Begegnungen 2
Mit den Augen eines Kindes

Kinder sind seltsame Wesen. Jeden Tag entdecken, hören, sehen und schmecken sie neue unbekannte Dinge, die sie in tiefes Staunen versetzen. Wir Erwachsene haben oft keine Ahnung, was alles in den kleinen Köpfen mit den großen Augen vor sich geht. Sie sehen und verstehen die Welt ganz anders als wir Großen.
Heraus kommt dann ein Gespräch, wie es eine junge Mama mit ihrer kleinen Tochter im Zug von München nach Landshut mir gegenüber führte, dessen Zeuge ich unfreiwillig wurde. Ich gestehe, ich habe mich köstlich amüsiert.
 
„Es freut mich, dass es dir bei Oma so gut gefallen hat. In den Sommerferien besuchen wir sie wieder, okay“, versprach die Mama ihrem vermutlich drei- bis vierjährigen Töchterchen, nachdem ich mich gesetzt und sie mir kurz „Hallo“ gesagt hatte.
Die Kleine beachtete mich gar nicht, sondern fischte stattdessen eifrig aus ihrem Rucksack eine Puppe heraus. „Schau Mama, die Oma und ich haben eine Stoffpuppe gemacht, weil ich doch meine vergessen habe. Ist die nicht schön?“
„Echt! Sehr schön! Die Oma kann Sachen?!“, staunte die Mutter.
„Oma hat von ihrem Nachthemd unten ein Stück Stoff abgeschnitten und die Puppe daraus gemacht“, fuhr die Kleine begeistert fort.
„Jetzt, wo du es sagst! Ich erkenne den Stoff wieder. Das Nachthemd habe ich Oma zu Weihnachten geschenkt und jetzt zerschneidet sie es schon? Es hat ihr wohl nicht gefallen. Und ich habe eine Menge Geld dafür ausgegeben“, sagte die junge Frau bitter mehr zu sich selbst als zu der Kleinen.
„Ich habe die Puppe ganz lieb! Sie ist ganz weich und kuschelig!“ Das Mädchen schmuste und liebkoste ihr Geschenk. Nach einer kleinen Unterbrechung wechselte es da Thema.
„Mama, mein Zahn wackelt ganz toll!“ Es hantierte vorsichtig an dem Zahn herum.
„Zeig mal her? Stimmt! Hast du dir bei Oma auch immer die Zähne geputzt?“
„Ja, ich schon, aber die Oma nicht. Oma tun die Zähne nämlich aus dem Mund heraus und tun sie in ein Glas. Das sieht komisch aus.“, kicherte die Kleine.
„Ja, das kommt vielleicht daher, weil sie ihre Zähen nicht genug geputzt hat. Deshalb hat sie alle verloren. Außerdem, wenn Menschen alt werden, werden auch die Zähne alt“, erklärte die Mutter ihrer Tochter.
„Vielleicht hatte die Oma auch keine Zahnbürste. Sie sagte, als sie ein Kind war, waren sie sehr arm.“
„So arm auch wieder nicht. Warum hast du sie nicht gefragt, ob sie eine Zahnbürste hatte, als sie klein war? Du willst doch sonst auch immer alles genau wissen!“ Aber das schien die Kleine nicht zu hören, denn sie sagte: „Die Oma ist schon uralt. Schon tausendmal so alt wie ich! Und sie schnarcht in der Nacht ganz laut.“
„Wie weißt du denn das? Konntest du nicht schlafen bei der Oma?“
„Ich hatte Angst allein in meinem Zimmer. Ich bin sicher, da wohnt ein Gespenst. An der Wand waren viele Hörner. Und das Gewehr von Opa. Und die große Uhr an der Wand machte immer tick tack, tick tack. Ich durfte dann bei Oma schlafen. In der Nacht ist sie aufgestanden und hat gejammert und hat Medizin gegen die Schmerzen genommen. Muss sie bald sterben?“, fragte ganz vorsichtig das Kind. Es schien bedrückt zu sein.
„Nö, keine Angst! So alt ist Oma nun auch wieder nicht. Wie kommst du denn darauf?“
„Ich meine, so wie Opa. Wir waren in einem Garten, da sind viele Blumenbeete und tote Menschen, die nicht mehr leben.  Der Opa ist da auch. Er liegt auch in so einem Blumenbeet. Oma hat die Blumen gegossen und gebetet. Mama, warum beten wir denn nicht? Oma hat gesagt, als sie klein war, hatten sie nur ein Märchenbuch und ein Bibelbuch. Abends war ihre Mutter zu müde zum Vorlesen. Sie haben zusammen gebetet und dann wurde geschlafen. Einen Fernseher hatten sie auch nicht und kein Smartphone auch nicht.“
„Ja, früher war das so, meine Kleine. Vor allem auf dem Land haben damals die Frauen hart geschuftet. Außerdem hatten sie noch einen Menge Kinder. Die Oma hatte sechs Geschwister! Da kann man schon verstehen, wenn diese Frauen damals hundemüde waren, oder?“
