aus dem 18. Kapitel)


Auf dem Rückwege vom Wald nach der Oberförsterei begann es zu schneien. Crampas gesellte sich zu Effi und sprach ihr sein Bedauern aus, daß er noch nicht Gelegenheit gehabt habe, sie zu begrüßen. Zugleich wies er auf die großen, schweren Schneeflocken, die fielen, und sagte: »Wenn das so weitergeht, so schneien wir hier ein.«
»Das wäre nicht das Schlimmste. Mit dem Eingeschneitwerden verbinde ich von langer Zeit her eine freundliche Vorstellung, eine Vorstellung von Schutz und Beistand.«
»Das ist mir neu, meine gnädigste Frau.«
»Ja«, fuhr Effi fort und versuchte zu lachen, »mit den Vorstellungen ist es ein eigen Ding, man macht sie sich nicht bloß nach dem, was man persönlich erfahren hat, auch nach dem, was man irgendwo gehört oder ganz zufällig weiß. Sie sind so belesen, Major, aber mit einem Gedicht - freilich keinem Heineschen, keinem 'Seegespenst' und keinem 'Vitzliputzli' - bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus. Dies Gedicht heißt die 'Gottesmauer', und ich hab es bei unserm Hohen-Cremmer Pastor vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz klein war, auswendig gelernt.«
»Gottesmauer«, wiederholte Crampas. »Ein hübscher Titel, und wie verhält es sich damit?«
»Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch 'eine Mauer um sie bauen', um sie vor dem Landesfeinde zu schützen. Und da ließ Gott das Haus einschneien, und der Feind zog daran vorüber.«
Crampas war sichtlich betroffen und wechselte das Gespräch.
Als es dunkelte, waren alle wieder in der Oberförsterei zurück.



Text 2:

Clemens Brentano: Die Gottesmauer

Draus vor Schleswig an der Pforte
Wohnen armer Leute viel.
Ach! des Feindes wilder Horde
Werden sie das erste Ziel.
Waffenstillstand ist gekündet;
Dänen ziehen aus zur Nacht;
Russen, Schweden sind verbündet,
Brechen ein mit wilder Macht.

Draus vor Schleswig, weit vor allen
Liegt ein Hüttlein ausgesetzt.
Draus vor Schleswig in der Hütte
Singt ein frommes Mütterlein:
»Herr, in deinen Schoß ich schütte
Alle meine Sorg' und Pein!«
Doch ihr Enkel, ohn Vertrauen,
Zwanzigjährig, neuster Zeit,
Hat, den Bräutigam zu schauen,
Seine Lampe nicht bereit.

Draus vor Schleswig in der Hütte
Singt das fromme Mütterlein.
»Eine Mauer um uns baue!«
Singt das fromme Mütterlein:
»Daß dem Feinde vor uns graue,
Nimm in deine Burg uns ein!«
»Mutter«, spricht der Weltgesinnte,
»Eine Mauer uns ums Haus
Kriegt fürwahr nicht so geschwinde
Euer lieber Gott heraus!«

»Eine Mauer um uns baue!«
Singt das fromme Mütterlein.

»Enkel, fest ist mein Vertrauen,
Wenn's dem lieben Gott gefällt,
Kann Er uns die Mauer bauen,
Was Er will, ist wohl bestellt.«
Trommeln rumdidum rings prasseln;
Die Trompeten schmettern drein;
Rosse wiehern, Wagen rasseln;
Ach, nun bricht der Feind herein!

»Eine Mauer um uns baue!«
Singt das fromme Mütterlein.

Rings in alle Hütten brechen
Schwed und Russe mit Geschrei,
Fluchen, lärmen, toben, zechen,
Doch dies Haus gehn sie vorbei.
Und der Enkel spricht in Sorgen:
»Mutter, uns verrät das Lied!«
Aber sieh! das Heer von Morgen
Bis zur Nacht vorüberzieht.

»Eine Mauer um uns baue!«
Singt das fromme Mütterlein.

Und am Abend tobt der Winter,
Um die Fenster stürmt der Nord.
»Schließt die Laden, liebe Kinder!«
Spricht die Alte, und singt fort.
Aber mit den Flocken fliegen
Nur Kosakenpulke 'ran;
Rings in allen Hütten liegen
Sechszig, auch wohl achtzig Mann.

»Eine Mauer um uns baue!«
Singt das fromme Mütterlein.

