Auch eine Weihnachtsgeschichte


Auch eine Weihnachtsgeschichte


Die letzte Kriegsweihnacht 1944 in Ostpommern, drei Monate vor dem Eintreffen der Roten Armee in meiner Heimatstadt. Zu den Weihnachtstagen wurden auf den Lebensmittelkarten K und Jgd (Kinder und Jugendliche) pro Person 125 g Süßwaren aufgerufen, d. h. diese Waren durften zusätzlich zur normalen Ration gekauft werden. Es war meist bunter Zucker-Baumbehang. Für alle Kinder in jener Zeit eine Köstlichkeit! Zum »bunten Teller« kam dann noch selbstgebackener Lebkuchen - bei uns Pfefferkuchen genannt - der von der Mutter aus sorgsam gehorteten Lebensmitteln gebacken wurde; irgendwoher kamen da auch die Gewürz-Zutaten her.
Marzipan-Ersatz stellte Mutter selbst her aus Gries, Puderzucker, Bittermandelaroma, Rosenöl (wo immer sie das hernahm) und gespartem Kakaopulver, das ebenfalls selten zu bekommen war! Aber auch das Plätzchenbacken kam nicht zu kurz. In Ermanglung eines eigenen Backofens - es gab nur 2 Std. täglich Strom - wurden große Backbleche zum Bäcker gebracht, der sie dann für ein geringes Entgelt in den Backofen schob.
      Am 24. Dezember holten Mutter und ich morgens die Plätzchen und Lebkuchen vom Bäcker ab.
 Bleche waren vom Bäcker ausgeliehen) Es waren mehrere große Bäckerbleche voll Gebäck, welch ein Schatz. Einige von meinen Freunden halfen dabei kräftig mit. Da wir schon seit Anfang Oktober Zwangsferien hatten, war Zeit genug dafür. [Diese ›Ferienzeit‹ dauerte dann auch bis zur Flucht aus der Heimat im März ’45. Unsere Schule war seit dem September als Lazarett für verwundete Soldaten eingerichtet worden].
Nachdem dann alles zu Hause abgeliefert war - mit entsprechender Belohnung für die fleißigen Freunde - wollte ich nochmals zur Schule gehen. Ich war dort von der DJ eingeteilt als Helfer für behinderte Verwundete. Auf dem Weg dorthin begegnete mir ein endloser Flüchtlingstreck aus verschiedenen ostpreußischen Landschaften. Dieser Treck machte dort bei uns an der Durchgangsstraße Zwischenaufenthalt. So etwas hatte ich noch nie gesehen! An Hand kleiner Schilder an den Treckwagen konnte ich die Herkunft dieser Flüchtlinge feststellen.
Da standen Namen wie Goldap, Insterburg, Allenstein, Lötzen, Eylau und viele andere, die ich bisher nur vom Schulatlas kannte. Ich wusste nur, dass diese Orte weit im Osten lagen. Aus Gesprächen bekam ich dann auch mit, dass diese Flüchtlinge schon sechs Wochen unterwegs waren! Ich konnte da noch nicht
ahnen, dass meine kleine Familie bald selbst auf gleichem Wege unterwegs sein würde.
Völlig verwirrt lief ich wieder zurück nach Hause, berichtete dort meiner Mutter von diesen Vorgängen. Sie war seltsamerweise gar nicht überrascht! Sie packte die Hälfte der frischgebackenen Kuchen und Plätzchen in eine große Badewanne, setzte diese auf einen Kinderschlitten und ab ging die Post durch den frisch gefallenen Schnee zu diesen Treckwagen. Wir beide verteilten dann entlang des Wagenzuges die frischen Leckereien. Die Freude dieser Menschen, die wochenlang unterwegs waren, war unbeschreiblich!
Nachdem wir danach wieder zu Hause waren, liefen wir treppauf, treppab durch alle Häuser der Straße und fragten überall nach Kinderspielzeug, das nicht mehr gebraucht wurde. Es war ein überwältigender Erfolg! Viele unserer Nachbarn schlossen sich dabei dieser Aktion an und so konnten wir alle gemeinsam zwei Stunden später mit kleinen Gaben beladen zu dem Treck zurückkehren, der dort immer noch Station machte.
Die Kinder dieser ostpreußischen Familien hatten durch solch ein Beispiel von Menschlichkeit ein winziges Stück Weihnacht erhalten. Selbst die abgemagerten Pferde der Treckwagen kamen nicht zu kurz. Die in der Nähe ansässigen Ackerbürger brachten Heu und Stroh, sogar Hafer, für die Tiere zum Verteilen!
Und das Schöne an diesem Tage: Weihnachten bekam dadurch ein Stückchen des Glanzes, das Christi Geburtstag so unnachahmlich macht: gelebte Menschlichkeit.
Es war ein Weihnachtsfest, an das ich mich immer wieder erinnere. Es gab danach noch etliche Feste, die in meiner Erinnerung eine Rolle spielten, diese Tage jedoch haben sich eingebrannt als Fanal der Nächstenliebe. Ohne Fragen und Nachdenken teilte die Mama das Wenige mit den damals ärmsten Menschen auf der Flucht.
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Drei Monate später aber waren auch wir unterwegs in jener mitleidslosen Zeit ...



