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THEMA:   Fontane - ein großer Name...

 107 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 09.01.05 (16:23) :

F o n t a n e – ein großer Name...
Ich sammle gerne Poetisches – auch über Poeten.
So auch über Theodor Fontane. Also: Anekdoten, Erinnerungen, Gedichte, Beschreibungen, Aufsätze, Parodien – gar Balladen über Fontane?
*
Heinrich Böll:
Ein Pfirsichbaum in seinem Garten stand

Besondere Umstände zwingen mich, ein Geheimnis preiszugeben, das ich bis ans Ende meines Lebens hatte hüten wollen: Ich bin Mitglied eines Vereins, besser gesagt eines Geheimbundes, obwohl ich geschworen hatte, niemals einer solchen Institution beizutreten. Es ist mir sehr peinlich, aber sowohl die Not der heranwachsenden Jugend wie der tödliche Ernst, mit dem mein Nachbar seine Pfirsiche bewacht, veranlassen mich zu diesem Geständnis, das ich nur errötend vorbringe. Ich bin Ribbeckianer - und den Statuten unseres Vereins gemäß nehme ich Tinte, Feder und Papier, schlage mein altes Schullesebuch auf und fange an zu schreiben: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand ... Es ist wohltuend, einmal mit der Hand zu schreiben, es fördert die Geduld, zwingt mich, das Gedicht langsam und genau durchzulesen, und dieses wiederum zwingt mich zum Lächeln, und es schadet durchaus nichts, hin und wieder zu lächeln. Langsam also schreibe ich die Ballade ab und knalle den Stempel darunter, den wir - die Mitglieder des Bundes der Ribbeckianer - uns anzuschaffen verpflichtet sind: „Treten Sie unserem Verein bei! Wir verpflichten Sie zu nichts. Sie haben nur das beiliegende Gedicht zehnmal abzuschreiben und an Leute zu verschicken, die Obstbäume besitzen. Sie dürfen sich dann Ribbeckianer nennen, eine Auszeichnung, die Sie hoffentlich zu würdigen wissen.“
Ich schreibe die Adresse meines Nachbarn auf einen Briefumschlag, klebe Porto drauf und begebe mich zum Briefkasten. Aber der Briefkasten hängt genau am Gartenzaun dieses Nachbarn, und wie ich das gelbe Maul des Briefkastens aufklappe, sehe ich ihn dort stehen, meinen Nachbarn, auf einer Leiter, mit ausgestrecktem Zeigefinger, Pfirsich um Pfirsich betupfend. Kein Zweifel, er zählt sie! Am anderen Morgen stehen wir nebeneinander, mein Nachbar und ich, und warten auf den Briefträger, diesen viel zu schlecht bezahlten Cherub, den nicht einmal die offenbaren Plattfüße seines Charmes berauben können.
Mir erscheint der Nachbar noch gelber im Gesicht, seine Lippen zittern, und die roten Äderchen in seinen Augen lassen auf eine schlaflose Nacht schließen.
„Es ist unbeschreiblich“, sagt er zu mir, „wie der Verfall der Sitten zunimmt. Die heutige Jugend: nur Diebe und Räuber. Was soll das werden?“
„Es wird eine Katastrophe geben.“
„Nicht wahr, Sie finden es auch?“
„Natürlich, das kann ja gar nicht gut gehen. Wir treiben unweiger­lich dem Abgrund zu. Diese Verwahrlosung, diese Genußsucht.“
(...)
(Teil 2 folgt...)
*
URL - Gestaltung eines Birnbaums an einer Theodor-Fontane-Grundschule

Internet-Tipp: https://home.t-online.de/home/Th.-Fontane-G.cids/Tonfigur_Fontane.jpg


 iustitia antwortete am 09.01.05 (16:30):

Böll:.. Pfirsichbaum... (als Hommage an Fontane)
2. Teil (Abschluss):

„Keine Achtung vor dem Gut fremder Menschen! Man müßte ... aber die Polizei weigert sich einzugreifen. Stellen Sie sich vor. Gestern abend hatte ich noch einhundertfünfunddreißig Pfirsiche auf dem Baum - und heute morgen - raten Sie? „Hundertzweiuinddreißig?“
„Sie Optimist - hundertdreißig. Fünf reife Pfirsiche! Stellen Sie sich vor. Mir graut's.“
„Sack und Asche - es wird uns nichts anderes übrigbleiben. Die guten Sitten sind hinüber. Es kommen Zeiten herauf...“
Aber der herannahende Briefträger enthebt mich der Verpflichtung, den Satz zu beenden. Der Brief, den ich gestern in den Kasten geworfen habe, beendet seinen Kreislauf und gelangt über den Briefkastenleerer, den Sortierer und Briefträger in die Hände meines Nachbarn.
Für mich war keine Post da. Wer wird mir schon schreiben? Bin ich doch nicht einmal ein aktiver, sondern nur ein passiver Ribbeckianer, denn ich besitze keine Obstbäume, nicht einmal einen Johannisbeerstrauch, und der einzige, der meinen Namen kennt, ist der Kolonialwarenhändler an der Ecke, der mir nur zögernd Kredit gewährt, betrübten Auges Konsumbrot, Margarine und Feinschnitt in meiner Tasche verschwinden sieht und mir beharrlich einen Kredit auf richtige Zigaretten und Rotwein verweigert. Aber es wird Zeit, das Gesicht meines Nachbarn zu beobachten: er hat den Brief geöffnet, die Brille aufgesetzt und stirnrunzelnd zu lesen begonnen: er liest, liest, und ich wundere mich, wie lang diese Ballade ist. Vergebens warte ich auf das Lächeln in seinem Gesicht: nichts, es kommt nichts. Offenbar ein Mensch, der weder literarisch ansprechbar ist noch Humor hat. Er setzt seine Brille ab, als habe er irgendeine belanglose Drucksache gelesen, faltet den Brief, öffnet ihn wieder, langt ihn über den Zaun zu mir und sagt: „Hören Sie, Sie sind doch ... na ... was war es denn noch?“
„Schriftsteller“, sage ich.
„Natürlich. Sehen Sie doch mal, was - ist denn das?“
Ich erschrak ein wenig, als ich so plötzlich meine eigene Handschrift sah. Vielleicht, denke ich, ist er ein Mensch, der nur akustisch zu erreichen ist, den Reizen des Visuellen verschlossen. Und ich beginne laut zu lesen:
„Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
ein Birnbaum in seinem Garten stand ...“
„Ach, ich weiß schon, was drin steht!“
„Haben Sie auch den Stempel unten gesehen? Es ist ein Stempel drunter: Treten Sie unserem Verein bei...“
„Ich weiß, ich weiß“, sagt er ungeduldig, und das Gelb in seinem Gesicht wird um einen Ton dunkler, „aber das ist doch sinnlos, mir so etwas zu schicken, wo ich nur den Pfirsichbaum habe. Es ist doch was mit Birnen. Womit die Leute ihre Zeit verschwenden!"
Grußlos schlurfte er nach hinten auf seinen Beobachtungsposten, von wo er seine Pfirsiche bewacht.
Ach so, dachte ich, und ich faltete meinen Bogen zusammen, und ich überlege nun, ob ich um eine Änderung der Statuten unseres Vereins ersuchen soll. Allerdings würde die Ballade ihre Melodie verlieren, denn es gibt nur wenige einsilbige Früchte.
(Aus: H.B.: Mein trauriges Gesicht. Humoresken und Satiren. Reclam 1988. S. 169-171)
*
URL - Fontane, eigenhändig...

Internet-Tipp: https://www.zum-ribbeck.de/mediac/400_0/media/ribbeck.jpg


 iustitia antwortete am 09.01.05 (20:44):

Das ist Fontane, original, nicht über ihn. Aber es ist so schön!
*
Theodor Fontane: Toast auf Klaus Groth
Zum 25. September 1878

Vördem bi minen Balladenkroam
Mit all de groten schott'schen Noam:
Percy und Douglas un noch manch een
(All mit Is'n uppn Kopp un mit Is'n an de Been),
Doa wührd mi de Bost so wied, so wied,
Un ick schreew denn wull sülwer en Percy‑Lied.

So gung dat männig, männig joahr,
Awers as ick so rümmer um fortig woar,
Doa seggt ick mi: »Fründ, si mi nicht bös,
Awers all dat Tüg is to spektakulös;
Wat süll all de Lärm? Woto? Upp min Seel,
Dat allens bummst un klappert to veel;
Ick bin mihr för allens wat lütt un still,
En beten Beschriewung, en beten Idill,
Wat läuschig is, dat wihr so mine Oart,
Dat Best bliewt doch ümmer dat Menschenhart.«

So seggt ick mi; annwurten deed ick nix,
Awers all mine Ritters, de noahm ick fix,
Un ehr Schillen un Speeren noahm ick dato
Un packt allens in, un schlott denn to,
Un in'n Kasten liggen se noch péle méle,
Un vörbi wihr nu dat Puppenspeel.

Dat Puppenspeel, joa! Awers »min Jehann«,
Dat richtige Lewen dat fung nu ihrst an,
Un ick hürte nu blot noch, wat sünsten ick mied:
Dat Mignon‑ un dat Harfner‑Lied; ‑
Doa hat ick dat B e s t e för dat, wat grot,
Hatte Goethe, Mörike und Klaus Groth.

(Th.F.: Gedichte. Stuttgart 1998: RUB 6956. S. 43f.)


 marie2 antwortete am 09.01.05 (22:35):

"... ein prächtiger Kerl, der mit seinem scharfen Verstand, hellem Geist und glühender Phantasie weit über mir steht, er liebt auch das Schöne und strebt nach dem Guten, aber sonst ein kurioser Kauz. Um Wissenschaft kümmert er sich gar nicht, Charakter habe ich noch nicht viel bemerkt. Er verteidigt nicht selten die niederträchtigsten Maximen, aber nicht eigentlich, weil sie die seinen seien, sondern weil es ihm Gelegenheit gibt, seinen Scharfsinn glänzen zu lassen. Von Natur aus sehr sanft und gutmütig, kommen da bisweilen sehr jugendlich aussehende Widersprüche zum Vorschein, wie überhaupt sein geistiger Habitus sehr Schönes, Edles, aber auch manches unreife zeigt.
Eitelkeit ist seine Hauptschwäche."

Kersting (ein Freund von Theodor Fontane)

Vielleicht kennst Du diese Seie noch nicht:

Internet-Tipp: https://www.fontaneseite.de/


 DorisW antwortete am 10.01.05 (10:58):

Seit Jahren bewahre ich einen Zeitungsschnipsel auf, weil er mir zu gut gefällt.
Ich habe ihn einmal aus der letzten Seite des Spiegel, dem "Hohlspiegel", gerissen:

"Bücher von Theodor von Tane gesucht."


 iustitia antwortete am 10.01.05 (13:26):

Mein Dankeschön an alle, die zu "Fontane" was beitragen....
*
Zu Fontane gibt es keine Parodien, die Gedichte von ihm verspotten wollen. Eine "Parodie" auf eine Ballade von ihm - hat er selber geschrieben: "James Monmouth" (Text folgt später)...

Hier ein heutiges, komisches Gedicht, das den freigebigen Ribbeckschen "Birnbaum" als durchscheinende textliche Vorlage hat, ohne es zu veralbern.
Ein solcher Text ist eine "Kontrafaktur", die das Original nicht beschädigt.
*

Alexander Nitzberg:
Der Bonbononkel aus Unterrath

Der Bonbononkel aus Unterrath,
er wohnte am Kaugummi-Automat,

Und war es am Spielplatz besonders toll,
stopft' er sich beide Taschen voll.

Und kam auf Rollschuhn ein Junge daher,
rief er: Willst einen Gummibär?

Und kam ein Mädchen, er zwickt' es am Po:
Na, Püppchen, willst einen Haribo?

So ging es an die zehn Jahre fast,
da kam der Qlnkel in den Knast.

Er ahnte es vorher, und als gute Tat,
kaufte er den Kaugummi-Automat.

Und bald aus dem Mehrfamilienhaus
führten den Onkel sie hinaus.

Die Eltern riefen: Ab in den Knast!
Endlich haben sie ihn gefaßt.

Und die Kinder seufzten, das Herze schwer:
Wer gibt uns nun einen Gummibär?

So klagten die Kinder, das war nicht recht:
Sie kannten den alten Onkel schlecht.

Bei den Eltern freilich, da wird gespart:
Jeder Groschen geht für die Urlaubsfahrt.

So war der Onkel - schon vor der Haft -
voller Mißtraun gegen die Elternschaft.

Er wußte genau, was damals er tat,
als er kaufte den Kaugummi-Automat.

Er hat ihn nämlich so eingestellt,
daß er Kaugummis rausspuckt auch ohne Geld!

Und kommt auf Rollschuhn ein Junge daher,
knirscht das Zahnwerk: Willst einen Gummibär?

Und kommt ein Mädchen, knarrt es froh:
Na, Püppchen, willst einen Haribo?

So spendet noch immer der Automat
des Bonbononkels aus Unterrath.
*
(Aus: A.N.: Im Anfang war mein Wort. Neue Gedichte. Düsseldorf 1998: Grupello Verlag)
*
URL - zum Autor:

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/nitzberg.htm


 Enigma antwortete am 10.01.05 (14:00):

Ja, der gefällt mir, der Nitzberg. Fontane natürlich auch, aber Nitzberg ist - finde ich - "so schön frech, frisch und relativ neu".

Where`s the Königsallee?...

Häuser - gezuckerte Früchtchen,
noch triefend vom Lack der Büros.
Niedliches Zwergegezüchtchen
vermehrt sich hier, wird groß.

Kurze Computerjapaner
mit ausgewogenem Blick,
vergrößerte Unterprimaner -
sie hängen an einem Strick!

