Aus meinem Buch "Reisehusten und andere Urlaubsabenteuer"
Wernigerode (Harz)
Meine allererste Reise machte ich im Juli 1958. Meine Mutter war der Meinung, man müsse sich auch mal etwas gönnen, weshalb sie ihre alte Schulfreundin Ilse, die beim Reisebüro arbeitete, bat uns eine Reise zusammenzustellen – egal wohin. Das tat die liebe Freundin dann auch und organisierte unseren Urlaub in Wernigerode am Harz.
Da es am und nicht im Harz heißt, dachte ich mir: „Schade, dicht daneben!“
Weil es zur damaligen Zeit nicht selbstverständlich war, dass man Unterkunft und Fahrkarten wie gewünscht bekam, gab meine Mutter ihrer Schulfreundin fünf Westmark. Für meine Mutter war das kein großes Opfer, denn sie arbeitete in West-Berlin und verdiente demzufolge Westgeld. Für die Beschenkte hingegen waren fünf DM ein Vermögen. Beim Umtauschkurs von 1 zu 4, der damals galt, waren das immerhin zwanzig Ostmark – ganz abgesehen davon, was man sich in Westberlin alles von fünf DM kaufen konnte.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich dem ganzen Unterfangen einigermaßen skeptisch gegenüberstand. Erstens war ich bis dahin noch nie verreist gewesen und fühlte mich zu Hause eigentlich ganz wohl und zweitens fiel die Reise zeitlich mit meinem zehnten Geburtstag zusammen, sodass ich befürchtete, die Feier und somit die Geschenke könnten mir verloren gehen.
Auch meine Großmutter, die schon 75 Jahre alt war, sollte mit. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel, aber sie wäre ebenfalls viel lieber daheim geblieben.
Trotz aller Bedenken wurde es eines Morgens ernst. Schon tagelang waren zwei Koffer gepackt worden. Diese trug uns ein freundlicher Nachbar aus unserer Wohnung im vierten Stock herunter zu einem bereitstehenden Taxi.
Die Organisation eines Taxis zu dieser Zeit stelle man sich jetzt nicht zu einfach vor. Die Mehrheit der Bevölkerung, zu der wir gehörten, hatte kein Telefon. Hätten wir eines gehabt, hätte uns das in diesem Fall aber auch nichts genützt, denn es gab keine Taxizentrale, bei der man anrufen konnte und die Taxis wären auch gar nicht erreichbar gewesen, denn sie besaßen keine Funkgeräte. Deshalb musste meine Mutter wohl schon im Morgengrauen auf die Straße gegangen sein und solange gewartet haben, bis ein Taxi vorbeigekommen war, das sie anhalten und vor unsere Tür beordern konnte.
Wir fuhren also zum Ostbahnhof. Dort winkte meine Mutter einen Gepäckträger heran, der unser Gepäck gegen Zahlung eines Trinkgeldes bis an den Zug brachte.
Ilse hatte meiner Mutter gesagt: „Das Geld für die erste Klasse kannst du dir sparen – die zweite Klasse ist genauso gut“. Dass dies ein Irrtum war, bemerkten wir, als wir unsere reservierten Plätze gefunden hatten. Wir saßen im wahrsten Sinne des Wortes in der Holzklasse.
Mir machte die Eisenbahnfahrt trotzdem riesigen Spaß, war ich doch bis dahin immer nur mit S- und U-Bahn in Berlin unterwegs gewesen. Besonders interessant fand ich die letzte Etappe. Wir fuhren in den Bahnhof Halberstadt vorwärts ein und rückwärts wieder heraus. Meine Befürchtung, dass wir somit wieder nach Hause fahren würden, bestätigte sich aber glücklicherweise nicht.
Endlich waren wir am Ziel, dem Bahnhof von Wernigerode. Dort sollten wir von dem Vermieter der Ferienwohnung, wie man heute sagen würde, abgeholt werden. Der Herr mit dem seltsamen Namen Pilz glänzte allerdings durch Abwesenheit. Meine Mutter hatte mir bereits zu Hause stundenlang eingebläut, dass man über Namen nicht lacht und ich hatte mir fest vorgenommen, dies zu beherzigen. Eigentlich fand ich den Namen auch gar nicht so lustig.
