5. GESCHICHTE

RABENELTERN ?

Sie stolzieren auf dem Gehsteig
wie würdige, alte Herren - und sehen ganz hübsch aus,
in ihrem glänzend schwarzen Federkleid, aber
wenn sie den Schnabel öffnen
ertönt ein vollkommen unmelodisches : Krah !!!
oder, je nach Veranlagung : Kroh !!!
Im späten Winter baute ein Elsternpaar
hoch oben in der Platane sein Nest,
rührig, fleißig, filigran,
immer auf Distanz beobachtet von Herrn Krah und Frau Kroh!
Wie erwartet, kaum war es fertig, gabs ein Riesengezanke
zwischen beiden Paaren, doch die Caperung mißlang,
es wurde ein Sommer der Elstern.
Leider rissen die Herbststürme
das feine Gebilde aus der Verankerung -
die Elstern kamen nicht wieder;
aber statt dessen bastelte der Rabenvater im Jahr darauf
aus Stöckchen, die er von der Platane abzwackte,
etwas ganz kompaktes - eine Art: Rabenritterburg
in einer passenden Astgabel
und seine Herzensdame fand es wunderschön,
zog ein und begann, zu brüten.
Sich abwechselnd, breiteten die Rabeneltern
schützend die Flügel über das Nest,
nie flogen sie das Nest ohne Begrüßungsruf an,
nahmen geduldig am Nestrand Platz,
bis der gerade Brütende sich gemächlich erhob.
Man konnte schon ein ganz leises Piepsen hören
und ich habe mich darauf gefreut,die ersten Flugversuche
der winzigen Huckebeins zu beobachten.
Aber bald darauf kamen einige eisige Nächte
und es wurde still dort oben, sehr still.
Dann, nach einigen Tagen, blieb das schwarze Paar aus,
kam nicht wieder.
Alle kleinen Sänger geben ihr Konzert
in der alten Platane,
aber, zwei Stimmen, die einst so störend waren,
fehlen im Orchester.
Manchmal
seh ich sie noch auf dem Gehsteig -
still tragen sie ihr Trauergewand.

selena