Darauf antwortete das Kind nicht. Es sah ganz so aus, als wäre sie eingeschlafen. Doch ich täuschte mich, denn plötzlich vernahm ich: „Mama, ich möchte so gerne ein Kätzchen. Ich werde es auch füttern, versprochen! Die Oma hat eine kleine Katze in ihrem Garten gefunden. Weil sie krank war, hat Oma sie gepflegt. Jetzt ist sie wieder gesund.“
„Ich weiß, dass Oma eine Katze hat, sie hat nämlich eben versucht, sie mir aufzuschwatzen. Aber wir können keine Katze brauchen. Die ganzen Katzenhaare überall, Gott bewahre.“
Die Entschlossenheit der Mutter ließ das Kind verstummen. Es schmollte. Deshalb fuhr die Mutter fort: „Die Oma lebt auf dem Land, da kann die Katze raus und Mäuse fangen. Ihr Geschäft kann sie auch draußen machen und nicht in der Wohnung in ein Katzenklo.“
Das Mädchen schmollte weiter, dann sagte es: „Omas Katze geht auf das Klo von Oma. Sie trinkt aus der Kloschüssel. Das habe ich selbst gesehen!“
„Oh, ist ja ekelig! Können wir von etwas anderem reden?“
Stille. Dann plötzlich: „Wir waren auch in der Kirche. Da war ich mit dir auch noch nie. Da musste man ganz, ganz still sein und ganz brav sitzen. Manchmal standen alle auf. Der Chef war ein Mann. Er hatte ein langes Abendkleid an. Das sah komisch aus!“
„Den Mann nennt man Pfarrer. Oma hat dich also in die Messe mitgeschleppt?“
„Der Fahrer hat gesagt…“
„Der Pfarrer, heißt das, Susanne.“
„Er hat gesagt, Glaube versetzt Berge. Ich kam nicht einmal einen großen Stein hochheben. Dann hat er gesagt, wer glaubt, darf ewig leben. Stimmt das?“
„Wenn’s der Pfarrer sagt“, antwortete die Mama kurz angebunden. „Der muss es ja wissen!“
„Ich musste unbedingt auf‘s Klo. Doch Oma hat leise gesagt, dass es in der Kirche kein Klo gibt. Sie ging nicht mit mir raus und weil die immer weiter gesungen und gebetet haben, konnte ich es nicht mehr länger halten.“
„Echt, Du hast in die Hose gepieselt?“, lachte die junge Frau.
„Ich konnte nichts dafür! Nicht meine Schuld!“, protestierte die kleine Susanne und schien traurig, weil sie von ihrer Mama ausgelacht wurde.
„Sei nicht traurig, das ist nicht schlimm! Du konntest ja nichts dafür“, tröstete diese ihre Tochter.
„Die Erwachsenen haben sich am Schluss alle eine Belohnung vom Pfarrer geholt. Wir Kleinen bekamen nichts. Dann sind wir heimgegangen.“
Um Susanne auf andere Gedanken zu bringen, fragte die Mama: „Hat dir das Essen bei der Oma geschmeckt? Was hat sie denn Feines für dich gekocht?“
„Pfannkuchen und Apfelkomplott“, schoss es aus Susannes Mund.
„Apfelkompott, heißt das! Ihr habt doch sicher nicht nur Pfannkuchen und Apfelkompott gegessen?“
„Nein, gestern waren wir auf dem Bauernhof. Dort gibt es viele Tiere. Oma hat Eier gekauft und ein totes Hühnchen. Ich wollte kein totes Hühnchen essen. Ich wollte eine Pizza! Aber Oma hat gesagt, sie ist nicht aus Italien und eine Amerikanerin ist sie auch nicht. Bei ihr kommt so etwas nicht auf den Tisch.“
„Die Oma ist da altmodisch, aber sie hat nicht ganz Unrecht. Sie hat mir ein großes Stück Schokoladenkuchen für dich mitgegeben. Der war fein, oder?“
Susanne war begeistert. „Ja, superlecker! Ich durfte sogar beim Backen helfen. Wir haben alle sechs Eier vom Bauernhof hineingetan. Später sind wir gleich nochmal los, denn die Oma hat die Milch für meinen Pudding vergessen.“
„Warst du im Kuhstall?“
„Klar! Da roch es voll stinkig! Da gibt es ganz, ganz viele Kühe und der Bauer hat ganz viel Milch. Ich habe Oma gefragt, warum die Kühe nicht auf der Wiese sind, wie in meinem Buch. Der Bauer hat gesagt, dann geben sie weniger Milch. Die Kuh-Busen haben vier Griffe. Da hat die Bäuerin ein Gerät zum Melken dran gesteckt. Und Schwups, war der Busen leer! So einfach geht das. Wir haben auch den Kälbchen zugeschaut, wie sie Milch aus der Flasche trinken. Eins konnte noch gar nicht richtig stehen und plumpste immer wieder aufs Stroh.“
„Du willst jetzt aber kein Kälbchen, Susanne?“, lachte die Mutter. Es wäre besser gewesen, wenn sie sich diesen Satz verkniffen hätte, denn Susanne wollte lieber was anderes, und zwar: „Ich möchte lieber ein echtes Baby.“
„Ich weiß, dass du dir ein Brüderchen wünschst. Vielleicht geht dein Wunsch früher in Erfüllung, als du denkst", sagte die Mama geheimnisvoll.
Doch dann war Ende des Gesprächs, denn in diesem Augenblick fuhr der Zug in den Bahnhof ein und die beiden stiegen leider aus.