Als wir eine Weile unschlüssig wartend auf dem Bahnhofsvorplatz herumgestanden hatten, kam plötzlich eine Frau auf uns zu. Sie fragte in einer für mich seltsamen Aussprache: „Worten Sie auf Herrn Bilz?“. Als meine Mutter dies bejahte, fuhr die fremde Dame fort: „Denn gomm Se mol mit mir mit, Se wohnen nämlich bei mir, denn die Bilzens vermieden gor nich mehr seit dies Johr.“
Meine Mutter stellte uns vor und fragte dann die neue Vermieterin nach deren Namen.
„Och so, jo, ich bin de Fra Brihschwein“.
„Frau Brühschwein?“ fragte meine Mutter sicherheitshalber nach.
„Soch ich doch!“, war die Antwort.
Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und prustete los. Meine Mutter warf mir einen strafenden Blick zu, aber meine Oma schaute mich verständnisvoll an, wobei ein kleines Lächeln um ihren Mund spielte.
Frau Brühschwein schien diese Reaktion auf die Nennung ihres Namens gewohnt zu sein und ließ sich nichts anmerken. Sie nahm in jede Hand einen unserer Koffer, sodass wir gar nichts mehr zu tragen hatten und schritt vor uns her in die Stadt. Meine Oma hatte Probleme mit dem vorgegebenen Tempo mitzuhalten und so liefen wir in einem sehr lang gestreckten Gänsemarsch durch Wernigerode. Vorn lief Frau Brühschwein, etwa zehn Meter dahinter liefen meine Mutter und ich und weitere 20 Meter dahinter keuchte meine Großmutter.
Schließlich erreichten wir das angesteuerte Haus. Darin ging es eine Hühnerstiege hoch und im ersten und zugleich obersten Stock waren unsere beiden Zimmer. Das größere Zimmer war mit einem Doppelbett und einigen Wohnzimmermöbeln ausgestattet. Es hatte eine zweite Tür, die auf einen Balkon führte. Nach Überwindung einiger Stolperstellen, bestehend aus Löchern im Betonfußboden und zwei hervor ragenden Balken, gelangte man in ein kleineres Zimmer mit nur einem Bett, einem Nachttisch und einem Hocker. So ähnlich hatte ich mir immer Gefängniszellen vorgestellt. Meine Oma nannte diesen ihr zugedachten Raum vornehm „Alkoven“.
Meine Mutter besprach noch einige Details mit der Vermieterin. Dabei kam heraus, dass die Frühstücksversorgung nicht so, wie gebucht durchführbar war, denn Herr und Frau Brühschwein arbeiteten von morgens bis abends bei der LPG.
„Frieschtick müssen Se sich schon selbor mochen. Se gänn sich jo ne Quiddung gäbn lossen und dann lossen Se sich das Geld vom Reisebüro zurickgäbm“, riet uns Frau Brühschwein.
Gütigerweise wurde uns aber Geschirr in Form von jeweils drei Tellern, Tassen, Untertassen, Messern und Löffeln sowie einer Kaffeekanne und einem Tauchsieder zur Verfügung gestellt. Brötchen und Belag sollten wir uns selber kaufen und Kaffee konnten wir uns brühen. Zum Glück hatte sich meine Mutter nicht auf den vermeintlich angebotenen Ostkaffee verlassen wollen und deshalb vorsorglich ein Pfund Westkaffee in den Koffer gepackt.
Zur Körperpflege gab es eine Porzellanschüssel, in der eine Porzellankanne stand, in welcher sich Wasser befand. Zum Abtrocknen gab es ein Minihandtuch pro Person. Man schüttete sich aus der Kanne etwas Wasser in die Schüssel, dann wusch man sich Gesicht und Hände. Hatte man sich abgetrocknet, schüttete man das Wasser vom Balkon auf den Hof.