»Eine Mauer um uns baue!«
Singt sie fort die ganze Nacht.
Morgens wird es still: »O schaue,
Enkel, was der Nachbar macht!«
Auf nach innen geht die Türe;
Nimmer käm er sonst heraus:
Daß er Gottes Allmacht spüre,
Liegt der Schnee wohl haushoch draus.

»Eine Mauer um uns baue!«
Sang das fromme Mütterlein.

»Ja! der Herr kann Mauern bauen!
Liebe, gute Mutter, komm,
Gottes Wunder anzuschauen!«
Spricht der Enkel und ward fromm.
Achtzehnhundertvierzehn war es,
Als der Herr die Mauer baut';
In der fünften Nacht des Jahres
Hat's dem Feind davor gegraut.
»Eine Mauer um uns baue!«
Sang das fromme Mütterlein.

*

~ Clemens Brentano. Hochromantiker. (8.9.1778-28.7.1842) ~

Detail auf dem Spaziergang:
Ausgelöst wird diese Erinnerung der jungen Ehefrau von Innstetten durch eine vom Major ausgesprochene Beiläufigkeit zum Schneetreiben.
Aus dieser realistisch-konkreten Beschreibung ergibt sich, typisch für Fontanes motivreich verflochtenes, realistisches Erzählen, ein Übergang zur psychischen Befindlichkeit und religiösen Motivation seiner Hauptperson, deren Ehegeschichte der Autor, fast am Ende seines Lebens, „wie mit einem Psychographen" schrieb, wie er es selber charakterisierte.
Fontane zeigt in seinem Meisterroman durch mehrere ergänzende Momente Effis Selbstverständnis als mädchenhaft-freundlich und kindlich-unbefangen geprägt: in ihrer Abhängigkeit von der mütterlich-betulichen und der väterlich-phrasenhaften Erziehung, im weiblichen Behütetsein der adeligen Frau, dem Schutzbedürfnis, das zu realisieren dem Mann überlassen werden musste, in der von ihr gewünschten Fortsetzung des ausgelassenen Spiels in der heimatlichen Mädchengruppe und als häufig wiederkehrendes Motiv in ihrer Sehnsucht nach dem Lieblingsspielgerät, ihrem Lebenssymbol, der riskant erprobten Kinderschaukel.

Hier in der winterlichen Szene des 18. Kapitels erweist sich der (auswendig gelernte) kindlich-religiöse Glauben als ein weiterer Mechanismus, der ihr den Zugang zur realistisch und selbstverantwortlich zu erlebenden Erwachsenenwelt verwehrt. Sie sieht im lebensfeindlichsten natürlichen Element, der Kälte und dem Schnee, einen gottgegebenen Schutz. Dieses Vertrauen zu Gott und der Natur charakterisiert Fontane als Überforderung der Realität, als Fehlerwartung an das eigene Ich, ebenso an einen möglichen Du-Partner, also als eine Unsicherheit im Selbstbewusstsein. Bei Frau von Innstetten wird durch den direkten, religiösen Einschluss (psychologisch: Introjekt) in die kindliche Psyche die infantile Regression aufrechterhalten.

Im Vergleich mit Kunst- oder Volksmärchen wird die denkpsychologische Distanz deutlich, um die es zwischen dem naiven Glauben und dem Wirklichkeitsbezug, zwischen Märchenballade und realistischem Roman, geht:
Im Märchen wird der Existenzkampf im Eis und Schnee, z. B. im oder am Eisberg, ein häufig gegebenes Kräftespiel, das die Bewährung des noch nicht gereiften Helden bringt, als mutiges, letztlich glückliches Rollenspiel vom miterlebenden Kind nachvollzogen und mit Hilfe der erzählenden Figur (Märchentante, Mutter und Vater, Priester als Moralvermittler) nicht als real bedrängende Daseinsangst erlebt, sondern als beispielhafte, mögliche Lebensbewährung einschließlich der Reifung und des Erfolgs in der Symbolebene mitgespielt - Modell-Lernen durch Identifikation im verbal-suggestiven Erzählspiel!