In marmorierten Schinken
der goldnen Passagen gärt
Fett von gelösten Schminken
auf Leibern überernährt.

Lächelnde Buddhas vermieten,
reinkarniert und dick,
an die kleinen Termiten
irgendwas mit Geschick.

Äuglein von Bettelmönchen
-Zen in der Kunst des Gewinns-
rollen, um Damen zu röntgen
bis auf den Zinseszins.

Hechelnde Zungen der Schlipse
im Schweiße des Angesichts
biegen sich zur Ellipse
beim Anblick des Leibgerichts.

Und bis zu den spitzesten Zipfeln
der Ohren steigt peu-à-peu
und strahlt über allen Gipfeln
Düsseldorf an der Kö!
Durch!

..jetzt aber weg, hab`mich total verfranzt.
Vielleicht mal auf die Königsallee, gucken, ob er Recht hat?
:-)


 iustitia antwortete am 10.01.05 (19:17):

Mhm, auf der Kö...? Z.B. zu den Bücherbummel-Festen dort?
Aber Fontane war nie in D-dorf. Goethe, ja, der! Den Fontane würde ich dort durch das Heinrich-Heine-Museum führen. H. H. war ja Fontanes Lieblingsdichter, z.B. auch in der "Effi Briest" (der Verführer Crampas ist dort der große Heine-Rezitator... Das gefiel dem Mädchen; bildungswillig und interessiert an Spiel und Poesie.)
*
Aber heute noch: T u c h o - der passt auch in eine solche Bildungs-, äh, Literatur-Perspektive:

Kurt Tucholsky:
DER ALTE FONTANE

Damals, so in den achtziger Jahren,
ist man noch nicht mit dem Auto gefahren;
alles ging seinen ruhigen Schritt,
und der alte Fontane ging ihn mit.
Ein stilles Antlitz hatten die Tage:
Frühmorgens bei Kroll, auf der Brunnenwaage
dann die Tiergartenpromenade
(«Kannten Sie Strousberg? Schade, schade!»),
dann ins Geschäft oder ins Büro,
und das ging alle Vormittage so.
Mittag zu Hause, friedliche Zeiten,
die Kinder machen Schularbeiten,
ein kleines Nickerchen mit der Zigarre,
und dann wieder in die geschäftliche Karre.
Und war der Tag besonders schön,
hieß es: «Ich habe den Kaiser gesehn!» —
Alles so sauber und preußisch und karg:
der alte Fontäne und seine Mark.
Aber Fontäne und alle die Alten
konnten sich auch nicht ewig hallen.
Wollten noch so vieles erleben,
mußten doch gen Walhalla schweben.
Bis hin vor die Weltenesche sie ziehn,
da lagern sie sich um Vater Odin.

Tick, tick,
dreißig Jahre sind ein Augenblick.

Und als nun Michaelis den Abschied nahm,
eine Sehnsucht über Fontane kam,
und er sprach: «Herr, laß mich auf Urlaub gehn,
ich möchte die Spree noch einmal sehn.
Die Spree, die Havel, die Nette, die Nuthe,
clen Schlachtensee und die Räuberkuthe;
ich kenne mich aus, und habe ich Glück,
bis Donnerstag bin ich wieder zurück.»
Odin hat huldvoll sich verneigt —
der Alte zur Erde niedersteigt.
Und zunächst in der Neumark, in der Nahe von Deutschen,
landet er. „Himmel, was sind das für Menschen!“
Und er spricht hinter Schwiebus und hinter Zielenzig:
„Dickköpfe, Hamster! und so was nennt sich
nun Märker — wir wollen westwärts ziehn!“
Und so westwärts kommt er nach Berlin.
Da ist ein Schleichen und Drehen und Schieben,
wo ist das alte Berlin geblieben?
Einer drängt immer den ändern weg:
„Ham Se nich greifbaren Schweinespeck?“
Und ein Dicker steht mitten auf dem Damm
und philosophiert über Pökelkamm.
Sie treten sich an die Schienenbeine,
die jüngeren Herren spielen „Meine - Deine“,
sie verkaufen Frauen und Gold und Eier
und alles um die paar lumpigen Dreier.
Golden leuchtet ein Kirchturmknopf - -

Und der Alte schüttelt schweigend den Kopf,
freiwillig kürzt er den Urlaub ab,
in wilde Karriere fällt sein Rückzugstrab.
Sein Rückmarsch ist ein verzweifeltes Fliehn.
„Wie war es?“ fragt teilnahmsvoll Odin.
Und der alte Fontane stottert beklommen:
„Gott, ist die Gegend runtergekommen!“
*
(Zuerst in Berliner Tageblatt. 01.09.1918. - Aus: K.T.: Gesammelte Werke. Bd. 1. 1907-1918. Reinbek 1975. S. 320f.)


 Enigma antwortete am 11.01.05 (09:18):

Guten Morgen,

...oh, da hat ja jemand nach meiner gestrigen "Abschweifung mit Nitzberg" sehr elegant wieder zum Thema zurückgeführt.
Aber ich möchte auch noch etwas zu Fontane sagen.
Im September letzten Jahres habe ich zwei Wochen Urlaub auf der schönen Ostseeinsel Usedom verbracht, und dort findet man ja zahllose Hinweise auf Fontane.
Z.B.ist im jetzt ja polnischen Swinemünde an dem Haus, das seinerzeit die Apotheke von Fontane`s Vater beherbergte, eine Gedenktafel angebracht.
Auf der Seite ist auch die Moritat vom "Mörderpaar Mohr" erwähnt, einer Begebenheit, die dem Hörensagen nach alle Swinemünder kennen sollen. - she URL! -

Fontane hat diese Geschichte in seinem Roman "Meine Kinderjahre" im elften Kapital "Was wir in Haus und Hof erlebten..." verewigt.
https://gutenberg.spiegel.de/fontane/kinderjr/kinde111.htm

Internet-Tipp: https://erwin-rosenthal.de/swinemuende/fontane_und_mohr.htm


 iustitia antwortete am 12.01.05 (07:04):

Sebastianus Segelfalter
(Pseudonym für Richard Müller-Freienfels):
Der alte Fontane

Eigentlich ist ja alles la-la. -
Unversehens ist man Großpapa
und spaziert mit andern alten Herr'n
im Tiergarten, rund um den großen Stern --

Immerhin, es geschieht doch mitunter,
da wird ein altes Herz noch mal munter.
Als ich kürzlich am Neuen See
genoß meine Voß'sche zum Milchkaffee,
Kommt mir da ein Kanarienhahn
mit einer Rohrpostkarte an.

Na, ich erkenne den gelben Patron -
aus der Geheimrätin Krause Salon,
und ihre Nichte, die Annemarie,
schreibt mir da rundweg: „Ich liebe Sie!
Kenn' Ihre ganze Schriftstellerei
aus der Leihbibliothek von Nicolai.“

Eigentlich ist ja alles la-la.
Dennoch man fragt sich: Was macht man da?
Tanz ich mit ihr in einem der Zelte?
Kremserpartie nach Lichterfelde?
Oder gar, ach du meine Güte, -
noch einmal Werder in Kirschenblüte?

Ja, man wird jung schon beim bloßen Gedanken!
Älteste Grundsätze kommen ins Wanken.
Dennoch, ich kratze mich hinterm Ohr,
Schick ihr zurück eine Karte per Rohr:

„Was man so schreibt - Roman nach Roman -
ist damit alles abgetan.
Doch wenn einmal, liebe Annemarie,
etwas „Festes“ erst haben Sie,
dann besucht Ihr mich mal zu zweit,
Hab einen guten Bordeaux bereit.
Und wir trinken auf das, was man liebt,
daß es nicht Irrung noch Wirrung gibt.
Und ist Euer Ältester wohl geraten —
Na, dann fragt mich man wegen Paten."
*
(Aus: R.M.-F.: Die Vögel der deutschen Dichter. Berlin 1947.S. 70)


 iustitia antwortete am 13.01.05 (08:57):

Fontanes Militär-Ballade „Einzug“
"Wer kommt? Wer?..."

Fontane: Einzug
(7. Dezember 1864)

Wer kommt? wer? -
Fünf Regimenter von Düppel her.
Fünf Regimenter vom dritten Korps
Rücken durchs Brandenburger Tor;
Prinz Friedrich Karl, Wrangel, Manstein,
General Roeder, General Canstein,
Fünf Regimenter, vom Sundewitt
Rücken sie an in Schritt und Tritt.

Wer kommt? wer? -
Zuerst die Achter. A la bonne heure!
Die Achter; Hut ab, Sapperment,
Vor dem Yorkschen Leibregiment;
Schanze neun und Schanze drei
Waren keine Spielerei.
Hut ab und Hurra ohne End',
Allemal hoch das Leibregiment!

Wer kommt? wer? -
Hurra, die Vierundzwanziger.
Guten Tag, guten Tag und gehorsamster Diener!
Ei, das sind ja meine Ruppiner;
Flinke Kerle, ohne Flattusen,
Grüß' Gott dich, Görschen und Brockhusen!
Möchte manchen von euch umhalsen,
Düppel war gut, besser war Alsen -
's war keine Kunst, euch half ja die Fee,
Die Wasserfee vom Ruppiner See.

Wer kommt? wer? -
Hurra, die Vierundsechziger.
Hurra, die sind wieder breiter und stärker,
Das macht, es sind richtige Uckermärker,
Die sind schon mehr für Kolbe und Knüppel,
Conferatur Wester- und Oster-Düppel,
Verstehen sich übrigens auch auf Gewehre,
Siehe Fohlenkoppel und Arnkiel-Öre -
Fünfzig dänische Feuerschlünde
Können nichts gegen Prenzlau und Angermünde.

Wer kommt? wer? -
Füsiliere, Funfunddreißiger.
Hurra, das wirbelt und schreitet geschwinder,
Hurra, das sind Berliner Kinder!
Jeder, als ob er ein Gärtner wäre,
Trägt drei Sträußer auf seinem Gewehre.
Gärtner freilich, gegraben, geschanzt,
Dann sich selber eingepflanzt,
Eingepflanzt auf Schanze zwei -
Die flinken Berliner sind vorbei.

Wer kommt? wer? -
Hurra, unsre Sechziger.
Oberst von Hartmann, fest im Sitze,
Grüßt mit seiner Säbelspitze.
Hut ab und heraus die Tücher!
Das sind unsere Oderbrücher.
Keine Knattrer und bloße Verschluser,
Lauter Barnimer und Lebuser;
Fest ihr Tritt, frank und frei -
Major von Jena ist nicht mehr dabei.

Wer kommt? wer? -
Artillerie und Ingenieur';
Elfte Ulanen, Zieten-Husaren,
Paukenwirbel und Fanfaren.
Halt! - Der ganze Waffenblitz
Präsentiert vor König Fritz.
Alles still, kein Pferdegeschnauf,
Zehntausend blicken zu ihm auf;
Der neigt sich leise und lüpft den Hut:
»Konzediere, es war gut.«
*(Entstanden und Erstdruck: 1864)

Teil zwei folgt:
Die Parodie von Gumppenberg auf Fontanes Militär-Hymne...


 iustitia antwortete am 13.01.05 (09:04):

Teil 2 zu: Fontanes "Einzug"

Der aufgeputzt-hymnische Text - ein wahres Bildungs-Exempel:
Am 19. Dezember 1864 schrieb Theodor Storm, der als Husumer Richter nun mal besonders gut Bescheid wusste über den preußisch-dänischen Krieg mit den Siegen an den Düppelner Schanzen, an Fontane:
„Ihr Einzugslied ist so außerordentlich gut, daß ich gründlich dazu gratulieren muß, obgleich der Zipfel der verfluchten Kreuzzeitung aus jeder Strophe heraushängt. Möchten Sie der letzte Poet jener doch Gott sei Dank und trotz alledem dem Tode verfallenen Zeit sein, worin die Tat des Volkes erst durch das Kopfnicken eines Königs Weihe und Bedeutung erhält. Ihr - ich sage es noch einmal - meisterliches Lied feiert lediglich die militärische Bravour, wodurch der Beifall des Königs (oder Königtums erworben ist, von einem sittlichen Gehalt der Tat weiß es nichts, sie hat auch diesmal keinen.«
(Brief von Theodor Storm an Fontane vom 19. Dezember 1864; in: Th.F.: Gedichte. Bd. 1. Berlin 1995. S. 570)
*
Teil 3 folgt.

Internet-Tipp: https://www.jadu.de/berlin/fdg/dekor/afr1a.gif


 iustitia antwortete am 13.01.05 (09:06):

Zu Fontanes Ballade "Einzug":

Aber Storm hatte einen geschickt aufgemachten, literarischen Bildungstest nicht bestanden; er hatte sich aufgeregt über die „Neue Preußische Kreuz-Zeitung“ Nr. 289. 8.12.1864, die Fontantes Schmuck-Ballade gedruckt hatte – und übersehen, wer denn der „konzedierende König Fritz“ war in den letzten Zeilen: Gemeint war das Denkmal Friedrichs II. von Rauch, Unter den Linden.
Fontane macht sich also lustig über den militärischen Aufwind-, äh-wand, indem er den Steinernen, den Alte Fritz, sich hier in die neue militaristische Preußerei einmischen ließ, als eine Sinnestäuschung, eine reine Erfindung der Begeisterten, der Militärs und ihrer Zuschauer!

Ein späterer Literaturkenner und Parodienmeister hat dieser Ballade Kling-Klang auf den angemessen kritischen, spöttischen Ton gebracht, als Parodie:

Hanns von Gumppenberg:
Truppeneinzug nach dem Manöver

Wer kommt!? wer?
Sie ziehen daher,
Sie rücken ein

Durchs Brandenburger Thor herein -
Hurra! dreizehn Regimenter,
Lauter Herrgottsakermenter,
Eins zwei, eins zwei, Schritt und Tritt!
Allpreußenherzen marschieren mit.
Hut ab! Hurra ohne End' -
Vivat hoch das Leibregiment!