Das Frühstück verlief folgendermaßen: Während meine Oma Kaffee kochte, ging meine Mutter mit mir zum Konsum, dem Urahn des heutigen Supermarktes, um täglich Brötchen und je nach Bedarf Marmelade, Butter und Milch zu kaufen. Als meine Mutter nach einer Quittung fragte, schaute der Verkäufer sie nur mitleidig an. Man rechnete damals im Laden noch im Kopf und hatte keine Kasse, aus der ein bedruckter Papierstreifen herauskam. Eine Schrippe – oder Semmel, wie man dort sagte – kostete fünf Pfennig, sodass es müßig war, dafür Belege zu sammeln. Einzig für ein Glas Mehrfruchtmarmelade und ein halbes Pfund Butter bekamen wir eine Quittung.
Als meine Mutter einmal Kopfschmerzen hatte, gingen wir zur Apotheke. Während wir dort anstanden, staunte ich nicht schlecht, als eine Frau vor uns nach etwas zum Spielen fragte. Ich war gespannt was sie bekommen würde, wurde aber enttäuscht, als die Apothekerin ihr nur etwas zum Gurgeln gab. Anscheinend war das Spielzeug ausverkauft.
Wir machten viele schöne Wanderungen zum Christianental und ich konnte mir die Geschichten von Karl May viel besser vorstellen, sah ich doch zum ersten Mal in meinem Leben Berge und Wald. Ich sah förmlich, wie Winnetou und Old Shatterhand durch die Schlucht ritten, in der wir gerade wanderten und wie oben im dichten Gebüsch die feindlichen Krieger der Kiowa lauerten.
Mittags aßen wir meist im Ratskeller in Wernigerode und es gab jeden Tag „Kasper Rippenspeer“ - jedenfalls verstand ich es so. Ich war enttäuscht, dass beim Essen nie Kasperletheater vorgeführt wurde. Außerdem wunderte ich mich über den seltsamen Nachnamen. Aber das Essen war trotzdem nicht schlecht im Ratskeller.
Einmal fiel meine Oma hin, als sie den Balkon überqueren wollte. Abgesehen davon, dass sie sich dabei weh tat, ging auch noch eine Tasse zu Bruch, die sie sich wohl zur nächtlichen Lagerung ihrer Zähne immer mitnahm. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Frau Brühschwein auf und schrie höchst erregt: „Die Dosse bezohln Se mir ober!“ Sie schien wohl kein weiteres Geschirr zu haben, denn während der restlichen Zeit mussten wir uns zwei Tassen teilen. Damals konnte man ja auch nicht einfach in ein Geschäft gehen, wenn man etwas brauchte. Da musste man warten bis mal wieder eine Lieferung mit der gewünschten Ware eingetroffen war und außerdem den Verkäufer gut kennen. Die Versorgung der DDR-Bevölkerung mit den Dingen des täglichen Lebens klappte überhaupt nicht. In dieser Beziehung waren wir Ostberliner sehr privilegiert, denn die Hauptstadt wurde am besten versorgt, war sie doch ein Aushängeschild der gesamten DDR.
Ganz in der Nähe unseres Hauses befand sich ein Bahnhof. Mit der dort verkehrenden Eisenbahn hätte man zum Brocken, der höchsten Erhebung des Harzes fahren können. Leider lag der Brocken aber genau im Grenzgebiet zwischen Ost- und Westdeutschland. Somit war es nicht möglich, spontan mit diesem Zug zu fahren. Vielmehr musste man vier Wochen vor der beabsichtigten Fahrt einen Passierschein beantragen. Ich weiß nicht, ob wir eine solche Erlaubnis bekommen hätten, aber unsere Zeit vor Ort reichte ohnehin nicht für die Beantragung und so musste der Brocken ohne uns auskommen.
Dafür unternahmen wir eine Busfahrt zu den Sehenswürdigkeiten des Harzes. Als wir an der Rosstrappe ausstiegen, stellten wir uns im Halbkreis auf und der Fremdenführer erklärte uns, was es mit diesem Eindruck in das Gestein auf sich hatte. Leider suchten wir alle vergeblich nach diesem Hufabdruck. Erst als der Reiseleiter meine Oma bat, einige Schritte beiseite zu gehen, konnten alle die Rosstrappe sehen, in der meine Oma bis eben gestanden hatte.
Diese Episode wurde bei uns zu Hause dann zu jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt und alle lachten auch nach der zehnten Wiederholung noch darüber.