Diese Trennung des naiv-gläubigen Wunscherlebens von der wissensmäßigen, vernünftigen Erfahrung im Rollenspiel, die entwicklungspsychologisch ausreift, wenn keine Störungen sie verhindern, ist für Effi nicht eingetreten, nicht vollzogen worden. In ihrem Falle verfestigt sich in der kindlichen Sozialisation das Vertrauen auf Gott als religiöse Moral des Gehorsams und erlaubt keine Ablösung der magisch-konkreten Operationen durch abstraktere, objektivere Denkschemata. In der Definition des Psychologen Jean Piaget stellt hier der überdauernde Glaube an Gottes Eingriff in den kalten Winter und die lebensfeindliche Witterung einen finalistischen Artifizialismus dar:
Eine jahreszeitlich natürliche Schneeverwehung wird interpretiert als Gottes absichtsvolles Eingreifen, als kunstvolles Wunder, das auch in dieser Winternacht an der Seite des Frauenmannes Crampas wieder Effis Vorstellungen von Verständnis, ja Liebe, prägt. Neben vielen anderen Zeichen und Verhaltensweisen, die auf das kindlich-magische Denken in der Psyche der Frau Baronin verweisen, ist der religiös konforme Einfluß vom Autor und Über-Vater Fontane nur behutsam-indirekt dargestellt, gleichsam in der Parenthese des Zitats, nie offen entlarvend oder gar kritisch-spöttisch.

In Effis Gewissen hat der früh vermittelte, durch Auswendiglernen eingeimpfte Glauben, einschließlich der „Vorstellung von Schutz und Beistand" durch die Eis- und Schneewand der Gottesmauer, ein Lebensgefühl begründet, das die psychische und soziale Realität ihres Lebens als Frau von Instetten nicht unterscheidet von der geglaubten Schutzfunktion der kindlich-lieben Wunschvorsteilung einer Behütung in Gefahr. Als Konsequenz weiß ihr kindlich-magisches Denken die ersehnte Auffassung der Geborgenheit von der realistischmöglichen nicht zu unterscheiden und vermag nicht zwischen den konkret-materiellen Bedingungen der Natur und der Gesellschaft sowie den menschlich verständlichen Konventionen des Glaubens zu differenzieren.

Fühlt sich Frau von Instetten hier in dieser nacherzählten Kindheitsszenc noch im infantil-psychischen Schutzmantel geborgen, den der Glaube an Gott, genauer das Vertrauen auf seine schützende Protektion imaginisiert und als Realität produziert, so erschrickt der Major Crampas „sichtlich betroffen und wechselte das Gespräch". Der "Fauenmann" mag keine Probleme, keine Reflexion über Morla, Sitte, Ehe und Rollen - er bevorzugt das leichtfertige, erotische, verantwortungslose Spiel oder Spielchen, die vergnügliche Rolle.

Später kann er sich erotisch-aktiv in die weiblich-jugendliche Schutzbedürftigkeit und das Liebesbedürfnis Effis und ihre eheliche Unerfülltheit einschleichen.

Für ihn als galantintelligenten Charmeur und gebildeten Zeitgenosse (er zitiert z. B. gerne u. a. Heines progammatisch desillusionierendes Gedicht „Seegespenst") ist es ein erotisches Spiel, in dem er seine Männlichkeit und seine Standesrolle ausspielen kann - für Effis sensible, offene Ich-Identität ist es eine schöne, ersehnte Verheißung und wird gefährliche Verunsicherung in ihrer Unselbständigkeit.

In Fontanes Darstellung kann die junge Frau gelten als Beispiel des Lebens auf der Stufe der nichterwachsenen, konventionellen Moralität nach Lawrence Kohlbergs Schema, einschließlich einzelner Rückgriffe auf die nicht abgeschlossene Vorstufe. Sie lebt in Abhängigkeit von der Autorität der Männerwelt, der Kirche und des Adelsstandes. Auf eine persönliche Orientierung und Auseinandersetzung mit der Autorität, den festgelegten Regeln und der Erklärung von Stereotypen und einer selbst verantwortlichen Moralität auf der postkonventionellen Ebene ist sie nicht vorbereitet.