Bild pixabay von LudmilaKot
 

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Kommentare (8)

Claudine

Vielen Dank für die Herzchen, lieber Songeur, Syrdal, ebenso wie an Maikäfer, Globetrotter und Jutta. Eigendlich kommen die Ladys first, aber ich habs jetzt mal der Reihe nach gemacht. Verzeiht mir!

Ich wünsche euch einen schönen Sonntag
Irmina

werderanerin

Ja, Claudine, wie schön doch Kindermund ist. Habe ja selbst meine zahlreichen Enkel aufwachsen sehen, hatten sie auch oft im Urlaub mit oder sie waren bei uns..., daher weiß ich, wie schön gerade dieses Alter ist.

Sie entdecken, gefühlt minütlich etwas Neues, quasseln fast ununterbrochen, fragen einen Löcher in den Bauch, hängen ständig an einem dran...aber das alles ist so schön und ich habe es immer sehr genossen.

Wie schnell doch diese Zeit vergangen ist...nunmehr sind sie Teenies und haben ganz andere Dinge im Kopf, so wie es auch sein sollte.

Ich zehre heute noch von den zahlreichen Begebenheiten.

Kristine

Claudine

@werderanerin  

Liebe Kristine,
hört sich sooo gut an, was du schreibst.
So soll es im Leben auch sein. Ich freue mich für dich, muss aber gestehen, dass ich dich ein wenig um deine 
Enkelschar beneide. Dieser Wunsch blieb mir Jahr um Jahr versagt und inzwischen ist meine Tochter leider auch aus dem Alter raus, um uns wenigstens noch einen Enkel zu schenken.

Ich freue mich, dass ich dir einige Minunten Lesespaß bereiten könnte und danke dir herzlich, dass du es mich wissen lassen hast.

Noch ein schönes Wochenende
Irmina




 

werderanerin

Ich kann es voll nachvollziehen, wenn Traurigkeit aufkommt, liebe Irmina...keine Enkel zu haben, wäre für mich sehr schlimm gewesen..., habe mich schon immer darauf gefreut - heute sind es 7 -  und auch wenn ich nicht immer alle sehen kann, sie leben in unterschiedlichen Städten, ist es toll, sie zu haben, zu wissen, sie entwickeln sich ganz super.

Kristine grüßt herzlich


IMAG1927.jpg

Das war 2014 - da war ich mit meiner Lütten in Prerow und du siehst, Meer und Sand war alles.
Heute ist sie ein hübscher Teenie, hatte gerade Jugendweihe...wo ist die Zeit hin...

Jutta

Liebe Claudine,

Was für eine schöne Geschichte, von dir auch wunderschön, lebendig  und gut beobachtet beschrieben! Wie gerne hätte ich eine Oma und dann auch eine solche Oma gehabt. Danke für diese wunderbare Geschichte.

Liebe Grüsse von
Jutta

Claudine

@Jutta  

Liebe Jutta,
Ich gebe das Kompliment mit Freude zurück. Was für ein wunderschöner Kommentar!  Ich habe mich mächtig darüber gefreut. Geschichten mit Kleinkindern sind oft so prickelnd unbeschwert. Leider verliert sich das beim Älterwerden. 

LIEBE GRÜSSE, EXTRA GROSSGESCHRIEBEN
Irmina
 

Syrdal


Das ist Leben pur… unverfälscht und (noch) „heile Welt“, wie wir sie ja einst auch erlebt und begriffen haben.

Schöne Erzählung, sagt
Syrdal




 

Claudine

@Syrdal  
Ja, lieber Syrdal, da kann ich dir nur zustimmen. Was war das doch für eine unbeschwerte Zeit! Und wie oft gingen meine Gedanken in der Erinnerung daran spazieren, wenn ich als junge Frau im Ausland Heimweh nach dem Elternhaus hatte.
Noch ein Zitat von Khalil Gibran als Resümée:
"Was man als Kind geliebt hat, bleibt im Besitz des Herzens bis ins hohe Alter."
 


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