Schon in der Nacht vor meinem Geburtstag konnte ich kaum schlafen, denn meine Erwartungen an Geschenke waren enorm. Es war immerhin mein zehnter Geburtstag. Zu meiner großen Enttäuschung bekam ich dann jedoch nur ein kleines Holzauto, das nicht schlecht war, aber es war eben das einzige Geschenk. Meine Mutter und Großmutter trösteten mich damit, dass wir doch die schöne Reise machten.
Ich war ausgesprochen enttäuscht und hätte gern auf die Reise verzichtet, wenn ich dafür mehr Spielzeug bekommen hätte. Nun machte mir der Urlaub gar keinen Spaß mehr und ich konnte sein Ende kaum erwarten.
Nach einer Woche fuhren wir zurück nach Berlin. Frau Brühschwein hatte sich extra freigenommen, um uns zum Nachmittagszug zu bringen. Während der Fahrt im D-Zug schaute ich auch wieder interessiert aus dem Fenster. Plötzlich hörte ich jemanden fortwährend rufen: „Platzkarten zum Abendessen!“ Ich schaute hin und sah, dass der Urheber dieser Ansage ein Mann in Eisenbahnuniform war. Soweit ich sah, machte niemand von dem Angebot Gebrauch. Das war logisch, denn obwohl ich wirklich großen Hunger hatte, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Platzkarten zu essen.
Wieder nach Hause zurückgekehrt wurde meine Geburtstagsfeier nachgeholt. Ich bekam noch etliche Geschenke von meinen Verwandten und Freunden und die Welt war wieder in Ordnung.
Das Fazit, das ich aus meiner ersten Reise zog, bestand darin, dass man im Urlaub weit und unbequem fahren muss und dass die Menschen am Urlaubsort anders sprechen und heißen sowie eigenartige Dinge essen. Außerdem stellte ich fest, dass im Urlaub nicht eingeplante Kosten auf die Reisenden zukommen können.
Bei allen Reisen, die ich seitdem unternommen habe, fand ich diese, meine kindlichen Erkenntnisse, immer wieder mehr oder weniger bestätigt.
Meine allererste Reise machte ich im Juli 1958. Meine Mutter war der Meinung, man müsse sich auch mal etwas gönnen, weshalb sie ihre alte Schulfreundin Ilse, die beim Reisebüro arbeitete, bat uns eine Reise zusammenzustellen – egal wohin. Das tat die liebe Freundin dann auch und organisierte unseren Urlaub in Wernigerode am Harz.
Da es am und nicht im Harz heißt, dachte ich mir: „Schade, dicht daneben!“
Weil es zur damaligen Zeit nicht selbstverständlich war, dass man Unterkunft und Fahrkarten wie gewünscht bekam, gab meine Mutter ihrer Schulfreundin fünf Westmark. Für meine Mutter war das kein großes Opfer, denn sie arbeitete in West-Berlin und verdiente demzufolge Westgeld. Für die Beschenkte hingegen waren fünf DM ein Vermögen. Beim Umtauschkurs von 1 zu 4, der damals galt, waren das immerhin zwanzig Ostmark – ganz abgesehen davon, was man sich in Westberlin alles von fünf DM kaufen konnte.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich dem ganzen Unterfangen einigermaßen skeptisch gegenüberstand. Erstens war ich bis dahin noch nie verreist gewesen und fühlte mich zu Hause eigentlich ganz wohl und zweitens fiel die Reise zeitlich mit meinem zehnten Geburtstag zusammen, sodass ich befürchtete, die Feier und somit die Geschenke könnten mir verloren gehen.
Auch meine Großmutter, die schon 75 Jahre alt war, sollte mit. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel, aber sie wäre ebenfalls viel lieber daheim geblieben.
Trotz aller Bedenken wurde es eines Morgens ernst. Schon tagelang waren zwei Koffer gepackt worden. Diese trug uns ein freundlicher Nachbar aus unserer Wohnung im vierten Stock herunter zu einem bereitstehenden Taxi.