Im religiösen Bekenntnis des letzten Kapitels, kurz vor dem vegetativ-psychosomatischen Tod von Effi tritt der auktoriale Erzähler Fontanes in der Sterbeszene auf: „Arme Effi, du hattest zu den Himmelswundern zu lange hinaufgesehen..." (S. 292); und er meint nicht nur die konkrete Nachtbeobachtung, in der Effi von „unserer himmlischen Heimat" spricht.
(Die Anklänge für Effi als einen weiblichen Leidens-Christus, als eine Opferfigur, seien hier nicht weiter verfolgt, aber einer Neulektüre des Eheromans anempfohlen.)
Das in Lesebüchern der Fontane-Zeit häufig gedruckte Gedicht Brentanos als Paradebeispiel für ein Gottesvertrauen ist heutzutage sinnvollerweise nur noch in speziellen, historisch oder literarisch-textsortenspezifisch angelegten Anthologien zu finden. In keinem von mir eingesehenen Kommentarband zum Roman wird es abgedruckt; es wird verschwiegen.

Einen positiv-konkreten, pädagogisch-psychologischen Wert vermag ich denn auch für hier und heute nicht in dieser Ballade zu sehen; es sei denn als Beispiel unangemessener, nur wunderbarer Religiosität, als Surrogat für die Persönlichkeitsfindung, als Vermischung religiös äußerlichen und psychisch zu leistenden Sozialisationsgeschehens, als moralische Ideologisierung, als Übergriff des Glaubens in die kognitive Psyche. Das sich an Gott wendende, auf Gott projizierte Vertrauen fehlt dem psychosozialen Ich dieser Frau im Aufbau eines flexiblen, emotional und rational ausgleichenden Über-Ichs angesichts befehlshaberischer oder als Wunder abverlangter, irdisch-realistischer Zumutungen.

Fontane läßt später - im Heimthaus Hohen-Cremmen in dere Gemeinschaft mit ihrem Vater - sein Kindmädchen Effi in Frieden „mit Gott und der Welt" sterben - aber sicherlich nicht, damit der Leser die erzählten implizit-kritischen Momente hinsichtlich der Sozialisation und Religiosität einer jungen Frau in einer standesbewußten und stark geschlechterspezifisch orientierten Umwelt des 18. Jahrhunderts als notwendig und unveränderbar hinnimmt.

Damals fanden junge Frauen so ungünstige geschlechts- und ehe-rollenspezifische Vorgaben vor, dass sie sozialen und psychischen Belastungen in der vereint strukturell frauenfeindlichen Männerwelt, der predigend-exerzierenden Kirche und der adeligen, die sozialen Rollen diktierenden Preußen-Gesellschaft nicht gewachsen waren. Wunderglauben als Ersatz für notwendig vom Individuum selbst zu verantwortende psychische und soziale Bedürfnisbefriedigungen kann nicht Sinn und Funktion der anthropologisch-psychischen Gewissheit Gott sein, so läßt sich aufgrund des lediglich als erinnerndes, aufschlussreiches Zitat einfließenden, romantischen Gedichts die psychologische und realistische Auffassung Fontanes vom Menschen als Mann und Frau festschreiben.

Die Ballade läßt sich wirkungsvoll vortragen und als Wundergeschichte beschreiben, die keine grundlegende, religiös verbindliche Dimension menschlichen Verhaltens erklärt, sondern ein historisches, zeitlich bedingtes, romantisches Bedürfnis nach sozialem Schutz und für Hilfe aus menschlicher Not in kriegerischer oder zerstörerischer Zeit verklärt.

In Ermangelung brauchbarer, künstlerisch und formal überzeugender, psychisch-religiös kompetenter Literatur sei ein modernes Gedicht G. B. Fuchs herangezogen, das in keinem Wort von Gott spricht, das aber in jedem Bild und in der Struktur des sich vollziehenden, von einer Bitte begleiteten Lebensweges eine Allegorie menschlich-sozialer und kreativ-transzendentaler Vollendung darstellt.

G. B. Fuchs' bildkräftig fabulierende Allegorie ist ein „Gebet" „für ein Kind". - Ein atheistisches Gedicht? Nein! Zwar von einem Atheisten, einem unnützen Poeten, einem Vagabunden, einem grimmigen Clown, der zu Anarchie und Solidarität aufrief?


Vgl. das Schema der moralischen Entwicklung:

Das Kohlbergsche Schema der MoralerziehungKohlbergsch der Moralerziehung:


(Der Aufsatz erschien zuerst in der Zeitschrift „Religion heute“. Heft 15/1993. S. 210-211; hier gekürzt um den im Aufsatz analysierten, modernen Vergleichstext von Günter Bruno Fuchs: „Für ein Kind", ein Gebet für ein Kind.)


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