Füsiliere, Grenadiere,
Kavallerie dann — schöne Thiere!
Leutenants von Itzenplitz
Grüßen mit der Sporenspitz'.
Vierundzwanziger, Fünfundzwanziger,
Meckelnburger, Hamburger, Danziger,
Zweiunddreißigeit, Dreiunddreißiger -
Vierunddreißiger waren noch fleißiger,
Schwitzten im Sande tapfer und brav,
Einen sogar der Hitzschlag traf -
Haben wir's nicht gestern gelesen?
Aber die Andern, die sind genesen.
- Hunderttausend auf Zehenspitzen
Spähen nach den Itzenplitzen.

Wer kommt? wer?
Achtziger, Neunundneunziger,
Uckermärker -
Die sind noch stärker!
Knoten und Knüppel -
Conferantur: Schanzen von Düppel!
Lösten sich ewig von jeder Sünde
Bei Fohlenkoppel und Angermünde.

Wer kommt jetzt? - 'samster Diener -
Hurra! das sind die Berliner!
Werfen die Beine federleicht,
Tragen den Schnurrbart »es ist erreicht«.
Und dazu noch Veilchensträuße -
Schnell den Berlinern eine Weiße!

Was! noch immer wehen die Tücher?
Ja freilich! jetzt kommen die Oderbrüder!
Keine Verknatt'rer und Pulververschlemmer,
Lauter treffsichere Eisenhämmer,
Durchgedrückt die Knochen am Knie
Für Preußens Größe, pour la patrie!

Und zuletzt? ich habe die Ehre!
Da sind noch die Herren Ingenieure
Zwischen rothen und todten Husaren,
Wumdibumpauken und Kraftfanfaren.
Halt!! Vor des alten Fritzens Erzgestalt.

Aber der dreht im Sattel sich um:
»Merci, Messieurs! das ist mir zu dumm.«

*

Hanns Freiherr von Gumppenberg (4.12.1866 – 29.3.1928) schrieb für Münchener Theater und Kabaretts. Seine Texe waren so entlarvend und scharf, dass er dafür böse Hiebe zurückbekam, z. B. von dem wenig humvorvollen Paul Heyse: „Die Dichter von gestern
hatten die Musen als Schwestern
und tranken vom kastalischen Quell.
Die Dichter von heute
haben Kellnerinnen als Bräute
und bezechen sich im Bordell.“
(H.v.G.: Das teutsche Dichterroß. Parodien. München 1971. S. 49f.)
*
URL: Der Alte Fritz; nicht nur das Denkmal von Rauch...

Internet-Tipp: https://www.jadu.de/berlin/fdg/


 iustitia antwortete am 14.01.05 (22:14):

Ernst von Wolzogen: Geburtstagsgedicht auf Fontane

Du hast nicht olympisch das Haupt geschüttelt,
als die Grünen am Tor des Parnaß gerüttelt;
du hast dich zu ihnen hinab begeben
und noch einmal hinein in das brausende Leben.
Wenn die Tollsten Überrumpelung planten,
bedächtige Freunde zum Rückzug mahnten —
Du hast zwischen Jungen und ängstlichen Alten
lächelnd die freie Bahn gehalten,
kampfglühende Wangen freundlich gestreichelt,
manch allzu keck Schwert in die Scheide geschmeichelt.
Dann hast du gedichtet und eh man's gedacht,
hast du es einfach besser gemacht.
*
„Die Grünen“ meinen keine Parteizugehörigkeit, sondern es sind die jungen Naturalisten vor 1900, die völlig neue Dramen zur Aufführung anboten; so rezensierte Fontane Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ so positiv, dass die „Jungen“ große Erfolg in den nächsten Jahren hatten; Kaiser Wilhelm Zwo kündigte die Loge im Theater.

Brahm ergänzte:
„Wenn Fontane auf diesen bedeutsamen Moment zurückblickte - und er erkannte voll seinen Wert, so wie er uns Jüngeren unvergeßlich geblieben ist —, so pflegte er wohl lächelnd zu sagen: »Nun kann ich mich also ruhig schlafen legen; nun bin ich ein berühmter Mann.« In der Tat war es erst durch diese Geburtstagsfeier weiten Kreisen zum Bewußtsein gekommen, was die deutsche Kultur in Theodor Fontane besaß.
Otto Brahm: Theodor Fontane. (Essay, geschrieben 1888-1891) In: Hans Mayer /Hg.): Deutsche Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Von Heine bis Merhing. Frankfurt/M. 1976. S. 752-772)

URL: Fontane-Gesellschaft

Internet-Tipp: https://www.fontane-gesellschaft.de/images/leben/kritiks.jpg


 iustitia antwortete am 17.01.05 (23:23):

Anekdoten über FONTANE

Fontane verstand sich auf jene Höflichkeit des Herzens, von der Goethe gesagt hat, sie sei der Liebe verwandt. Noch als alter Mann konnte er die überzeugendsten Komplimente machen. Damals gab man sich auf Gesellschaften gern dem Spiel hin, geistreiche Unterschiede zwischen verschiedenen Dingen herauszufinden. Fontane nahm einmal an einem dieser Fragespiele teil. Als sich die schöne Gastgeberin an ihn mit der Frage wandte, wie er den Unterschied zwischen ihr und einer Uhr besagte der Schriftsteller: »Eine Uhr erinnert mich an die Stunden, bei Ihnen vergesse ich sie.“
*
Der junge Theodor Fontane hatte sich als ‚möblierter Herr’ eingemietet. Am ersten Morgen sagte er nach dem Frühstück zu seiner Wirtin: »Wenn das, was ich eben getrunken habe, Ihr Kaffee ist, bitte ich ab morgen um Tee.«
*
Zu seinem 75. Geburtstag; gewährte ihm das preußische Kultusministerium eine lebenslängliche Ehrenpension. Darauf meinte Fontane im Kreise seiner Freunde: »Wenigstens habe ich jetzt meinen Grund, um 100 Jahre alt zu werden.“

(Aus: Das Anekdotenbuch. Hrsg. von Dieter Lattmann. FiTB 2445. S. 329)
*
URL - eine Schülerarbeit über Fontane

Internet-Tipp: https://www.klassenarbeiten.net/referate/deutsch/fontane.shtml


 Enigma antwortete am 22.01.05 (10:43):

Ein Gedicht von Fontane, das mir gefällt und das man - she. URL! - hören kann (unter 17) mit der Stimme von O.E. Hasse, die ich immer sehr gerne gehört habe:

Theodor Fontane
Ja, das möcht ich noch erleben

Eigentlich ist mir alles gleich,
der eine wird arm, der andre wird reich,
aber mit Bismarck - was wird das noch geben?
Das mit Bismarck, das möcht`ich noch erleben.
Eigentlich ist alles soso,
heute traurig, morgen froh,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
ach, es ist nicht viel dahinter.
Aber mein Enkel, so viel ist richtig,
wird mit nächstem vorschulpflichtig,
und in etwa vierzehn Tagen
wird er eine Mappe tragen.
Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben -
ja, das möcht`ich noch erleben.
Eigentlich ist alles nichts.
Heute hält`s und morgen bricht`s.
Hin stirbt alles, ganz geringe
wird der Wert der ird`schen Dinge;
Doch wie tief herabgestimmt
auch das Wünschen Abschied nimmt,
immer klingt es noch daneben:
ja, das möcht`ich noch erleben.

Internet-Tipp: https://www.dg-literatur.de/page_13214.jsp


 iustitia antwortete am 23.01.05 (11:12):

Als Dank, als Ergänzung - eine kleine Interpretation zu:
„Ja, das möcht' ich noch erleben.“
* Erstdruck des Fontane-Gedichts in der Zeitschrift „Zur guten Stunde“. (April 1891. S. 25.)

Mut- und Hoffnungslosigkeit sind Bedrohungen, denen besonders der alternde Mensch oft ausgesetzt ist.
So gehört das Thema von Entsagung und Resignation ganz selbstverständlich zur Alterslyrik, auch Fontanes.
Die erste Zeile »Eigentlich ist mir alles gleich« - ist zunächst nur eine andere Formulierung für die schon in anderen Gedichten (beispielsweise in. „Würd' es mir fehlen, würd' ich's vermissen?“) ausgesprochene Interesselosigkeit des redenden, reflektierenden Ichs, das sehr leicht als Stimme des Autors zu identifizieren ist. Die Eingangszeilen von drei Strophen variieren diese Erkenntnis leicht, so entstehen vibrierende Nachfragen, ein wenig blinzelnde Überprüfung: Na, stimmt’s denn auch?:

Eigentlich ist mir alles gleich . . .
Eigentlich ist alles soso . . .
Eigentlich ist alles nichts . . .

Dieses »alles« bezieht sich auf die große und kleine Welt. Weder die Abfolge der Jahreszeiten interessiert den Autor noch das Auf und Alb im gesellschaftlichen Leben - »Der eine wird arm, der andre wird reich« —, noch die eigenen Stimmungsschwankungen - »Heute, traurig, morgen froh«.
Die Resignation scheint total zu sein; es scheint der Zustand erreicht zu sein, wo »das Wünschen Abschied nimmt«.
Und das „Eigentliche“ ist immer auch ein wenig „un-eigentlich“, das Gegenteil des so paraphrasierend Wiederholten – also nicht das Einzige, das Absolute, sondern das In-den-Augenschein-Genommene, das Veränderbare..
Diesem dreifach geäußerten »eigentlich« stehen jedoch drei Entgegensetzungen gegenüber.
Auf zwei Entwicklungen ist der Autor wahrhaftig noch neugierig, "scharf" würden wir heute sagen:
* Zum einen geht es um den Reichskanzler Bismarck und sein Verhältnis zu dem jungen Kaiser Wilhelm II. und
* zum andern um seinen 1887 geborenen Enkel Otto, Sohn seines Sohnes Theodor, der »in etwa vierzehn Tagen [. . .] vorschulpflichtig« wird.
Bei beidem muss er zugeben: »Ja, das möcht' ich noch erleben.«
Die große Politik Preußens und das private Familiengeschick der Fontanes bewegen ihn natürlich weiterhin; sie erregen also weiterhin die Neugier und sind Schreibanlässe des Autors. Und so widerlegt er seine vorherige, scheinbar rigorose Behauptung »Eigentlich ist alles nichts« selbst. Und er nimmt den Leser auf diesem Gefühlsweg mit: Was möchtest du noch erleben? Wes ist doch noch nichts Zu-Ende, wenn man für Enkel interessiert. Ach – und „Vorschulpflicht“ – das gab es schon in Preußen im Jahre 1891…?
Er bereitet die Widerlegung sogar selbst durch ein »so viel ist richtig« vor. Konsequent durchdacht, ist jenes »Das möcht' ich noch erleben« immer noch stärker als das »Eigentlich ist alles nichts.« Es ist leichthin, lächelnd ironisch, es liebevoll, es ist vertrauensvoll. Es ist nicht nur dichterisch, es ist menschlich…
Es ist Anteilnahme am Leben, worauf Fontane nicht verzichtet, bis zu seinem Tod.
*
URL - Fontane - am Schreibtisch

Internet-Tipp: https://www.lettern.de/spfontan.JPG


 rumpelstilzchen antwortete am 23.01.05 (15:20):

Enigma, sag mal: Die Apotheke in Swinemünde??
Ich war s.Zt. in Neuruppin und bin auf Fontanes Spuren gewandelt und mir ist so, als hätte dort die Apotheke des Vaters gestanden.So ist es mir auch aus seinen Biographien und Briefen vermittelt worden.
Muß wohl ein Irrtum vorliegen! bei wem??

LG
Claudine


 iustitia antwortete am 23.01.05 (18:33):

Wer hat noch Lust - recht unbekannte Gedichte von Fontane zu lesen - z.B. dieses:

Fontane – mit einem eigenartig „aktuellen“ Text – über Menschenvernichtung durch „Flut“ und Rettung am „Ararat“ und über den unverwüstlichen Überlebenswillen:

Theodor Fontane:
Es kribbelt und wibbelt weiter

Die Flut steigt bis an den Ararat,
Und es hilft keine Rettungsleiter,
Da bringt die Taube Zweig und Blatt -
Und es kribbelt und wibbelt weiter.

Es sicheln und mähen von Ost nach West
Die apokalyptischen Reiter,
Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
Es kribbelt und wibbelt weiter.

Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
Es brennen Millionen Scheiter,
Märtyrer hier und Hexen da,
Doch es kribbelt und wibbelt weiter.

So banne dein Ich in dich zurück
Und ergib dich und sei heiter,
Was liegt an dir und deinem Glück?
Es kribbelt und wibbelt weiter.
*
Als weiterer Text hierzu folgt: eine Interpretation von Günter Kunert, eine recht melancholische, der ich nicht zustimme.
Wer hat Lust, sich zu äußern…?