Die Organisation eines Taxis zu dieser Zeit stelle man sich jetzt nicht zu einfach vor. Die Mehrheit der Bevölkerung, zu der wir gehörten, hatte kein Telefon. Hätten wir eines gehabt, hätte uns das in diesem Fall aber auch nichts genützt, denn es gab keine Taxizentrale, bei der man anrufen konnte und die Taxis wären auch gar nicht erreichbar gewesen, denn sie besaßen keine Funkgeräte. Deshalb musste meine Mutter wohl schon im Morgengrauen auf die Straße gegangen sein und solange gewartet haben, bis ein Taxi vorbeigekommen war, das sie anhalten und vor unsere Tür beordern konnte.
Wir fuhren also zum Ostbahnhof. Dort winkte meine Mutter einen Gepäckträger heran, der unser Gepäck gegen Zahlung eines Trinkgeldes bis an den Zug brachte.
Ilse hatte meiner Mutter gesagt: „Das Geld für die erste Klasse kannst du dir sparen – die zweite Klasse ist genauso gut“. Dass dies ein Irrtum war, bemerkten wir, als wir unsere reservierten Plätze gefunden hatten. Wir saßen im wahrsten Sinne des Wortes in der Holzklasse.
Mir machte die Eisenbahnfahrt trotzdem riesigen Spaß, war ich doch bis dahin immer nur mit S- und U-Bahn in Berlin unterwegs gewesen. Besonders interessant fand ich die letzte Etappe. Wir fuhren in den Bahnhof Halberstadt vorwärts ein und rückwärts wieder heraus. Meine Befürchtung, dass wir somit wieder nach Hause fahren würden, bestätigte sich aber glücklicherweise nicht.
Endlich waren wir am Ziel, dem Bahnhof von Wernigerode. Dort sollten wir von dem Vermieter der Ferienwohnung, wie man heute sagen würde, abgeholt werden. Der Herr mit dem seltsamen Namen Pilz glänzte allerdings durch Abwesenheit. Meine Mutter hatte mir bereits zu Hause stundenlang eingebläut, dass man über Namen nicht lacht und ich hatte mir fest vorgenommen, dies zu beherzigen. Eigentlich fand ich den Namen auch gar nicht so lustig.
Als wir eine Weile unschlüssig wartend auf dem Bahnhofsvorplatz herumgestanden hatten, kam plötzlich eine Frau auf uns zu. Sie fragte in einer für mich seltsamen Aussprache: „Worten Sie auf Herrn Bilz?“. Als meine Mutter dies bejahte, fuhr die fremde Dame fort: „Denn gomm Se mol mit mir mit, Se wohnen nämlich bei mir, denn die Bilzens vermieden gor nich mehr seit dies Johr.“
Meine Mutter stellte uns vor und fragte dann die neue Vermieterin nach deren Namen.
„Och so, jo, ich bin de Fra Brihschwein“.
„Frau Brühschwein?“ fragte meine Mutter sicherheitshalber nach.
„Soch ich doch!“, war die Antwort.
Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und prustete los. Meine Mutter warf mir einen strafenden Blick zu, aber meine Oma schaute mich verständnisvoll an, wobei ein kleines Lächeln um ihren Mund spielte.
Frau Brühschwein schien diese Reaktion auf die Nennung ihres Namens gewohnt zu sein und ließ sich nichts anmerken. Sie nahm in jede Hand einen unserer Koffer, sodass wir gar nichts mehr zu tragen hatten und schritt vor uns her in die Stadt. Meine Oma hatte Probleme mit dem vorgegebenen Tempo mitzuhalten und so liefen wir in einem sehr lang gestreckten Gänsemarsch durch Wernigerode. Vorn lief Frau Brühschwein, etwa zehn Meter dahinter liefen meine Mutter und ich und weitere 20 Meter dahinter keuchte meine Großmutter.
Schließlich erreichten wir das angesteuerte Haus. Darin ging es eine Hühnerstiege hoch und im ersten und zugleich obersten Stock waren unsere beiden Zimmer. Das größere Zimmer war mit einem Doppelbett und einigen Wohnzimmermöbeln ausgestattet. Es hatte eine zweite Tür, die auf einen Balkon führte. Nach Überwindung einiger Stolperstellen, bestehend aus Löchern im Betonfußboden und zwei hervor ragenden Balken, gelangte man in ein kleineres Zimmer mit nur einem Bett, einem Nachttisch und einem Hocker. So ähnlich hatte ich mir immer Gefängniszellen vorgestellt. Meine Oma nannte diesen ihr zugedachten Raum vornehm „Alkoven“.
