Begegnungen 1

 
Bis vor einem Monat wusste ich wenig über das Leben blinder bzw. sehbehinderter Menschen. Denn weder in meinem Familien- noch in meinem Bekanntenkreis gab es jemanden mit einer solchen schweren Behinderung. Vermutlich wurde mir deshalb nie zuvor so deutlich bewusst, wie wertvoll Augenlicht tatsächlich ist.
 
Ich saß beim Frühstück im Hotel, als eine junge Frau mit weißem Stock den Raum betrat. Damit tastete sie sich bis zu meinem Nachbartisch am Fenster vor und legte Schlüsselbund und Handy darauf. Dann klappte sie ihren Blindenstock zusammen, tastete nach dem Stuhl, rückte ihn zurecht und setzte sich. Die Bedienung kam, begrüßte sie, fragt nach ihrem Befinden und schenkte ihr Kaffee ein. „Was darf ich Ihnen heute bringen?“, fragte sie die junge Frau.
Diese antwortete: „Ich hätte gern einen Orangensaft, ein Croissant und Fruchtquark, bitte.“
Sie konnte sich vermutlich wegen ihrer Sehbehinderung nicht selbst am Frühstücksbüffet bedienen, deshalb half man ihr.
 
Nach dem Frühstück begegnete ich ihr erneut auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Offensichtlich suchte sie etwas - schien hilflos zu sein - deshalb sprach ich sie an. „Kann ich Ihnen helfen?“
Die junge Frau erschrak. Vermutlich hatte sie mich nicht kommen hören. Ich fuhr erklärend fort: „Ich saß eben neben Ihnen im Frühstücksraum.“
Sie zögerte erst, schließlich sagte sie: „Ach!“, und dann: „Wissen Sie, wann der nächste Bus zum Strand fährt?“
Sie sprach gut Französisch, hatte aber einen unüberhörbaren Akzent.
„Woher kommen Sie? Sind Sie Deutsche?“
„Ja, hört man das?“, erwiderte sie. Dabei schmückte ein Lächeln ihre Mundwinkel. Die Augen konnte ich nicht sehen, denn sie trug, wie bereits beim Frühstück, ihre dunklen Augengläser.
„Nur ein bisschen. Ich bin auch gebürtige Deutsche. Und nun zu Ihrer Frage: Der Bus fährt nur jede volle Stunde und jetzt ist es viertel nach neun. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie möchten, denn ich will auch dahin.“
Die junge Frau zögerte kurz, stimmte dann aber zu.
 
Im Auto und auf dem Weg zum Strand kamen wir ins Gespräch. Sie sei aus Baden-Württemberg, erzählte sie mir. Sie habe sich inzwischen gut mit ihrer Behinderung arrangiert, studiere Französisch und reise sogar allein, trotz schweren Sehbehinderung. „Ich kann mich mit Hilfe meines Blindenstocks recht gut orientieren“, versicherte sie mir und fuhr fort: „Übrigens: Den Strand hier kenne ich bereits von einem früheren Urlaub zusammen mit meinen Eltern.“
 