Forts. folgt.


 iustitia antwortete am 23.01.05 (18:35):

Interpretation von GÜNTER KUNERT zu Fontane:

FONTANE - MISANTHROPISCH

Zur menschlichen Hybris gehört es ganz offenkundig, kollektive Erfahrungen weder zweckdienlich vermitteln noch als Lehre nutzen zu können. Eine Tatsache, gegen die sich unser Verstand sträubt, da wir uns unzweifelhaft für vernünftige Wesen halten und diese Selbstüberschätzung mit allen irrationalen Mitteln zu verteidigen pflegen. Manchmal jedoch läßt sich die trostlose Wahrheit unserer genetisch bedingten Beschränktheit nicht wunschgemäß verheimlichen. Irgendeiner kommt und lüftet den Schleier über dem verdrängten Faktum. Unerwarteterweise hat dies ein Autor getan, dem eher die Bezeichnung human, gar humanistisch angeheftet worden ist: Theodor Fontane, der Erzähler einer Berlinschen und märkischen Klein weit. In diesem kaum bekannten Gedicht erweist er sich als resignativer Misanthrop - falls man gewillt ist, eine desillusionierte Anschauung der Menschheit so zu benennen.
Was während der Epoche noch den glaubhaften Schein einer hoffnungsträchtigen Entwicklungsfähigkeit besaß, ist hier mit dem Neutrum »Es« schon radikal disqualifiziert. Dieses »Es« reduziert das Gemeinte, Menschheit eben, auf seinen rein organischen Charakter, der jedoch durch die entsprechenden Verben »kribbeln« und »wibbeln« assoziativ in Bezug zum Insektenbereich, zum Ameisenhaufen gesetzt wird. Unter diesem Aspekt erweist sich Geschichte, wie andeutungsweise in den ersten drei Strophen dargestellt, als die totale Sinnlosigkeit.
Fontane wird hier plötzlich dem Vorläufer und Geistesverwandter des Philosophen Theodor Lessing, dessen Werk »Geschichte als Sinngebung; des Sinnlosen« wie die spätere theoretische Bestätigung der Fontaneschen Verse gedacht wirkt.
*
(Forts. folgt.)


 iustitia antwortete am 23.01.05 (18:37):

GÜNTER KUNERTs Interpretation zu "Es kribbelt und wibbelt..:
FONTANE - MISANTHROPISCH

(Fortsetzung der Interpretation)

Fontane, auf einer Lese-Reise im Jahr 1989, würde gewiß die berüchtigte Frage zu hören bekommen, wo denn das Positive bleibe und ob denn sein Pessimismus nicht weithin Lähmung verbreite und zum Suizid anstifte. Dann müßte er wohl erwidern, daß, selbst wenn eine winzige Minorität solche Konsequenzen) aus den unbestreitbaren Einsichten zöge, die Mehrheit dennoch weiterkribbeln und -wibbeln würde. Er könnte zum Beispiel darauf hinweisen, daß nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sogar fünfzig Millionen Menschern mehr auf der Erde existierten als zuvor und daß gegenwärtig, trotz global sinkender Lebens- und Umweltqualität, bereits die Sechs-Milliarden-Grenze überschritten sei, ohne daß ein Einhalten des Kribbelns und Wibbelns abzusehen wäre. Und, Herr Fontane, was unternehmen Sie gegen diese heraufziehende Katastrophe? Wie kämpfen Sie dagegen an?

In der letzten Strophe nennt der Schriftsteller sein Credo, das nun auch nicht gerade ermutigend klingt und die Leser enttäuschen muß. Es ist nämlich die Forderung nach dem Verzicht auf Individualität, auf individuelles Dasein: Man habe sich selber zurückzunehmen und sich ins doch offenkundig Unabänderliche zu schicken. Erst wer die Waffen in diesem sinnlosen Kampf streckt und kapituliert, wer sich mit den unveränderlichen Gegebenheiten abfindet, fände zu einer ruhigen Heiterkeit. Ein uraltes Rezept, das wir bereits bei Marc Aurel in den »Selbstbetrachtungen« nachlesen können, wo es heißt: »Zieh dich in dich selbst zurück! Die in uns zur Herrschaft bestimmte Vernunft ist darauf angelegt, ihr Genügen in sich selbst zu finden, wenn sie das Rechte tut und dabei Frieden in ihrer Seele hat.« Und fernerhin: »Es ist sinnlos, dem Schicksal zu grollen; denn es nimmt keine Klagen an.« Aber Fontanes Gedicht schließt nicht mit billigem Trost, mit einer Flucht zu metaphysischen Mächten. Obgleich es die Frage nach dem persönlichen Glück mit verneinendem Unterton formuliert, bleibt die Frage dennoch zur Beantwortung dem Leser überlassen. Und die allerletzte, refrainartige Zeile enthält den Stachel der Beunruhigung, weil sie den Blick nicht von den Termiten lassen kann, mit denen wir identisch geworden sind.
(Aus: Frankfurter Anthologie. Bd. 4. S. 295ff.)
???


 Enigma antwortete am 24.01.05 (10:09):

Guten Morgen,

@Rumpelstilzchen
Wenn es um die Apotheke geht (das jeweilige Gebäude, nicht mehr die heutigen Namen), stimmt m.E. "sowohl-als-auch" und nicht "entweder-oder."
Theodor Fontane ist ja in Neuruppin geboren. Dort betrieb der Vater eine Apotheke.
Später, als die Familie nach Swinemünde zog, gab es wieder eine Apotheke des Vaters. Das ist die von mir gemeinte.
Das ist jedenfalls mein Wissensstand.

Grüsse
Enigma


 iustitia antwortete am 24.01.05 (14:12):

Fontanes Vater Louis Henri
besaß die Neuruppiner »Löwen-Apotheke« in Fontanes Geburtshaus.
Das Geschäft dort geht jedoch nicht sehr gut, und als Fontanes Geschwister Rudolf, Jenny und Max geboren werden, wird die finanzielle Lage so prekär, daß der Vater die Apotheke im Jahr 1826 verkauft und mit der Familie nach Swinemünde an der Odermündung übersiedelt.
Der Vater kaufte die Adlerapotheke.
Fontane besucht zunächst die Stadtschule, dann erfolgt der Unterricht durch Vater und Hauslehrer befreundeter Familien. Historisches und poetisches Interesse erwachen.
Da die Mutter dagegen ist, daß Theodor die Swinemünder Stadtschule besucht, wird er zu Hause von den Eltern, später von Privatlehrern unterrichtet. 1832 besucht er kurze Zeit ein Gymnasium, doch der Vater gibt ihn noch vor Ende des ersten Schuljahrs in eine Berliner Realschule und läßt ihn bei seinem Halbbruder August und dessen Frau Philippine, genannt »Tante Pinchen« wohnen.
Voll Bedauern über seine bruchstückhafte Schulbildung wird Fontane viele Jahre später schreiben: »Das berühmte Wort vom 'Stückwerk' traf auf Lebenszeit buchstäblich und in besonderer Weise auf mich zu«.

*
URL: Swinemünder Apotheke:

Internet-Tipp: https://www.bildung-brandenburg.de/bbs/schule/projekte/fontane/pic/04a.jpg


 iustitia antwortete am 25.01.05 (13:50):

Theodor F o n t a n e
Autor: Dekan Dr. Werner Schwartz
(am 19.03.2000 in SWR 2)

Einer der greisen Dichter deutscher Sprache, ein Chronist des 19. Jahrhunderts mit seinen Umbrüchen und Aufbrüchen – ist Theodor Fontane.

Die Zeit ist vorbei, in der die Religion das ganze Leben bestimmte. Aber sie ist da, die Religion, der Glaube, zumindest in den Krisenzeiten. des Lebens. Weil es da um das Ganze geht, um Wegweisung und Hoffnung, um Werthaltungen und um die Einordnung in das Weltgefüge. Deshalb hat sie ihren Platz in seinen Romanen.
Was fasziniert mich an seiner religiösen Haltung?
Es ist eine Religion, die sich bescheidet mit den menschlichen Möglichkeiten, die hofft, sich darin aber nicht übernimmt, sich nicht ins Unbegreifbare versteigt, die demütig hofft auf das, was kommen kann, ohne es festzurren zu wollen. Seine Religion betont das Diesseits und hält dem Jenseits, der Transzendenz einen Platz offen.
In Fontanes Altersroman „Der Stechlin“ wird dies deutlich. Fontane beschreibt den alten Herrn Dubslav von Stechlin in seinem Schloss am Stechlinsee in der Mark Brandenburg. Ein Landedelmann, der für seine Leute sorgt, der um den Wert der alten ständischen Ordnung weiß und doch sieht, wie sie zu zerbrechen beginnt.
Als er spürt, dass er ans Sterben kommt, lädt er seinen Pastor Lorenzen ein und grübelt:
Sonderbar, ... dieser Lorenzen is eigentlich gar kein richtiger Pastor Er spricht nicht von Erlösung und auch nicht von Unsterblichkeit, und is beinah, ab ob ihm so was für alltags zu schade sei. Vielleicht is es aber auch noch was andres, und er weiß am Ende selber nicht viel davon.. Anfangs hab ich mich darüber gewundert, weil ich mir immer sagte:: Ja, solch ein Talar- und Beffchenmann, der muss es doch schließlich wissen, er hat so seine drei Jahre studiert..., und ein Konsistorialrat... hat ihn eingesegnet und ihm und noch ein paar andern gesagt. Nun geht hin und lehret alle Heiden. Und wenn man das so hört, ja, da verlangt man denn auch, dass einer weiß, wie's mit einem steht. Is gerade wie mit den Doktors. Aber zuletzt begibt man sich und hat die Doktors am liebsten, die einem ehrlich sagen: Hören Sie, wir wissen es auch nicht, wir müssen es abwarten. ... Lorenzen is nu.... gewiss so. Seit beinah zwanzig Jahren kenn ich ihn, und noch hat er mich nicht ein einziges Mal bemogelt. Und dass man das von einem sagen kann, das is eigentlich die Hauptsache.
*
(Forts. s.u.)
*
URL – zu dem Roman "Der Stechlin"

Internet-Tipp: https://www.xlibris.de/Autoren/Fontane/Interpretationen/Stechlin-02.htm


 iustitia antwortete am 25.01.05 (13:52):

Über Theodor F o n t a n e
Autor: Dekan Dr. Werner Schwartz
(Gesendet am 19.03.2000 in SWR 2)
(Teil 2)

Nicht die großen Worte zählen, nein, sich bescheiden mit dem, was man wissen kann, und den Glauben offen halten für das Geheimnis, ohne mehr drüber zu sagen, als man weiß. Eine sehr behutsame Art, am Ende des letzten Jahrhunderts vom Glauben zu sprechen angesichts des Trommelfeuers scharfer Fragen, die auf ihn eingeprasselt sind.
In der Trauerrede, die Pastor Lorenzen für den alten Stechlin hält, spiegelt sich das wider. Er beschreibt den alten Herrn als einen aufrechten Menschen, der ein Herz hatte und die Güte selbst war.
Er fragt nach seinem Bekenntnis und stellt fest: Er hatte davon weniger das Wort als das Tun. Er hielt es mit den guten Werken und war recht eigentlich das, was wir überhaupt einen Christen nennen sollten. Denn er hatte die Liebe... und die Lauterkeit des Herzens. Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind Er ist nun eingegangen in seines Vaters Wohnungen und wird da die Himmelsruhe haben, die der Segen aller Segen ist.
Da lebt ein alter Mensch auf sein Ende hin, überlässt die Tage, die ihm gegeben sind, seinem Schöpfer und bleibt bei dem, was er gelernt und gelebt hat: der Güte und Liebe seines Herzens. So klingt sein Leben aus in die Ruhe, die ihm bleibt über seine Erdentage hinaus.
Oder zuvor, als Dubslav sich beschwert: Nun endlich... Wo bleiben Sie?.... Sterben und verderben kann man. Und das heißt dann Seelsorge, da antwortet der Pastor: Herr von Stechlin, Ihre Seele macht mir, trotz dieser meiner Vernachlässigung, keine Sorge, denn sie zählt zu denen, die jeder Spezialempfehlung entbehren können. Lassen Sie mich sehr menschlich... sprechen... Ich lebe... der Überzeugung, der liebe Gott, wenn es einmal soweit ist, freut sich, Sie wiederzusehen.
Das ist keine vollmundige Art, von der Auferstehung zu sprechen. Aber eine getroste Art, das Sagbare zu sagen und den unsagbaren, unbegreifbaren, unvorstellbaren Teil Gott zu überlassen. Und einstweilen das Gute zu tun.
Eine sympathische Haltung.


 Medea. antwortete am 26.01.05 (18:29):

Der "romantische" Fontane gefällt mir auch sehr gut:

Thomas der Reimer

Der Reimer Thomas lag am Bach,
am Kieselbach bei Hundtly-Schloß.
Da sah er eine blonde Frau,
die saß auf einem weißen Roß.

Sie saß auf einem weißen Roß,
die Mähne war geflochten fein,
und hell an jeder Flechte hing
ein silberblankes Glöckelein.

Und Tom der Reimer zog den Hut
und fiel aufs Knie - er grüßt und spricht:
"Du bist die Himmelskönigin
und bist von dieser Erde nicht."

Die blonde Frau hält an ihr Roß:
"Ich will dir sagen, wer ich bin,
ich bin die Himmelsjungfrau nicht,
ich bin die Elfenkönigin.

Nimm Deine Harf und spiel und sing
und laß dein bestes Lied erschalln.
Doch wenn du meine Lippe küßt,
bist du mir sieben Jahr verfalln."

Und Thomas drauf: "Oh Königin,
zu dienen dir, es schreckt mich kaum."

Er küßte sie, sie küßte ihn,
ein Vogel sang im Eschenbaum.

"Nun bist du mein, nun zieh mit mir,
nun bist du mein auf sieben Jahr."

Sie ritten durch den grünen Wald.
Wie glücklich Tom der Reimer war.
Sie ritten durch den grünen Wald,
bei Vogelsang und Sonnenschein,
und wenn sie leis am Zügel zog,
erklangen all die Glöckelein.


 iustitia antwortete am 27.01.05 (14:31):

Ja, schöne Romantik!
Fontane hat die Tradition der schottischen Dichterfigur des reimenden "Thomas" nach Deutschland gebracht, den eine Elfe als Muse seine Reime finden lässt im Zauber der Natur.
Auch der Naturlyriker Wilhelm Lehmann hat ein Gedicht für diesen Tom geschrieben, in dem er sich selber als „Reimer“ erlebt. Lehmann war Anglist; Englisch- und Biologielehrer.