~~ ©by H.C.G.Lux  ~~


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Kommentare (6)

ehemaliges Mitglied

Fast ist es mir unmöglich, lieber Horst, zu Deiner Weihnachtsgeschichte etwas zu schreiben. So viel unsägliches Leid, nur ein viertel Jahr, nachdem ich auf die Welt kam. Es muss für die Flüchtigen wirklich ein unglaubliches Ereignis gewesen sein, was sie durch Deine Mutter, Dich und Nachbarn erleben durften.

Es hat mich als Schulkind später schon heftig erschüttert, als ich irgendwann von solchen Trecks Bilder sah, dazu Texte las. Wie schlimm das gewesen sein muss, kann sich sicher niemand vorstellen, der es nicht am eigenen Leib erlebte.

In späteren Schuljahren hatte ich eine Freundin, die bei guten Bekannten öhne ihre Eltern lebte, weil sie dort die Möglichkeit hatte, unsere Schule zu besuchen. Welche Irrwege sie bis zu uns gehen musste, aus dem fernen Riga an der Ostsee, ist mir nicht bekannt. Es gab auch noch ein weiteres Mädchen, das wohl irgendwo aus Ostpreußen kam. Aber auch das erfuhr ich erst 2011, als ich meine Mitschülerinnen suchte, um nach 50 Jahren ein Klassentreffen zu organisieren.

Es war eine fürchterliche Zeit, die wohl niemanden, der sie so hart erlebte wie auch Du, je vergessen wird.

Ich wünsche Dir eine gesegnete Weihnacht

Uschi 

ladybird

Lieber Horst,
Du erzählst von einem ganz besonderen, ganz anderen Weihnachten....
es ist zu bewegend, um noch mehr Worte zu finden, sondern nur ein inniges DANKE für damals und heute, indem Du diese Erinnerung mit uns teilst
herzlichst
Renate

Distel1fink7

Ein sehr berührendes Erlebnis und von Euch eine kleine Heldentat, die
stillen Helden. Darüber wird viel zu wenig berichtet. Diese kleinen Dinge
könnten die Sicht auf die damalige Bevölkerung positiv beeinflussen.
Viele kleine Geschichten backen zwar keine  Plätzchen können aber
eine große Geschichte machen,.IMG-20180122-WA0003.jpg
 

Pan

Ich muss noch einen Zusatz hinzufügen:
Auch ich hatte mehrfach die Möglichkeit, nach -zig Jahren meine Heimatstadt "Stolp/Pom." wiederzusehen!
Es war mir nicht möglich. Meine Emotionen waren unüberwindlich, zumal beide Großeltern beim Einzug der polnischen Milizen ihr Leben lassen mussten!
Aus diesem Grund kam es nie zu einem Wiedersehen. so dass ich sogar einen bereits gebuchten Aufenthalt wieder stornierte ...!
~Horst~

Syrdal



Lieber Pan, bei den Leuten aus Goldap war möglicherweise meine frühere Frau – damals noch keine drei Jahre alt – mit dabei. Sie ist 1942 in Goldap geboren und musste 1944 mit der Mutter und Großmutter von dort fliehen. Alles was sie noch aus der Heimat besaß und liebevoll gehütet hat, war eine kleine Stoffpuppe, die sie nie aus der Hand gegeben hat. – Was muss diese kleine Puppe wohl alles an Tränen und Worten „erlebt“ haben?!
Erst im vergangenen Jahr – nun weit über 70 und nicht mehr gesund – konnte sie mit unserer Tochter zusammen ihren Geburtsort aufsuchen und hat sogar ihr Geburtshaus finden können…

Stellvertretend sage ich dir für den Liebesdienst damals an den Flüchtlingen aus dem Osten sehr herzlich danke. Vielleicht war ja auch die kleine Stoffpuppe ein Geschenk aus eurer spontanen Aktion, wer weiß...
Syrdal
 

Pan

Lieber Syrdal - danke für diese überzeugende Erwähnung!
Vor 75 Jahren war ich gerade 11, da sah die Welt ein bißchen(!) anders aus. Die Mitmenschlichkeit allerdings hatte größere Anteile am Überlebenswillen der Menschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland. Die, welche überlebten, fassten dann neuen Mut und halfen dann entscheidend mit, unser Land wieder aufzubauen.
Das wird von der heutigen Generation leider vergessen ...  
Ich danke Dir -
mit nachdenklichem Lächeln -
Horst


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