Ich wunderte mich, als sie am Strand ihr Strandtuch neben meinem ausbreitete. Offensichtlich war ihr meine Nähe nicht unangenehm. „Ich heiße übrigens Juliane“, sagte sie. „Und Sie?“
Ich nannte ihr meinen Namen und erzählte ihr, dass ich hier seit einigen Jahre zuhause sei.
„Oh, tatsächlich! Wie schön für Sie! Ich liebe das Meer und die sanfte Brise auf meiner Haut. Wenn die Wellen sich am Strand brechen, ist das wie Musik in meinen Ohren. An diesen Strand kann ich mich noch sehr gut erinnern, obwohl es schon einige Jahre her ist, seit unserem Familienurlaub damals. Es war in den Osterferien. Damals konnte ich noch sehen“, sagte sie, während sie sich auszog, aufstand und runter zum Ufer ging.
Dann schwamm sie ziemlich weit hinaus aufs Meer. Mir wurde bang. Da waren Motorboote unterwegs, hoffentlich kamen ihr diese nicht in die Quere. Als ich ihr gerade hinterher wollte, drehte sie um und schwamm zurück ans Ufer.
„Das Wasser ist herrlich!“, rief sie begeistert.
Obwohl sie schwer sehbehindert war, schien es, als wisse sie genau, wo ich war. Darüber wunderte ich mich sehr. Ich stand auf und ging ihr entgegen. „Juliane, woher weißt du, wo ich bin?“ Diese Frage konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
„Ganz in unserer Nähe befindet sich dieser Felsen, der aus dem Wasser ragt. Guck der da!“ Sie zeigte auf ihn. „Der ist so groß, dass selbst ich ihn schemenhaft erkennen kann. An dem Felsen habe ich mich orientiert, noch bevor ich hinausgeschwommen bin. Du denkst, ich schwindle, nicht wahr? Klar, so denken alle Sehende! Ist man mit einem Blindenstock unterwegs, hat man blind zu sein. Wie oft ist mir das schon passiert, dass man mich dumm angequatscht hat! Dabei sind keine 10% von uns tatsächlich völlig blind, die restlichen 90% haben einen minimalen Sehrest, womit sie zurechtkommen müssen.“
„Tut mir leid. Das wusste ich nicht! Ich hatte Angst um dich! Ich wollte dir eben schon hinterher, um dir zu helfen.“ Am liebsten hätte ich sie in die Arme genommen.
„Schon gut!“, sagte sie ziemlich schroff. Sie legte sich bäuchlings auf ihr Strandtuch und redete kein Wort mehr mit mir.
„Bist du mir jetzt böse?“, fragte ich sie nach einer Weile. Wegen meines Fauxpas‘ hatte sie allen Grund dazu. Ich schämte mich sehr.
„Nö, ich will mich nur sonnen.“ Sie schlief ein. Ich betrachtete sie. Sie war sehr hübsch – Groß, ein makelloser schlanker Körper im orangefarbenen Bikini, blondes langes Haar. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, die ihr ausgezeichnet stand.
Die Sonne brannte nieder auf ihre helle Haut. Nach einer viertel Stunde weckte ich sie vorsichtig. „He, Juliane! Hast du dich eingecremt?“
„Nö!“ Sie fischte die Sonnenmilch aus ihrer Tasche und reichte sie mir.
Während ich ihr den Rücken eincremte, sagte ich: „Ich gehe noch kurz eine Runde schwimmen, dann muss ich leider los. Ich habe noch eine Verabredung. Kommst du allein klar oder soll ich dich später abholen?“
„Ich komme allein klar!“
„Wir sehen uns dann morgen beim Frühstück?“
„Ich reise morgen sehr früh schon wieder ab. Danke, dass du mich mitgenommen hast.“
„Vielleicht sehen wir uns ja heute Abend noch?“
„Ja, kann sein“, sagte sie.
 
Ich wartete den ganzen Abend auf sie, doch sie kam nicht. Ich fragte an der Rezeption nach dem sehbehinderten Mädchen aus Deutschland. Die sagten mir, sie sei nicht auf ihrem Zimmer, denn der Schlüssel sei noch da.
Am nächsten Morgen hieß es, sie sei sehr früh abgereist.
 
PS: Obwohl ich die junge Frau kaum kannte, traf mich ihr Schicksal tief. Dieser Vorfall ging mir tagelang nicht mehr aus dem Kopf. Unvorstellbar, wenn mir das passiert wäre! Allein die Vorstellung ohne Augenlicht leben zu müssen, war entsetzlich.

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Kommentare (9)

Claudine

Danke @Songeur und @Jutta für Eure Herzchen. Hab mich riesig darüber gefreut.

lch wünsche euch einen schönen Tag
Irmina

Jutta

Liebe Claudine,

Eine ganz spezielle Geschichte und ich glaube Dir gerne, dass Du sie nicht  vergessen wirst.
Wir haben hier in der Nähe von Basel eine sog. "Blindenhundeschule" mit eigener Zucht von Labradorhunden. Es werden immer wieder Leute gesucht, die für ein Jahr lang einen Welpen gross ziehen, der (oder die) dann wieder in die Schule zurückkommt und einen Eignungstest machen muss. Eignet sich der Hund oder die Hündin, beginnt die Ausbildung zum Blindenführhund. Besteht der Hund diese Prüfung, wird er mit einem Blinden bekanntgemacht, um herauszufinden, ob zwischen den beiden die Chemie stimmt.