WILHELM LEHMANN: TOM DER REIMER

Fest prangte auch mein Fleisch. Es wurde bald gebrechlich.
Allegro schritt ich ernst, jetzt schreite ich gemächlich
Im Winde, der die Blätter lüpft.

Den Reimer Tom umwand ein Elfenweib mit roten Locken,
So alterte er nicht. Mich pflocken
Die Fäden, die Frau Spinne knüpft.

Indes ich sinne, schaufeln Emsen ihren Haufen.
Ich laß sie über Brust und Hände laufen,
Schon türmt sich über mir der Bau.

Die Körner rieseln. Sind es Grabeswände?
Ich schüttle mich: wie ich die Reime ende,
Sitzt neben mir die Elfenfrau.
*
(1948 geschrieben und veröffentlicht.)
(Aus: W.L.: Sämtliche Gedichte. 1982. S. 184)


 Medea. antwortete am 27.01.05 (21:39):

Ein schönes Spottgedicht von Wilhelm Lehmann - gefällt mir.

Hatten wir den Herrn Lehmann nicht schon einmal mit einer wunderbaren Reisebeschreibung aus der Schweiz?
Ging es da nicht um einen alten Brunnen?


 iustitia antwortete am 28.01.05 (13:20):

Ja, Lehmanns "In Solothurn" - samt Tagebuchaufzeichnung:

s. URL!
*
Aber ein Spottgedicht ist Lehmanns "Tom der Reimer" für mich nicht.
Was in der englischen Vorlage für Theodor Fontane noch mystisch-romantisch war, ist für Lehmann in der "Elfe" die Verkörperung seiner biologischen Kenntnisse, seines Selbstverständnisses und des poetischen Gewissens.
*
Hier: ein Lehmann-Gedicht "Fahrt über den Plöner See", Informationen und eine Interpretation.
https://www.zum.de/Faecher/D/SH/lehmann.htm

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/archiv4/a565.html


 rumpelstilzchen antwortete am 28.01.05 (13:37):

Hallo, ich finde eure Beiträge hier sehr interessant und anregend! Danke euch allen!
LG
Claudine


 Enigma antwortete am 29.01.05 (15:01):

Aber das Publikum ist immer wichtig! :-)

Theodor Fontane
Publikum

Das Publikum ist eine einfache Frau,
bourgeoishaft, eitel und wichtig,
und folgt man, wenn sie spricht, genau,
so spricht sie nicht mal richtig.

Eine einfache Frau, doch rosig und frisch,
und ihre Juwelen blitzen,
und sie lacht und führt einen guten Tisch,
und es möchte sie jeder besitzen.


 iustitia antwortete am 29.01.05 (15:59):

Zwei Aufzeichnungen aus dem Briefwerk Fontanes:

Ohne daß man unartig oder beleidigend gegen mich gewesen wäre, was ich mir einfach verbeten haben würde, hat man mich doch nie wie einen etablirten deutschen Schriftsteller, sondern immer wie einen »matten Pilger« behandelt, der froh sein könne, schließlich untergekrochen zu sein. Immer die unsinnige Vorstellung, daß das Mitwirthschaften in der großem, langweiligen und soweit ich sie kennen gelernt habe total confusen Maschinerie, die sich Staat nennt, eine ungeheure Ehre sei.
(Brief vom 30.11. 1876 an Mathilde von Rohr)
*
In allen Lebensstellungen, in denen ich bisher war, auch in denen die mich nur halb befriedigten, hatte ich immer das Gefühl, innerhalb meines kleinen Kreises etwas zu sein und zu bedeuten; von Jugend auf bin ich daran gewöhnt, als etwas nicht Alltägliches angesehn zu werden. Dieses süßen Gefühls sollte ich plötzlich entbehren, auch mit gutem Grunde entbehren, da [...] all meine Begabung nicht zu brauchen und alles was gebraucht wurde, wiederum nicht im Bereiche meiner Begabung war. Ich konnte das Peinliche, was mir daraus erwuchs, nicht auf die Dauer hinnehmen. Wer das Eitelkeit oder Hochmuth nennen will, der thu es; ich beneide solchen Jammerprinzen nicht um seine Demuth.
(1.7.1876; ebenfalls an Mathilde von Rohr)
*
Aus dem klugen Buch:
Th. Fontane: Allerlei Glück. Ein Lebensbuch. Vorgestellt von Ulf Diederichs. dtv 12538. S. 98.
*
URL - ein modernes Fontane-Denkmal, in Potsdam

Internet-Tipp: https://www.potsdam-berlin.de/bilder/fontane.jpg


 iustitia antwortete am 31.01.05 (13:09):

Vom Herrn von Ribbeck gibt es viel zu berichten,
von Fontanes berühmteste Ballade:

Hier, als Abwechslung und um Erinnerungen zu prüfen – auf Englisch:

Theodor Fontane:
Squire of Ribbeck at Ribbeck in Havelland,

Squire of Ribbeck at Ribbeck in Havelland,
In his garden there stood a pear tree grand,
And when autumn came round, the golden tide,
And pears were glowing far and wide,

Squire von Ribbeck, when noon rang out, would first
Fill both his pockets full to burst.
And then, when a boy in his clogs came there,
He called: ”My lad, do you want a pear?”
He would hail a girl that chanced to pass:
“Come over, I have a pear, little lass!”

Many years thus went, till the noble and high
Squire von Ribbeck at Ribbeck came to die.
He felt his end. It was autumntide.
Again pears were smiling far and wide.

“I depart now this life” von Ribbeck said.
I wish that a pear in my grave be laid”.
And after three days, from this mansard roofed hall,
Squire von Ribbeck was carried out, `neath a pall.

All farmers and cottagers, solemm-faced,
Sang: ”Jesus, in Thee my trust is placed”,
And the children lamented, with hearts like lead:
“Who`ll give us a pear, now that he is dead.?”

So the children lamented. It was unkind,
As they did not know old Ribbeck´s mind.
True, the new one is skimping niggardly,
Keeps park and pears tree `neath lock and key;

But having forebodings, the older one,
And full of distrust for his proper son,
Knew well what he did, when the order he gave,
That a pear should be laid in his grave.


From the silent dwelling, after three years,
The tip of a pear tree seedling appears.
And year after year, the seasons go round,
Long since a pear tree is shading the mound.


And in the golden autumntide
Again it is glowing far and wide.
When a boy is crossing the churchyard there,
The tree is whispering: Want a pear?”
And when a girl chances to pass,
It whispers: ”Come here for a pear, little lass.”

Thus blessings still dispenses the hand
Of von Ribbeck at Ribbeck in Havelland..
**
Oder wollen Sie jemanden mit der französischen Version überraschen?
URL:
https://www.vonribbeck.de/Gedicht/International/franzoesisch/franzoesisch.html

* URL - englisch...

Internet-Tipp: https://www.kcl.ac.uk/kis/schools/hums/german/fontane.html


 iustitia antwortete am 31.01.05 (13:14):

Hier das erste Birnbaumgedicht aus dem Havellland:

Von 1875 Hertha von Witzleben
- Enkelin des Karl Friedrich Ernst von Ribbeck.
Sie schrieb dieses Gedicht bevor Fontane sein Gedicht im Jahre 1889 veröffentlichte


Zu Ribbeck an der Kirche ein alter Birnbaum steht,
der mit den üpp'gen Zweigen der Kirche Dach umweht.
Von hohem Alter zeuget der Stamm, so mächtig stark,
wächst schier aus dem Gemäuer wie aus der Kirche Mark.

Von diesem alten Birnbaum geht eine Sage hier,
sie war als Kind zu hören stets eine Wonne mir:
Ein alter Ribbeck, heißt es, war Kindern hold gesinnt,
wohl hundertmal beschenkt er im Dorfe jedes Kind.

In allen Kleidertaschen er Birnen, Äpfel hat,
gab stets mit beiden Händen, gab gern, genug und satt.
Und als er kam zu sterben, man in den Sarg ihn legt,
denkt nicht an seine Taschen, darin er Birnen trägt.

Und in dem nächsten Frühjahr wächst aus der Wand am Tor,
sproßt aus dem Erbbegräbnis ein Bäumlein grün hervor.
Der Alte, der im Leben die Kinder so geliebt,
nun noch in seinem Sarge den Kindern Freude gibt

Im Herbst viel kleine Birnen der Baum streut auf den Sand,
und heut noch greift mit Jubel danach der Kinder Hand.
Die Abendschatten sanken hernieder allgemach,
da ward in meiner Seele die alte Sage wach.

**
Birnbaumgedicht
von Olga von Ribbeck (geboren 1885 in Bagow)

Jahrzehnte kommen, Jahrzehnte die gehen,
alljährlich ist leise das Wunder geschehen,
daß Frühling und Herbst in schaffender Macht
die Blütenfülle und Birnen gebracht;

der Kinder Jubel, der Alten Freud
überdauerte Lenzes- und Herbsteszeit.
Doch einmal in finsterer Wintersnacht,
durch wilde Stürme umtost und umkracht,

da stürzte der traute Birnbaumgreis,
von Kindern und Großen betrauert so heiß;
sein stilles Segnen mit aller Kraft
hat ihm viel warme Freunde geschafft.

Doch lange nicht währte Trauer und Nacht,
da mit dem Tage die Hoffnung erwacht;
denn wieder sproßte aus Grabes Tor
ein Birnbaumsprößling zur Sonne empor.

Es wachse das Reislein an Gottes Hand
mit den Kindern des Ribbeck im Havelland!

*
Es ist ungeklärt, ob Fontanes dieses Gedicht kannte; er hat wohl nach der mündlichen Überlieferung, nach einer zu Grunde liegenden Sage, seine Ballade gedichtet.


 iustitia antwortete am 31.01.05 (13:18):

Das Birnbaumgedicht eines Ribbecker Pfarrers:

Pfarrer Karl Boelcke, der in Ribbeck von 1901-1914 amtierte,
schrieb 1932 in der Zeitschrift "Märkische Heimat":

Karl Boelcke:

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
ein Birnbaum in seinem Garten stand!
So ging es viel Jahre, bis lobesam
auch des alten Birnbaums Ende kam.

Geschlechte auf Geschlecht in Ribbeck verging,
der Birnbaum wurde alt, die Birnen gering,
ja so voller bitterer Bitternis,
daß kein Kind mehr gern in die Kodden biß,

daß auch im Strumpf das größte Loch
vor ihrer Säuernis zusammen sich zog.
Doch je mehr der Jahre gingen ins Land,
desto mehr der Birnbaum wurde bekannt.

In der Schule die Kleinen, sie buchstabieren's,
zu Hause die Großen, sie deklamierens,
und immer noch, wer zum Birnbaum ging,
bald laut, bald leise also anfing:

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
in seinem Garten ein Birnbaum stand!
Kein Wunder, wenn dem, der also sang,
der Birnbaum spendete seinen Dank.

Auf Fontanes Denkmal in Neuruppin,
da legt mit liebevoll dankbarem Sinn
einen blühenden Zweig eine junge Hand,
den der Birnbaum selber zur Weihe gesandt.

Und es flüstert dabei durch den Zweig wie im Traum!
Schönen Dank, schönen Dank, sagt der Ribbecker Baum.
Doch da mahnt aus einem stillen Haus
der alte von Ribbeck: Deine Zeit ist aus!

Es fragen die Jungs und lütten Dim'n
schon lange nichts mehr nach Deinen Bim'n.
Komm nur, bist alt und morsch und schlecht,
ist Zeit, mach Platz dem jüngeren Geschlecht.

Und es kam ein mächtiger Februarwind,
der streckte den Baum auf den Rasen geschwind,
und die Kinder klagten, das Herze schwer:
He liggt nu um, wer giwwt uns nu ne Beer?

Doch sieh, aus der Wurzel und dem stillen Haus
zwei Bimbaumsprößlinge sprossen heraus.
Wachst fröhlich ihr Beiden, werdet groß und stark,
haltet wach uns die alte Sage in der Mark.

Durch Euch will nun weiter segnen die Hand
des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
*

Wer mehr von Fontane und besonders von dem "Doppeldachhaus" wissen will, hier die URL:
https://www.vonribbeck.de/In_Ribbeck/Schloss/schloss.html#Doppeldachhaus


 yankee antwortete am 31.01.05 (14:20):

Wer sich für seine Autobiographien interessiert, findet sie unter https://gutenberg.spiegel.de/fontane/zwanzig/zwanzig.htm

Dort erfährt man auch unter anderem, was sich Fontane dachte, zum einen über bestimmte Personen zum anderen wie er zu bestimmten Werken inspiriert wurde.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/fontane/zwanzig/zwanzig.htm


 Enigma antwortete am 01.02.05 (12:52):

Theodor Fontane
Lebenswege

Fünfzig Jahre werden es ehstens sein,
da trat ich in meinen ersten "Verein".
Natürlich Dichter. Blutjunge Ware:
Studenten, Leutnants, Refrendare.
Rang gab`s nicht, den verlieh das "Gedicht",
und ich war ein kleines Kirchenlicht.
So stand es, als Anno 40 wir schrieben;
Aber ach, wo bist du Sonne geblieben?
Ich bin noch immer, was damals ich war,
ein Lichtlein auf demselben Altar,
aus den Leutnants aber und Studenten
wurden Genräle und Chefpräsidenten.
Und mitunter, auf stillem Tiergartenpfade,
bei "Kön`gin Luise" trifft man sich grade.
"Nun, lieber F.., noch immer bei Wege?"
"Gott sei Dank, Exzellenz...Trotz Nackenschläge..."
"Kenn`ich, kenn`ich. Das Leben ist flau...
Grüßen Sie Ihre liebe Frau."