Meine Mutter besprach noch einige Details mit der Vermieterin. Dabei kam heraus, dass die Frühstücksversorgung nicht so, wie gebucht durchführbar war, denn Herr und Frau Brühschwein arbeiteten von morgens bis abends bei der LPG.
„Frieschtick müssen Se sich schon selbor mochen. Se gänn sich jo ne Quiddung gäbn lossen und dann lossen Se sich das Geld vom Reisebüro zurickgäbm“, riet uns Frau Brühschwein.
Gütigerweise wurde uns aber Geschirr in Form von jeweils drei Tellern, Tassen, Untertassen, Messern und Löffeln sowie einer Kaffeekanne und einem Tauchsieder zur Verfügung gestellt. Brötchen und Belag sollten wir uns selber kaufen und Kaffee konnten wir uns brühen. Zum Glück hatte sich meine Mutter nicht auf den vermeintlich angebotenen Ostkaffee verlassen wollen und deshalb vorsorglich ein Pfund Westkaffee in den Koffer gepackt.
Zur Körperpflege gab es eine Porzellanschüssel, in der eine Porzellankanne stand, in welcher sich Wasser befand. Zum Abtrocknen gab es ein Minihandtuch pro Person. Man schüttete sich aus der Kanne etwas Wasser in die Schüssel, dann wusch man sich Gesicht und Hände. Hatte man sich abgetrocknet, schüttete man das Wasser vom Balkon auf den Hof.
Das Frühstück verlief folgendermaßen: Während meine Oma Kaffee kochte, ging meine Mutter mit mir zum Konsum, dem Urahn des heutigen Supermarktes, um täglich Brötchen und je nach Bedarf Marmelade, Butter und Milch zu kaufen. Als meine Mutter nach einer Quittung fragte, schaute der Verkäufer sie nur mitleidig an. Man rechnete damals im Laden noch im Kopf und hatte keine Kasse, aus der ein bedruckter Papierstreifen herauskam. Eine Schrippe – oder Semmel, wie man dort sagte – kostete fünf Pfennig, sodass es müßig war, dafür Belege zu sammeln. Einzig für ein Glas Mehrfruchtmarmelade und ein halbes Pfund Butter bekamen wir eine Quittung.
Als meine Mutter einmal Kopfschmerzen hatte, gingen wir zur Apotheke. Während wir dort anstanden, staunte ich nicht schlecht, als eine Frau vor uns nach etwas zum Spielen fragte. Ich war gespannt was sie bekommen würde, wurde aber enttäuscht, als die Apothekerin ihr nur etwas zum Gurgeln gab. Anscheinend war das Spielzeug ausverkauft.
Wir machten viele schöne Wanderungen zum Christianental und ich konnte mir die Geschichten von Karl May viel besser vorstellen, sah ich doch zum ersten Mal in meinem Leben Berge und Wald. Ich sah förmlich, wie Winnetou und Old Shatterhand durch die Schlucht ritten, in der wir gerade wanderten und wie oben im dichten Gebüsch die feindlichen Krieger der Kiowa lauerten.
Mittags aßen wir meist im Ratskeller in Wernigerode und es gab jeden Tag „Kasper Rippenspeer“ - jedenfalls verstand ich es so. Ich war enttäuscht, dass beim Essen nie Kasperletheater vorgeführt wurde. Außerdem wunderte ich mich über den seltsamen Nachnamen. Aber das Essen war trotzdem nicht schlecht im Ratskeller.