Ich hatte auch eine zum Blindenführhund ausgebildete Hündin, die aber unter keinen Umständen führen wollte, obwohl sie es gut machte, und in der Endphase einfach nicht mehr gehorchte und nur noch Blödsinn machte. Mit der Konsequenz, dass sie ausgeschieden ist und zu mir zurück kam. Ich besuchte dann die Sozialhundeausbildung mit ihr zusammen und nach bestandener Prüfung gingen wir jeden Montagnachmittag in ein Altersheim und brachten den Bewohnern sehr viel Freude während einer Stunde.

Jutta mit Gwen - Kurs-Abschlussfoto 2009.jpg
P1010564-01.jpg
Diese Besuche waren jedes Mal ausserordentlich spannend.

Liebe Grüsse
Jutta





 

Claudine

@Jutta  
Was für eine interessante Geschichte, liebe Jutta.

Einen Blindenführhund habe ich ein einziges Mal mit seinem Herrchen in einer Straßenbahn gesehen und dann zusammen aussteigen. Damals war ich hin und weg von dem Bild, das mir die beiden boten, so ergreifend fand ich die Szene.
Ähnlich wie bei deinem Foto, wie dein Hund seine Pfote auf den Arm der  Dame legt... Danke dafür und deinen Kommentar zu meiner Geschichte, liebe Jutta.

Ganz liebe Grüße
Irmina
 

protes

da ich einen ganz besonders lieben freund hatte
 der auch erblindet war und nur noch schatten sah
mal etwas mehr, mal etwas weniger, weiß ich sicher 
die menschen sich trotz behinderung bewegen können.
 trotzdem sind sie immer wieder auf hilfe angewiesen
er war immer wieder erstaunt, wie hilfsbereit die menschen sind
 manchmal war er auch ärgerlich weil es zu viel war.

kann dein erlebnis gut nachvollziehen
liebe Irmina
habe die geschichte gerne gelesen
hade

Claudine

@protes  
Herzlichen Dank für deinen Kommentar, lieber hade. Hab mich sehr darüber gefreut.
Dieses junge Frau war auch so tapfer, musste sie ja auch, trotz so schwerem Schicksalsschlag. Sie erzählte ja auch, dass sie nach dem Abitur ein Jahr als Au-Pair nach Marseille gehen und anschließend Fotojournalismus studieren wollte. Doch all ihre Pläne zerplatzten wie Seifenblasen, als sie plötzlich ihr Augenlicht verlor. Ist das nicht schrecklich?

Liebe Grüße
lrmina

werderanerin

Wenn man nichts mehr sehen kann oder alles nur schemenhaft, stelle ich mir das furchtbar vor. Andere Krankheiten oder Behinderungen scheinen dahinter zu verschwinden...

Mir ist deine Geschichte sehr nahe gegangen, hin und wieder erlebt man ja im Alltag Menschen, die mit einem Blindenstock gehen...jedes mal habe ich das Gefühl, helfen zu müssen. Ich habe mal gelesen, dass man das nicht machen soll, Mitleid o.ä. brauchen diese Menschen nicht. 

Ist es nicht toll, dass diese junge Frau ihr Leben wohl in den Griff hat, wie selbstverständlich umher reist und das Leben so annimmt, wie es ihr jetzt gegeben ist...?

Wunderbar


Kristine

Claudine

@werderanerin  
Ehrlich gesagt, mir hat diese Begegnung ziemlich zugesetzt. Ich wäre so gern im Kontakt mit ihr geblieben. Aber wie, da ich nur ihren Vornamen kenne.

Sicher ist, ich werde sie niemals vergessen. 

Liebe Christine, ich bin dir unendlich dankbar für den herzlichen Kommentar. Bleib gesund, denn das ist das Wichtigste im Leben.
Herzlichst Irmina
 

werderanerin

Liebe Irmina,

solche Schicksale berühren mich auch immer sehr..., weil es oft so ungerecht ist aber das Leben ist nicht gerecht...wie auch.

Was ich immer dabei empfinde, diese Menschen nehmen ihr Schicksal so tapfer, dass man ehrfürchtig sein kann. Kaum ein Stöhnen, noch meckern.

Wie toll das ist

Liebe Grüße

Kristine

Claudine

@werderanerin  

Schön ausgedrückt, liebe Kristine. Dem kann ich nur zustimmen. Es ist wirklich toll, wie solche Menschen ihr Leben meistern. Ich weiß nicht, ob ich so tapfer wäre.

Liebe Grüße
Irmina


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