 Enigma antwortete am 02.02.05 (09:40):

Theodor Fontane
Jan Bart

Jan Bart geht über den Vlissinger Damm.
"Hür`Katrin, wi trecken tosamm;
En Huus, en Boot, ne Zieg`und `ne Kuh,
wat mienst, Katrin? Sy meine Fru."

Katrin an ihrem Friesrock zog,
"Ne, Jan, bist mi nich Mynherr "noog."
Der nickt und lacht: "Na, dann Adje."
Und nach Frankreich geht er und sticht in See.

Matrose, Maat, so fängt er an,
auf der zweiten Reise Steuermann,
auf der dritten Leutnant unter du Quesne,
auf der vierten Flottenkapitän.

Und als es mit England kommt zum Krieg,
wo Jan Bart erscheint, erscheint der Sieg.
Wie stolz das britische Banner auch weh`,
Jan Bart ist Herr und fegt die See.

Heute aber tritt er vor seinen Herrn,
vor Louis Quatorze, der sieht in gern.
"Willkommen, Jan Bart, in diesem Saal;
Ich ernenn`euch zu meinem Groß-Admiral."

Jan Bart verneigt sich: "Majestät,
was klug und recht ist, kommt nie zu spät."
Alles starrt auf den König, der aber lacht -
Jan Bart hat sich wieder heimgemacht.

Und am Vlissinger Damm, an alter Stell`,
sitzt wieder Katrin auf ihrer Schwell`.
Ihren Ältesten hält sie bei der Hand.
Der Jüngste liegt und spielt im Sand.

Er grüßt sie lachend und noch einmal:
"Katrin, ich bin nun Groß-Admiral.
Katrin, w`rüm biste nicht mit mir goahn?"
"Joa, wenn ick`t gewußt hätt, hätt ick`doahn."


 iustitia antwortete am 04.02.05 (13:58):

Dank an Enigma für das eigenartig schöne Gedicht „Jan Bart", das völlig anders ist als die normalen Sodlatengeichte des 19. Jahrhunderts.
**
Ich erlaube mir nachzutragen:

Zum Gedicht „Jan Bart“

E: 14. Mai 1858 (lt. Tagebuchnotiz, FAP) ein früher Entwurf; das spätere Gedicht vor dem 27. März 1888.
D: in "Zur guten Stunde". Bd. Mai 1888. !Sp. 343 f. - Gedichte 1889,1892, 1898. T: Gedichte 1898. S. 235 f.

Als Quelle für Fontane kommen zwei Vorlagen in Frage das Gedicht „Jan und Griet“ (1838) von Karl Cramer und der „Künstlerroman“ (1866) von Friedrich Wilhelm Hackländer.
Der historische Jan Bart (1651-1702) war ein Fischersohn aus Dünkirchen (das damals zu Frankreich gehörte); er diente in der holländischen und französischen Marine und wurde schließlich trotz seines bürgerlichen Standes von Ludwig XIV. zum Offizier und Geschwaderkommandanten ernannt.

Weitere Erklärungen zum Gedicht:

Vlissinger Damm: bei Dünkirchen.
Du Quesne: (1610-88): berühmter französischer Seeheld.
Louis quatorze: Ludwig XIV.
Groß-Admiral: Das Gedicht geht hier noch über die Karriere der historischen Gestalt hinaus.


 iustitia antwortete am 04.02.05 (14:03):

Weiter – von dem Ribbecker Birnenbaum...

Aus: Friedrich Delius Christian: Die Birnen von Ribbeck. Erzählung. Reinbek 1991. S. 54ff.(Auszug)

Fontanes Ballade hat das Dorf Ribbeck, vierzig Kilometer vor Berlin gelegen, berühmt gemacht. Im Frühjahr 1990, nach Öffnung der Mauer, kommen Wetberliner und Westdeutsche nach Ribbeck, um einen Birnbaum zu pflanzen undmit den Ribbeckern die neue deutsche Einhait zu feiern.
Auf einem Volksfest verschafft sich ein Ribbecker aus dem Westen Gehör mit Erbsensuppe, Freibier und Birnenschnaps.Er erzählt die Geschichte des Dorfes, erzählt, mit seinen Assoziationen kreuz und quer durch die Zeiten und Ereignisse springend, von alten und neuen Herren, vom „Mütze ziehen“, in der Zeit der Feudalherschaft. Von der Nazidektatur, dem Sozialismzus und nähert sich, mibraucht und selbtbewußt auch dem ungewohnt Neuen nach der Wende.
F. Ch. Delius' Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ wird zum Protest gegen den allgemeinen Geschichts- und Gedächtnisverlust – in einem monologischen Sprachfluß angesichts einer historischen Lage, in der es unmöglich ist, einen Punkt zu setzen.
Der Sprech- und Schreibfluß geht also von Kapitel zu Kapitel weiter, hier im Originaldruck wiedergegeben:

Delius:
... ist ja schon gut, ist nicht persönlich gemeint, ihr sitzt nicht in Brüssel und Bonn, ihr sitzt in Berlin oder hier auf den Bänken, die ihr mitgebracht habt, und spen­diert ein Fest, von dem man noch lange reden wird, und wir reden, und ich höre nicht auf zu reden, weil alles neu oder vielleicht doch nicht so neu, sondern nur anders, und wir saufen mit euch, und es ist immer noch Bier da und Plastikbecher, so viele Becher, ein Bier noch, na gut, das letzte, wer heute nicht feiert, ist ein Idiot, das sag ich euch, und schön, daß ihr hier seid,

und alles nur, weil eine Verwandte der Ribbecks, ein Fräulein von Witzleben, aus Anlaß der Feier, die Ribbecks, weil sie laut einer Urkunde fünfhundert Jahre auf Ribbeck saßen, im Jahr 1875 auslichteten, die Sage aufgriff vom freundlichen Herrn, der Birnen verteilte und mit einer Birne sich begraben ließ, und in Reime setzte, die keiner mehr kennt, Zu Ribbeck an der Kirche ein alter Birnbaum steht, der mit den üpp'gen Zweigen der Kirche Dach umweht, und mit diesen Versen die Legende schriftlich zubereitete, die ein Lehrer in anderer Form als Sage aufschrieb, die schließlich auch Herrn Theodor Fontäne in der Potsdamer Straße in Berlin bekannt wurde, der sich den Stoff nicht entgehen ließ und,

obwohl er wußte, daß ein Birnenkern, tief mit dem Sarg in die Erde versenkt, nicht die Kraft hat, ans Licht zu kommen und ein Sprößling zu werden und zwischen Gräsern und Keimen den Weg nach oben zu finden als Baum, den Gänsekiel nahm im Jahr 1889 und die Sage ausschmückte in der Form, die heute alle aus Lesebüchern kennen,

bis auf die Kinder des nun versinkenden Staates der Arbeiter und Bauern, die laut Lehrplan und Lehrern nichts hören sollten von freundlichen Feudalherren, Ribbeck auf Ribbeck, das wai die Steinzeit, auch nicht die Kinder nebenan in der Oberschule von Retzow, auch nicht, wenn sie aus Ribbeck kamen und das Gedicht als Gerücht kannten und in der Klub-Gaststätte und Disco «Theodor Fontane» in einer Ecke an der Wand finden konnten, in schwer lesbarer Schmuckschrift gemalt neben ein koloriertes Bild von Kirche und Baum,
(Forts. folgt.)


 iustitia antwortete am 04.02.05 (14:07):

Delius: die Birnen von Ribbeck. Erzählung.

(Forts.)

da war der alte Rittmeister Ribbeck, der die Schüler lieber beim Distelstechen als beim Gedichtlernen
sah, ganz auf Parteilinie mit unserm Ministerium für Erziehung, Gehorsam, Ordnung, Pünktlichkeit, wenn die für 15 Uhr bestellte Kutsche zehn Sekun­den zu spät vorfuhr, knallte wie ein Peitschenhieb der Befehl: Zurück in den Stall!, ausspannen, ab­schirren, und dann der Schrei übern Hof: In fünf Minuten bist du wieder hier, aber mit der andern Kutsche!,

was soll bei so viel Fahnenappell noch ein Birnengedicht, einmal im Jahr beim Schützenfest von Stahlhelm und Kriegerverein kommt Ribbeck und zielt, und wenn er gut getroffen hat, zeigt er seine beste Laune vor und wirft für einen Taler Bonbons in die Runde und freut sich, wie die Kinder drum balgen, was soll da ein Gedicht mit den Birnen, Geschenke gibts nicht umsonst,

alles erfunden, von Dichtern ausgedacht, und hat doch die starren Lehrpläne überlebt, die Wirkung der Dichtung bis heute der Trubel um Ribbeck, ein Auto nach dem ändern, und immer Besuch aus dem Westen mit Fotoapparaten, Videofilmen und Tonbandkassetten, und Baum, Kirche, Pflegeheim, das früher das Schloß war, sind an jedem Wochenende umlagert, und alle fassen sich an den Kopf, wenn sie den Fahrstuhlschacht sehen, der ans Schloß geklatscht wurde, mit einem Fahrstuhl für die Krankenbetten, der nie funktioniert hat, weil der Strom nicht reichte,

alle wollen sie was hören von Ribbeck und Birnen und uns, uns soll es recht sein, daß wir hier leben und nicht in Seltbelang, Mangelshorst oder Wustrow, le­ben von einer schönen Erfindung, die wir nicht ver­gessen haben und die ihr nicht vergessen habt,

es lebe der Birnbaum, prost!, und ich weiß nicht, wo ich den Becher abstellen soll, genug Birnengeist und Bier in den Gliedern, alles schwankt in Bewegung und stockt in Bewegung, ich bin wo ich war, die Uhren halten am, weil sie die Zeit nicht mehr fassen, und im Kopf schieben die Tage zu schnell sich übereinander, kein Sitzplatz frei unter den Schirmen, kein Augenblick Ruhe, es schwankt

der Boden, den wir nie unter der Frage wem der gehört begutachtet haben, die Sache mit Eigentum und Besitz längst vergessen, sondern immer unter dem Diktat des Ertrags oder unter den vom Plan vorgeschriebenen Mengen an Kali, Stickstoff, Kalk, Phosphor, Größe und Menge zählten mehr als das Gleich­gewicht und die Fruchtfolge, der vollgedüngte, der ausgelaugte, der steinige, der immer noch trächtige Boden,

über den ich die Maschinen jage, gehört dem Volk, mir und dir und uns, dachte ich, aber wer ist jetzt das Volk, das vereinigte, streitende Volk, geschäftstüchtig oder geschäftsängstlich, ist der letzte Ribbeck das Volk, die geflohenen Bauern, die Flüchtlinge aus dem Osten, diein Ribbeck ein Stück Land gefunden haben, gehört de Boden allen, die an der Genossenschaft beteiligt sind (...)
*
URL - der nachgepflanzte Birnbaum...

Internet-Tipp: https://www.vonribbeck.de/In_Ribbeck/Birnbaum-in-Ribbeck-w.jpg


 iustitia antwortete am 04.02.05 (14:10):

Noch ein Gedicht über das Thema "Ribbeck..."

Sarah Kirsch:
Haus Ribbeck

Wir sehen aus der Entfernung den Landsitz
Des Herrn von Ribbeck zu Ribbeck.
Die Bäume werden noch immer Birnen tragen
Aber das Schloß erscheint uns
Wenn wir vorüber fahren
Wie ein glitzerndes Trugbild.
 
Alles ist unerreichbar hinter den Hecken
Rankenden Blumen flatternden Blättern
Das große lockende geschwungene Tor
Wird uns immer verschlossen sein
Obwohl wir den freundlichen Namen
Klingen hörten vor langer Zeit.
*
Der Text ist das zweite Gedicht des Zyklus „Reisezehrung“; in: S. Kirsch: Erdreich. Gedichte. 1982. S. 38.
*
URL - die Dichterin Sarah Kirsch

Internet-Tipp: https://www.goethe.de/it/pal/gif/kirsbio.jpg


 Enigma antwortete am 06.02.05 (19:28):

Ich habe noch ein Gedicht von Fontane gefunden, das mich irgendwie anrührt, vielleicht, weil ich mir denke, dass die darin beschriebene Situation nicht selten vorkam zu der Zeit. Die Frauen "erduldeten" so viel. Die Gründe hierfür sind für uns nicht mehr neu und schon vielfach diskutiert worden. Darum lasse ich auch nur das Gedicht selbst sprechen:

Theodor Fontane
Und alles ohne Lieb

Die Mutter spricht: "Lieb Else mein,
wozu dies Grämen und Härmen?
Man lebt sich ineinander ein,
auch ohne viel zu schwärmen;
Wie manche nahm schon ihren Mann,
daß sie nicht sitzen bliebe,
und dünkte sich im Himmel dann,
und - alles ohne Liebe."
Jung-Else hört`s. Sie schloß das Band,
das ewge, am Altare,
und lächelnd nahm des Gatten Hand
den Kranz aus ihrem Haare;
Ihr war`s, als ob ein glühend Rot
sich auf die Stirn ihr schriebe,
sie gab ihr Alles, nach Gebot,
und - alles ohne Liebe.
Der Mann ist schlecht: er liebt das Spiel
und guten Trunk nicht minder.
Sein Weib zu Hause weint zu viel,
und ewig schrein die Kinder;
Spät kommt er heim, er kost, er schlägt,
nachgiebig jedem Triebe;
Sie trägt`s, wie nur die Liebe trägt,
und - alles ohne Liebe.
Sie wünscht sich oft, es wär vorbei,
wenn nicht die Kinder wären.
So aber sucht sie stets aufs neu
zum Guten es zu kehren;
Sie schmeichelt ihm, und ob er dann
auch kalt beiseit sie schiebe,
sie nennt ihn "ihren liebsten Mann"
und - alles ohne Liebe.