Einmal fiel meine Oma hin, als sie den Balkon überqueren wollte. Abgesehen davon, dass sie sich dabei weh tat, ging auch noch eine Tasse zu Bruch, die sie sich wohl zur nächtlichen Lagerung ihrer Zähne immer mitnahm. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Frau Brühschwein auf und schrie höchst erregt: „Die Dosse bezohln Se mir ober!“ Sie schien wohl kein weiteres Geschirr zu haben, denn während der restlichen Zeit mussten wir uns zwei Tassen teilen. Damals konnte man ja auch nicht einfach in ein Geschäft gehen, wenn man etwas brauchte. Da musste man warten bis mal wieder eine Lieferung mit der gewünschten Ware eingetroffen war und außerdem den Verkäufer gut kennen. Die Versorgung der DDR-Bevölkerung mit den Dingen des täglichen Lebens klappte überhaupt nicht. In dieser Beziehung waren wir Ostberliner sehr privilegiert, denn die Hauptstadt wurde am besten versorgt, war sie doch ein Aushängeschild der gesamten DDR.
Ganz in der Nähe unseres Hauses befand sich ein Bahnhof. Mit der dort verkehrenden Eisenbahn hätte man zum Brocken, der höchsten Erhebung des Harzes fahren können. Leider lag der Brocken aber genau im Grenzgebiet zwischen Ost- und Westdeutschland. Somit war es nicht möglich, spontan mit diesem Zug zu fahren. Vielmehr musste man vier Wochen vor der beabsichtigten Fahrt einen Passierschein beantragen. Ich weiß nicht, ob wir eine solche Erlaubnis bekommen hätten, aber unsere Zeit vor Ort reichte ohnehin nicht für die Beantragung und so musste der Brocken ohne uns auskommen.
Dafür unternahmen wir eine Busfahrt zu den Sehenswürdigkeiten des Harzes. Als wir an der Rosstrappe ausstiegen, stellten wir uns im Halbkreis auf und der Fremdenführer erklärte uns, was es mit diesem Eindruck in das Gestein auf sich hatte. Leider suchten wir alle vergeblich nach diesem Hufabdruck. Erst als der Reiseleiter meine Oma bat, einige Schritte beiseite zu gehen, konnten alle die Rosstrappe sehen, in der meine Oma bis eben gestanden hatte.
Diese Episode wurde bei uns zu Hause dann zu jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt und alle lachten auch nach der zehnten Wiederholung noch darüber.
Schon in der Nacht vor meinem Geburtstag konnte ich kaum schlafen, denn meine Erwartungen an Geschenke waren enorm. Es war immerhin mein zehnter Geburtstag. Zu meiner großen Enttäuschung bekam ich dann jedoch nur ein kleines Holzauto, das nicht schlecht war, aber es war eben das einzige Geschenk. Meine Mutter und Großmutter trösteten mich damit, dass wir doch die schöne Reise machten.
Ich war ausgesprochen enttäuscht und hätte gern auf die Reise verzichtet, wenn ich dafür mehr Spielzeug bekommen hätte. Nun machte mir der Urlaub gar keinen Spaß mehr und ich konnte sein Ende kaum erwarten.
Nach einer Woche fuhren wir zurück nach Berlin. Frau Brühschwein hatte sich extra freigenommen, um uns zum Nachmittagszug zu bringen. Während der Fahrt im D-Zug schaute ich auch wieder interessiert aus dem Fenster. Plötzlich hörte ich jemanden fortwährend rufen: „Platzkarten zum Abendessen!“ Ich schaute hin und sah, dass der Urheber dieser Ansage ein Mann in Eisenbahnuniform war. Soweit ich sah, machte niemand von dem Angebot Gebrauch. Das war logisch, denn obwohl ich wirklich großen Hunger hatte, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Platzkarten zu essen.
Wieder nach Hause zurückgekehrt wurde meine Geburtstagsfeier nachgeholt. Ich bekam noch etliche Geschenke von meinen Verwandten und Freunden und die Welt war wieder in Ordnung.
Das Fazit, das ich aus meiner ersten Reise zog, bestand darin, dass man im Urlaub weit und unbequem fahren muss und dass die Menschen am Urlaubsort anders sprechen und heißen sowie eigenartige Dinge essen. Außerdem stellte ich fest, dass im Urlaub nicht eingeplante Kosten auf die Reisenden zukommen können.
Bei allen Reisen, die ich seitdem unternommen habe, fand ich diese, meine kindlichen Erkenntnisse, immer wieder mehr oder weniger bestätigt.
Eine Geschichte, die Lust auf mehr macht!