Aus alten Zeiten …
Ich saß an diesem himmelblauen Tag in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, schaute interessiert den Hausrotschwänzen zu, die losgelöst von allen Sorgen des täglichen Lebens durch die Zweige des Schmetterlingsflieders huschten. Dieses Pärchen wohnte seit einigen Tagen in unserer Garage. Seit sie sich durch das offene schmale Fenster in die Garage eingeschlichen hatten, gehörte dieser Teil des Hauses nun dem Leben dieser kleinen Mitbewohner. Anscheinend sagte ihnen dieser ungemütliche Ort zu; in einer Ecke des dort angebrachten Regals beschlossen sie, ihr Nest einzurichten!
Seitdem stand unser Wagen nun draußen vor dem Garagentor, wir hatten entschieden, diesen gefiederten Untermietern keinesfalls eine Kündigung zuzusenden. Sie waren eine Bereicherung unseres Tagesablaufs; in der Frühe schauten wir zuerst ganz vorsichtig durch einen Türspalt, ob dort bei unseren neuen Freunden alles in Ordnung war.
Der Tag schlich ohne besonderes Ereignis vor sich hin, die Sonne schickte schon früh ihre Kraft geballt zur Erde. Im Hause war es bedeutend angenehmer als in der freien Natur, so versuchte ich irgendwie, den Tag sinnvoll zu gestalten. Marie hatte, als sie heute früh auf eine Kurzreise ging, mir zwar einige Aufgaben zugeteilt, die ich - wenn ich Lust hätte - ausführen könnte. Da erhob sich danach die Frage: Habe ich Lust? Meine interne Antwort hieß eindeutig: Nein!
So kam es dann seltsamerweise, dass ich mich auf dem Dachboden wiederfand, den ich schon lange nicht mehr betreten hatte. Dank guter Isolierung war es dort ganz gut auszuhalten. Beim Herumkramen fand ich dann, versteckt in einer Ecke, einen alten Pappkoffer, der sicher schon lange Zeit auf seine Entdeckung gewartet hatte. Du kennst diese alten Koffer noch? Es war so eine Art von »Hartschale«, die diese Kriegsware so überaus vielfältig unter der Bevölkerung verbreitet hatte, eine Presspappe, die unter Zumischung anderer Bestandteile als Lederersatz diente. Jedenfalls war diese Art Koffer weit verbreitet.
Tante Ursula hatte bei ihrem Ableben noch viel Trödelkram auf dem Speicher liegen. Als ich seinerzeit ihr Haus übernahm, freute ich mich schon lange vorher wie ein kleiner Junge auf die Schätze, die dort zu entdecken waren. Nun gut, Schätze waren es nicht gerade, die ich fand, dennoch konnte ich etliche interessante Funde machen, die zum Teil zwei Weltkriege
überstanden hatten und nun archaische Erkenntnisse an den Tag brachten.
So lag dort unter anderem ein alter, verrosteter Karabiner K98 von 1906 in einer alten Kiste, der Kolben war angebrochen - warum das alte Ding dort von der guten Tante aufbewahrt wurde, entzog sich meiner Kenntnis. Onkel Albert, ihr Mann, hatte seine Waffe wohl 1918 aus unerfindlichen Gründen aus dem Krieg mit nach Hause gebracht und dort oben deponiert.
Aber ich wollte ja von dem Koffer erzählen, der so viele Dinge enthielt, die mich zum Nachdenken brachten. Obenauf lag eine Mädchen-Turnhose mit dem Emblem der Hitlerjugend auf einem Bein, das Besondere an diesem Glanzstück aber war der Beinabschluss mit Gummiband! So etwas würde heute wohl kein weibliches Wesen mehr anziehen!
Als Nächstes fand ich einen dicken Schmöker, in Leder eingebunden, »Unser Deutsch-Ost-Afrika!« Interessant die Schwarz-Weiß-Fotos in diesem Band, auf der ersten Seite der General v.Lettow-Vorbeck wie ein Pascha in entsprechender Pose mit den Daumen hinter dem Koppelschloss. Hinter ihm stolz aufgereiht seine »Askaris«, die schwarzen Hilfssoldaten der Deutschen, in fast ebensolcher Positur.
In einer Ecke des Koffers lag ein altes Springseil für Kinder, die Schnur ausgefranst, mit Holzgriffen, die einst bunt bemalt waren. Wie viele Mädels damit wohl ihre kunstfertigen Übungen vollbracht hatten?
Ich kramte weiter in dieser kostbaren Schatzkiste, eine riesige Pappschachtel, mit einem blauen Seidenband umwickelt, erblickte nach vielen, vielen Jahren wieder das Licht der schnöden Welt! Als ich sie öffnete, kam mir die diese ganze Welt in Form von unzähligen farbenfrohen Briefen entgegen. Jeder Brief war sorgsam in seinem Umschlag verstaut worden, so war es nicht schwierig, die jeweiligen Absender zu ermitteln.
Den ganzen Nachmittag vergrub ich mich in diesen alten Briefen und handschriftlichen Aufzeichnungen, vergaß Essen und Trinken, die Zeit und mit ihr die reale Welt. Die Vergangenheit von völlig unbekannten Menschen hatte mich so in ihren Bann gezogen, dass ich kaum aufblickte. Irgendwann aber musste ich doch einmal eine Pause einlegen. Ich fand es aber ganz tröstlich, dass ich ja morgen weiterforschen konnte.