Internet-Tipp: https://www.herzog-art.de/F1.htm


 iustitia antwortete am 07.02.05 (15:30):

Es gibt noch mehr "soziale Balladen", die Fontane in seiner Frühzeit vortrug , meist im Berliner "Tunnel über der Spree", und fast alle nicht in seinen späteren Gedichtbüchern veröffentlichte.
*
THEODOR FONTANE: DER TRINKER

Sie schicken sich zum Festmahl an
Und schenken jubelnd ein;
„Vergnügen“ suchen sie, doch ich
„Vergessen“ nur im Wein.
Von Not und Elend will ich frei
Und frei von Sorgen sein,
Von Armut, Frost und Hunger frei,
Und darum schenk ich ein!

Durch meine Lumpenkleidung pfeift
Der rauhe, kalte Wind,
Seit ich mein letztes Brot verzehrt,
Zwei Tag vorüber sind; -
Ein einzig Glas - und sieh, ich bin
Mit Purpur angetan,
Und seh den leeren Tisch besetzt
Wohl gar mit Goldfasan.

Mein Weib, zerlumpt, erbettelt sich
Ihr Brot von Haus zu Haus
Und ruht auf bloßer Erde nachts
Bei ihren Kindern aus.
Sie trinkt wie ich; warum? - es hilft
Der Trank ihr ebenso,
Die blassen Kinder scheinen ihr
Statt hungrig - satt und froh.

Was auf dem Leib, was in dem Leib,
So habt gut reden ihr;
Doch anders klang es, wärt ihr so
Halbnackt und arm wie wir.
Daß elend ich, - was liegt daran!
Drum lebt ja unserein,
Brot ist nicht da; - komm Weib und trink
Und laß uns lustig sein!-
*
Das Gedicht gehört zu Fontanes Übertragungen aus dem Englischen. Fontane schrieb selber:
"Nebst Elliott war es unter andern Robert Vicoll, der als jugendlicher Redakteur der Leeds-Times mit geharnischten Artikeln in Vers und Prosa gegen die Korngesetze focht. Charakteristisch für ihn mag folgendes Lied sein, das er als Dichter der Armen, deren Los er aus eigner Erfahrung kannte, in ergreifender Weise schrieb."
(Th. F.: Gedichte. Große Brandenburger Ausgabe. Bd.2. S. 299f.; im berühmten Berliner Dichter-Club „Tunnel“ las Fontane das Gedicht am 30. Juli 1843.)
*
URL - Mitgliedskarte im "Tunnel"

Internet-Tipp: https://www.bildung-brandenburg.de/bbs/schule/projekte/fontane/pic/12b.jpg


 Enigma antwortete am 08.02.05 (09:18):

Theodor Fontane
Barbara Allen

Es war im Herbst, im bunten Herbst,
wenn die rotgelben Blätter fallen,
da wurde John Graham vor Liebe krank,
vor Liebe zu Barbara Allen.

Seine Läufer liefen hinab in die Stadt
und suchten, bis sie gefunden;
"Ach, unser Herr ist krank nach dir,
komm, Lady, und mach ihn gesunden."

Die Lady schritt zum Schloß hinan,
schritt über die marmornen Stufen,
sie trat ans Bett, sie sah ihn an:
"John Graham, du ließest mich rufen."

"Ich ließ dich rufen, ich bin im Herbst,
und die rotgelben Blätter fallen -
Hast du kein einziges Wort für mich?
Ich sterbe, Barbara Allen."

"John Graham, ich hab ein letztes Wort.
Du warst mein all und eines;
Du teiltest Pfänder und Bänder aus,
mir aber gönntest du keines.

John Graham, und ob du mich lieben magst,
ich weiß, ich hatte dich lieber,
ich sah nach dir, du lachtest mich an
und gingest lachend vorüber.

Wir haben gewechselt, ich und du,
die Sprossen der Liebesleiter.
Du bist nun unten, du hast es gewollt,
ich aber bin oben und heiter."

Sie ging zurück. Eine Meil`oder zwei.
Da hörte sie Glocken schallen;
Sie sprach:"Die Glocken klingen für ihn,
für ihn und für - Barbara Allen.

"Liebe Mutter, mach ein Bett für mich,
unter Weiden und Eschen geborgen,
John Graham ist heute gestorben um mich,
und ich sterbe um ihn morgen."

...fast so traurig wie bei Romeo und Julia..

iustitia, gab es die Personen wirklich?
Von einer früheren Reise nach Schottland kenne ich einen John Graham nur als schottischen Freiheitskämpfer während der englischen Invasion in Schottland....


 iustitia antwortete am 08.02.05 (10:18):

"BARBARA ALLEN"
(Angaben nach der Großen Brandenburger Ausgabe. Gedichte. Bd. 1. S. 602):

Das Gedicht gehört zu den Liedern und Balladen, frei nach englischen Vorlagen:
»Barbara Allen« ist eine Bearbeitung der altschottischen Ballade »Sir John Grehme and Barbara Allen« aus Percys »Reliques of Ancient English Poetry« (Bd. 3). Fontane zitierte in seinem Aufsatz (1861) »Barbara Allen« als Beispiel eines Liebesliedes, in dem sich »viele der besten Eigenschaften schottischer Volksdichtung vereinigt finden«. Es entstand 16. April 1855 und Fontane hat das Gedicht vermutlich im April 1858 in London für die »Argo« überarbeitet. Im Tagebuch (FAP) die Notizen am 13. April: »Gearbeitet (englische Balladen)«, 14. April: »An [den Freund Bernhard von] Lepel geschrieben und die englischen Balladen für die »Argo« beigeschlossen.«
(„Argo“ war das erste Jahrbuch des »Tunnels«, zu dem unter anderem Theodor Storm und Paul Heyse Beiträge liefern. Von ihm selbst erscheinen zwei Erzählungen: »Tuch und Locke« sowie »Goldene Hochzeit«.)
Aus Lepels Nachlaß blieb die Handschrift erhalten, die Satzvorlage für die »Argo« war; in dieser Handschrift nur eine Abweichung vom Erstdruck: 7,4 „Ich bin oben und bin heiter“.
In seiner Rezension der Gedichte von Alfred Tennyson (in: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes. Nr. 15, 27. Juli 1854) gibt Fontane in der Fußnote folgende Übersetzung der letzten Strophe:

„Mutter, Mutter, mach mein Bett,
O mach es weich und eng,
Mein Liebster ist heut für mich gestorben,
Ich sterbe morgen um ihn.“


 Enigma antwortete am 09.02.05 (10:33):

Guten Morgen,

danke, iustitia...

Und nochmal was:
Theodor Fontane
Der 6. November 1632
(Schwedische Sage)

Schwedische Heide, Novembertag,
der Nebel grau am Boden lag.
Hin über das Steinfeld von Dalarn
holpert, stolpert ein Räderkarrn.

Ein Räderkarrn, beladen mit Korn;
Lorns Atterdag zieht an der Deichsel vorn,
Niels Rudbeck schiebt. Sie zwingen`s nicht,
das Gestrüpp wird dichter; Niels aber spricht:

Buschginster wächst hier über den Steg.
Wir gehn in die Irr`, wir missen den Weg,
wir haben links und rechts vertauscht -
Hörst du, wie der Dal-Elf rauscht?"

"Das ist nicht der Dal-Elf, der Dal-Elf ist weit,
es rauscht nicht vor uns und nicht zur Seit`,
es lärmt in Lüften, es klingt wie Trab,
wie Reiter wogt es auf und ab.

Es ist wie die Schlacht, die herwärts dringt,
wie Kirchenlied es dazwischenklingt.
Ich hör`in der Rosse wieherndem Trott;
Eine feste Burg ist unser Gott!"

Und kaum gesprochen, da Lärmen und Schrein,
in tiefen Geschwadern bricht es herein,
es brausen und dröhnen Luft und Erd`,
vorauf ein Reiter auf weißem Pfers.

Signale, Schüsse, Rossegestampf,
der Nebel wird schwarz wie Pulverdampf,
wie wilde Jagd, so fliegt es vorbei -
zitternd ducken sich die zwei.

Nun ist es vorüber ...Da wieder mit Macht
rückwärts wogt die Reiterschlacht,
und wieder dröhnt und donnernd die Erd`,
und wieder vorauf das weiße Pferd.

Wie ein Lichtstreif durch den Nebel es blitzt,
kein Reiter mehr im Sattel sitzt.
Das fliehende Tier, es dampft und raucht,
sein Weiß ist tief in Rot getaucht.

Der Sattel blutig, blutig die Mähn`,
ganz Schweden hat das Roß gesehn -
auf dem Felde von Lützen am selben Tag
Gustav Adolf in seinem Blute lag.


Das muss sich auf die Schlacht von Lützen beziehen, bei der zwar die Protestanten siegten, aber dieser Sieg teuer bezahlt war, weil Gustav Adolf von Schweden tödlich getroffen worden war.


 iustitia antwortete am 11.02.05 (00:22):

Theodor Fontane: Der Taugenichts

Bei Gott, ich war ein guter Junge,
Als mich der Bröder eingesetzt,
Obschon ich oft mit scharfer Zunge
Den lieben Lehrern zugesetzt,
Obschon sie männiglich zu leiden
Vom Hohn und Spott des kleinen Wichts,
Obschon ich hieß Herr Unbescheiden
Und schließlich gar ein - Taugenichts.

Doch jeder meiner Brüder nannte
Mich seinen Freund und Hirt und Hort,
Und hatte, als man mich verbannte,
Manch liebevolles Trosteswort.
Sie sprachen all: »Aus deinen Augen,
Aus jedem deiner Züge spricht's:
Du magst denn doch wohl etwas taugen,
Du fortgejagter Taugenichts.«

Ich blieb mir treu; ich böser Junge
Hab auf der Lebensschule jetzt,
Nach altem Brauch mit scharfer Zunge,
Den lieben Lehrern zugesetzt.
Mir dienten ihre Narreteien
Zum Vorwurf manchen Spottgedichts,
Drum hör ich schon den Rektor schreien:
»Ins Karzer mit dem Taugenichts.«

Oh, möchten dann mit milden Worten
Sich meine Leidensbrüder nahn,
Du deutsches Volk von allen Orten,
Für das ich tat, was ich getan;
Und sagen mir mit trüben Augen:
Aus jedem deiner Lieder spricht's:
Du magst denn doch wohl etwas taugen,
Du eingesperrter Taugenichts.«
*
„Bröder“ – ungeklärt; wahrscheinlich ein Eigenname; wohl ein Pedell, der hier den Schüler in den Karzer sperren muss.
*
Entstanden 1841/42; aus dem Nachlass veröffentlicht erst 1924. In einer abgewandelten Form schrieb Fontane 1841 für seinen Freund Wilhelm Wolfsohn die letzten Zeilen so:

- Oh, sprächen sie mit feuchten Augen:
„Aus jedem deiner Züge spricht’s,
du magst denn doch wohl etwas taugen,
du widerspenst’ger Taugenichts!“
*
Fontane erzählt hier nicht nur eine Schulgeschichte mit einem als „Taugenichts“ verschrienen Schüler; sondern er weitet die Szenerie aus – zu einer gesellschaftspolitischen Auffassung: Er erhofft sich Zustimmung zu kritischen Gedichten. In seinen republikanischen, „vormärzlichen“ Gedichten bis 1849 hat er etliche revolutionäre, poetische Themen aufgegriffen, die auch hier noch vorgestellt werden sollen. (Th. Fontane: GBA. Gedichte. Bd. 2. S. 276f; 604f.)
*
URL - Bild einer Fontane-Schule. Ja, Th. F. hat vielfach überzeugende pädagogische Ideen formuliert…

Internet-Tipp: https://home.t-online.de/home/theodor-fontane-schule-cottbus/logo1.jpg


 Enigma antwortete am 13.02.05 (12:02):

Theodor Fontane
Glaube an die Welt

Laß ab von diesem Zweifeln, Klauben,
vor dem das Beste selbst zerfällt,
und wahre dir den vollen Glauben
an dieser Welt trotz dieser Welt.

Schau hin auf eines Weibes Züge,
das lächelnd auf den Säugling blickt,
und fühl`s: es ist nicht alles Lüge,
was uns das Leben bringt und schickt.

Und, Herze, willst du ganz genesen,
sei selber wahr, sei selber rein!
Was wir in Welt und Menschen lesen,
ist nur der eigene Widerschein.

Beutst du dem Geiste seine Nahrung,
so laß nicht darben sein Gemüt,
des Lebens höchste Offenbarung
doch immer aus dem Herzen blüht.

Ein Gruß aus frischer Knabenkehle,
ja mehr noch eines Kindes Lall`n
kann leuchtender in deine Seele
wie Weisheit aller Weisen fall`n.

Erst unter Kuß und Spiel und Scherzen
erkennst du ganz, was Leben heißt;
o lerne denken mit dem Herzen
und lerne fühlen mit dem Geist.


 iustitia antwortete am 13.02.05 (12:32):

Nach Enigmas schönem Beispiel hier noch ein fast unbekannter politisch-satirischer "Fontane":

THEODOR FONTANE: TUT BUSSE!

Den Sack herbei, das Büßerkleid!
Mit Fasten nur und Beten
Wird allem Unheil dieser Zeit
Der Natterkopf zertreten.
Laßt Weib und Kind, und Kind und Weib,
Und so, in frommster Muße,
Zergeißelt euch an Seel und Leib, -
Tut Buße, all, tut Buße!

Tu Buße, Volk! bis Reueschmerz
Sich brennend dir verkündigt;
An jenem Tag, in jenem März
Hast du zu schwer gesündigt;
Erkenne, daß dein bißchen Recht
Auf bloßem Irrtum fuße;
Arbeite viel und esse schlecht, -
Tu Buße, Volk, tu Buße!