Als ich nachmittags schweren Herzens den Koffer zur Seite stellte, hatte es ein ganz kleiner und bescheidener Brief geschafft, dass ich ihn mit in mein Arbeitszimmer nahm. Dieser Brief hatte kein Kuvert mehr, er war wohl so einfach zwischen die anderen geraten. Das Datum dieses Briefes, 1.Juni 1913, machte mich doch sehr nachdenklich. Es war ein weißer, schon vergilbter Bogen aus Büttenpapier, auf dem anscheinend ein Kind in krakeliger Sütterlinschrift seine Worte zu Papier gebracht hatte. Ich konnte einfach meine Blicke nicht von diesen Zeilen lassen, sie berührten meine Seele!
»Mein lieber Fritz«, stand da, mal groß, mal klein geschrieben, reichlich mit Tintenklecksen versehen, »die Bäume sind nun schon kahl geworden. Weißt Du noch, wie wir hier immer gespielt haben? Schade, wir spielen nicht mehr Räuber und Gendarm. Und die Liese hat sich beim Galoppieren das rechte Vorderbein gebrochen, sie mussten sie erschießen. Tante Hannchen hat Zahnweh, sie läuft immer mit ihrem Taschentuch herum. Papa ist auf Jagd gegangen. Jetzt weiß ich nichts mehr, mir geht es gut. Schreib bald zurück und bleib gesund.
Dein Bruder Paulchen
Ich war erschüttert. Fritz hieß mein Großvater, ich weiß nicht, ob er einst der Empfänger dieses Briefes war. »Die Bäume sind nun kahl!« Dieser Satz ließ mich den Brief still weglegen, meine Gedanken gingen auf die Reise, über hundert Jahre rückwärts in eine Zeit, die viele Leute später »die gute, alte« nannten!
Kann ja möglich sein, dass sie es wirklich war, jedenfalls für alle, die damals Kinder waren und nicht wussten, welche unheilvollen Erlebnisse noch auf sie warteten. Wir heutigen Menschen denken auch immer noch, dass es »früher« alles besser war.
Möge uns dieser Kinderglaube erhalten bleiben, er hilft oft, schwierige Lagen zu überstehen …
Kommentare (3)
Ähnlich wie Roxanna bin ich an Deiner neu eingestellten Geschichte hängen geblieben und hab sie sehr gern gelesen, lieber Pan.
Ich habe auch vor 2 Jahren eine kleine Wohnung in meinem Elternhaus verkauft. Aber auf dem Dachboden fanden sich keine alten Koffer mit vielen interessanten Geschichten, weil es viele Wohnungen beherbergt und erst 1956 erbaut wurde. Auch in meinem eigenen Haus habe ich keine alten Geschichten finden können, eher vermisst, weil niemand mir sagen kann, wo gesuchte Dinge abgeblieben sind ...
Ich fände es herrlich, käme - wie Du - wohl stundenlang gar nicht vom Dachboden wieder herunter, würde ebenso essen und trinken vergessen, weil die Atmosphäre der alten Dinge die Menschen gefangen nimmt, in ihre Vergangenheit mitnimmt.
Dafür dürften meine Kinder, mein Enkel Fotos finden, aus einer Zeit, von der sie eher annehmen, dass es damals kaum private Fotos gab.
Als Uniformschneider um die vorletzte Jahrhundertwende hatte mein Großvater (er verstarb bereits vier Wochen nach der Geburt meines Vaters 1911) tatsächlich einmal "Werbefotos" von sich und seiner Frau, meiner Großmutter, anfertigen lassen. Wo meine Schwester die einmal aufgetrieben hatte, kann ich nicht nachvollziehen.
Danke für diese Deine Erinnerung, der wir alten Menschen auch ganz gern nachhängen ...
lichen Dank und Gruß von Uschi
Eigentlich wollte ich mich gerade ausloggen, lieber Pan, als ich gesehen habe, dass du eine Geschichte eingestellt hast. Deine Geschichten habe ich immer gerne gelesen, weil sie auf eine Weise geschrieben sind, die mich berührt und so bin ich noch ein Weilchen geblieben. Was für ein Schatz wurde da gefunden und jeder Gegenstand hätte Geschichten erzählen können. Es geht nahe, wenn man mit Dingen in Berührung kommt, die einmal Menschen gehört haben, die uns nahestanden. Ja, sie haben eine gewisse Faszination, der man sich nicht entziehen kann. Und Briefe sind noch einmal etwas ganz besonderes, denn sie erzählen ja wirklich. Man kann lesen, was Menschen früher erlebt haben und was sie berührt hat. Ich habe einen Liebesbrief meines Großvaters an meine Großmutter. Ihn selber habe ich gar nicht persönlich gekannt, weil er lange vor meiner Geburt verstorben ist. Aber durch diesen Brief ist er mir nahegekommen.
Herzlichen Dank für diese schöne Geschichte und liebe Grüße von
Brigitte
Erinnerungen sind wie der Wind, sie kommen und gehen, verweilen kurz und ziehen weiter. Wir Menschen speichern so manches, irgendwann ist es verschwunden, aber nicht verloren. Ein kleiner Windhauch bringt alles wieder an die Oberfläche unseres Daseins!
Wie schön ist es doch, wenn man so etwas aufgreifen kann - und sich dran erfreuen ...
Grüße von Pan