Tu Buße, Fürst! ob da und hie
Auch manches dir gelungen,
Das Schwert, das dir der Herr verlieh,
Hast du zu schwach geschwungen;
Du schrittst nur zögernd zu Schrapnells,
Und zu Kartätschen-Gruße,
Du warst kein Petrus, warst kein Fels, -
Tu Buße, Fürst, tu Buße!

Das führt die alte, gute Zeit
Mit nächstem dann zurücke:
Hier - Glanz und Pracht und Herrlichkeit,
Dort - Elend an der Krücke.
Weltordnung, jetzund irr gelenkt,
Und lahm auf jedem Fuße,
So wird sie wieder eingerenkt, -
Tu Buße, Welt, tu Buße!

(1849 geschrieben; aus: GBA Gedichte II, S. 389f. Aufbau-Verlag GmbH, Berlin)
*
Erläuterung folgt...


 iustitia antwortete am 13.02.05 (12:38):

Ergänzung zu "Tut Buße!":

Diesen eigenartig provozierenden Text möchte man eher Heinrich Heine zuschreiben; aber er ist von Fontane, aus seinen revolutionären Tagen, der vormärzlichen Zeit um 1848 in Preußen.

Dazu ein Hinweis auf eine Interpretation von einem Fontane-Fachmann: Helmuth Nürnberger

Fontanes Gedicht, das zu seinem Lebzeiten ungedruckt blieb, hat sich im Nachlaß seines Freundes Bernhard von Lepel erhalten und ist 1928 in der Vossischen Zeitung zuerst veröffentlicht worden. Entstanden ist es anscheinend im August 1849, als in Preußen und in anderen Ländern des Deutschen Bundes der nach den Märztagen 1848 in Gang gekommene gegenrevolutionäre Prozeß seinem Höhepunkt zustrebte. Der unmittelbare Anlaß für die Niederschrift ist jedoch so wenig bekannt wie das genaue Datum. Die tiefere Ursache bildet in jedem Fall der mit den Waffen erzwungene, von Fontäne mit zornigem Widerwillen erlebte Sieg der konservativ-monarchischen Mächte. Dieser Erfolg hat sich dem jungen Literaten zweifellos auch als ein Triumph falscher und lügnerischer Worte dargestellt, die in patriotischer oder frömmelnder Phraseologie der Gewalt sekundierten. Insofern — aber das bleibt Spekulation — könnte eine amtliche oder halbamtliche Verlautbarung, ein Zeitungsartikel, vielleicht in der Neuen Preußischen [Kreuz-]Zeitung, oder eine Predigt auslösend gewirkt haben.
(…)
Anderthalb Jahrhunderte nach dem ersten Erscheinen des Blatts und der Entstehung von „Tut Buße!“ mag es angezeigt sein, sich manchen mittlerweile in Vergessenheit geratenen Umstands neu zu vergewissern. Eigentliche Verständnisprobleme werfen Fontanes Verse jedoch auch heute nicht auf: Zu unverhohlen ist die Ironie, mit der er von Fasten und Beten als Heilmittel gegen eine rhetorisch unterstellte Verirrung spricht, als daß seine wahre Meinung zweifelhaft sein könnte. Modifiziert übernimmt er die Sprachklischees der Sieger, um sie zu entlarven: Der »Natterkopf« (4), das ist die Hydra oder der Drachen der Revolution. Das Volk irrt nicht, wenn es sein »bißchen Recht« (13), das wiederholt gegebene und niemals eingelöste Konstitutionsversprechen, zu erwirken sucht. Unzumutbar ist die Aufforderung, Arbeit und Hunger als Instrumente der Buße zu verstehen, besonders für den, der die damaligen sozialen Verhältnisse in ihrer bedrückenden Wirklichkeit kennt. (Fontane kannte sie: Die Apotheke in der Nähe des Alexanderplatzes, in der er zuletzt tätig war, lag nicht zufällig im Zentrum der Barrikadenkämpfe.)
Unmißverständlich ist auch die Kritik am Fürsten, er habe den ihm von Gott verliehenen Waffen nur zögernd gegen das eigene Volk Gebrauch gemacht. Gemeint ist hier zunächst Friedrich Wilhelm IV, der sich in einer auch für mache seiner Minister anachronistisch anmutenden Weise auf das Gottesgnadentum der Könige berief und zugleich in seinem politischen Verhallten irritierend schwankte.
(…)
(Aus: Interpretationen: Gedichte von Theodor Fontane. Hrsg. von Helmut Scheuer. Stuttgart 2001. S. 36ff.)

URL - Friedrich Wilhelm IV:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/Nfh3YQpsW


 iustitia antwortete am 13.02.05 (23:08):

THEODOR FONTANE:
A N E M I L I E
18. Dezember 1855
Dienstag abend

Im Cafe Divan wieder einmal
Starr ich still in die flammenden Leuchter,
Das Herz wird weihnachts-sentimental
Und die Wimpern werden feuchter;

Doch zwischen die Tränen tritt Freund Humor,
Ein gemütlich-lustiger Lerse*.
und nur ein leiser Trauerflor
Legt sich um die lachenden Verse.

Ich seh im Geist ein rumpliges Haus
Und eine rumplige Stube,
Drei Frauen gehen ein und aus.
Und der vierte ist mein Bube;
Die älteste Frau hat schwarzes Haar
Und die jüngste hat es nicht minder,
Das macht, es ist, wie's immer war,
Es ähneln sich Mutter und Kinder.

Die dritte sieht ihren Knaben an,
Unter Lachen und unter Weinen,
Sie denkt: ich hab eine Art von Mann
Und hab auch wieder keinen;
Der Junge spielt und fährt über See,
Um seinen Vater zu suchen,
Er ruft: „Lieb Mutter mein, ade,
Ich hole den Butterkuchen.“

Der Vater ach, ihm ist nicht nett,
Er muß sich wehren und stemmen.
Er saß viel lieber im Kabriolett
Und passierte Friesack und Cremmen;
Er spränge gern zum Wagen hinaus
Am Kanal und der Kirchplatz-Ecke,
Und schleppte gern in das rumplige Haus
Den besten der Ruprecht-Säcke.

Es kann nicht sein; am Londoner Strand,
In Simpsons stolzer Taverne,
Legt an die Stirn er seine Hand
Und träumt sich ferne, ferne.

Er sieht, durch Nebel und über das Meer,
Eine Fülle lieber Gesichter,
Und heimisch wird es um ihn her
Als brennten die Weihnachtslichter.
*
* Café Divan = Im Zentrum von London, am "Strand", in der Nähe des Trafalgar Square
* siehe Götz von Berlichingen. (Anmerkung für unliterarische Leser von Th. F.)
* Die drei genannten sind die Ehefrau Emilie (mit ihrem Sohn George); ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin Elise Fontane in Neuruppin.
GELEGENHEITSGEDICHT AUS DEM NACHLASS. Aus: GEDICHTE. BD. 3. 1995. S. 71F.)
*


 iustitia antwortete am 14.02.05 (13:11):

Ein Gedicht über Fontanes Landschaft....:

Heinz Kahlau:
Inselstadt in der Mark

Mittägliche Havelstille,
Sonnenglast und Winkelgassen.
Bilderbogenstadtidylle.
Katzen, die sich streicheln lassen.

Entenpulk und Fischerkähne,
Netze, die im Winde schwingen.
Wasser, wie gemacht für Schwäne,
Glitzerkleine Fische springen.

In der weißgetünchten Mauer
hinter den Hortensienstöcken
eine Alte auf der Lauer,
schwarzgekleidet zum Erschrecken.

Von zwei überdicken Wesen,
hinter blanken Butzenscheiben,
wird ein Hirtenbrief gelesen,
wie ihn Tote manchmal schreiben.

In des alten Birnbaums Zweigen
sitzt ein blaubehoster Junge.
Lang im mittäglichen Schweigen
zeigt er seine freche Zunge.
*
URL: abendliche Havellandschaft von Walter Leistikow:
https://www.leistikow-rechtsanwaelte.de/Havel2.jpg

Internet-Tipp: https://www.leistikow-rechtsanwaelte.de/Havel2.jpg


 iustitia antwortete am 14.02.05 (13:21):

Autoren über Theodor Fontane.

Thomas Mann (1875-1955):
Man vergleiche das blasse, kränklich-schwärmeri­sche und ein bißchen fade Antlitz von dazumal mit dem prachtvollen, fest, gütig und fröhlich dreinschauenden Greisenhaupt, um dessen zahnlosen, weiß überbuschten Mund ein Lächeln rationalisierter Heiterkeit liegt, wie man es auf gewissen Altherren-Portraits des achtzehn­ten Jahrhunderts findet, - und man wird nicht zweifeln, wann dieser Mann und Geist auf seiner Höhe war, wann er in seiner persönlichen Vollkommenheit stand.
(...)(„Der alte Fontane". Essay, 1910)
*
Georg Lukács (1885-1971)

So wird Fontane - je reifer, desto mehr - zur schwankenden Gestalt, zu einem Menschen und Schriftsteller, der für keine der kämpfenden Klassen oder Parteien wirklich zuverlässig ist. Er ist durch Gefühlstraditionen seiner Entwicklung, durch ästhetisch-moralische Sympathien am meisten an den märkischen Adel gebunden. Die Produktion jedoch, die seine skeptische Ironie entstehen läßt, lockert, ja zerreißt objektiv dieses subjektiv so fest geknüpfte Band. („Der alte Fontane“; 1950)

*
Samuel Beckett (1906-1989):
Der Schauspieler Krapp: Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal Effi las, eine Seite pro Tag, wieder unter Tränen. Effi (Pause). Hätte mit ihr glücklich sein können, da oben an der Ostsee, und die Kiefern und die Dünen.
(Aus: S.B.: „Das letzte Band", 1959)
*

Alfred Döblin (1878-1957):

Welches Vergnügen hat der gebildete Spießbürger, der Mann in besseren Verhältnissen, an diesen Schilderun­gen der ‚kleinen Freuden und Leiden' des Menschen. Dies Vergnügen legt bloß die ganze Entartung, die der Bürger in den verflossenen Jahrzehnten erfahren hat (er hat sie nicht erlitten, es ging schmerzlos). Der Bürger sagt trium­phierend vor diesen Werken: so und nicht anders sind die Menschen, die geschraubten Bücher lügen; da gibt es nichts von Dämonie.
(Aus: „Der Maskenball", 1921)
*
URL - zwei Porträts von Fontane:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/jlyiWKCTv


 iustitia antwortete am 16.02.05 (13:28):

Hier soll für einige Texte Emilie Rouanet-Kummer, verheiratete Fontane, (1824-1902) im Mittelpunkt stehen.
Fontane konnte seine Emilie erst am 16. Oktober 1850 heiraten, nachdem er eine Anstellung im „Literarischen Kabinett“ erhalten hatte. Von der fünfjährigen Verlobungszeit weiß man, dass Fontane damals Vater wurde von zwei unehelichen Kindern mit einer unbekannt gebliebenen Frau in Dresden.
(Emilie selber war uneheliches Kind einer Pfarrerswitwe, aus der Verbindung mit einem Militärarzt).

Theodor Fontane: AN EMILIE:
Statt eines Briefes


Du siehst, es bleibt mit mir beim alten
Trotz mancher bittern Neckerei;
Versprechen - und Versprochnes halten –
Ist mir noch immer zweierlei.

Und daß dir alle Zweifel schwinden
An meinem Unverändertsein,
Stell ich mich mit Entschuldigungsgründen
Ob meines Schweigens bei dir ein.

Ich habe sechsmal Platz genommen,
Sechsmal die Feder zugestutzt,
Doch was mir in den Sinn gekommen,
War immer dumm und abgenutzt.

Von deutsch-katholischen Vereinen,
Draus mancher Stoff in Masse fischt,
Sag selber - war es nicht zum Weinen,
Hätt ich dir davon aufgetischt!

Schon höhnt ich mich und all solch Wissen,
Als mir ein Kraftgedanke kam
Und ich die »Sehnsucht, dich zu küssen«,
Zum Stoffe meines Briefes nahm.

Kaum aber hat ich angefangen,
Packt ich schon lächelnd wieder ein; -
Ein Kuß - dies mündlichste Verlangen –
Muß mündlich vorgetragen sein.
- Nicht wahr?!

(1845 entstanden; aber erst mit den Gelegenheitsgedichten aus dem Nachlass herausgegeben; aus: Th. F.: Gedichte. Bd. 3. S. 112f.)
*
Anmerkungen:

deutsch-katholische Vereine: Fontane flocht in viele Texte, Gedichte, Briefe so geschickt kulturell wichtige, politische oder religiöse Informationen ein, dass ein Leser veranlasst ist, selber Bewertungen zu erschließen.
Hier ist gemeint: Auf Initiative vor allem von Johannes Ronge und als Protest gegen die Ausstellung des sog. Heiligen Rockes in Trier (seit Oktober 1844) wurden 1845 „deutsch-katholische Vereine und Gemeinden“ gegründet, zu denen sich die Kritiker der Katholischen Kirche zusammenschlossen. In den katholischen Ländern wurden diese Vereine verboten, in Preußen jedoch geduldet. Sie gingen nach der Revolution von 1848/49 in der „Freireligiösen Bewegung“ auf. Später fanden sich viele dieser „ungläubigen“ Katholiken in der altkaltholischen Kirche (nach dem schmählichen Dogma der Unfehlbarkeit des Römischen Papstes…).
URL – ein Buch in dem die Lebensleistung Emilie Fontanes im Vordergrund steht: Gotthard Erler: Das Herz bleibt immer jung – Emilie Fontane. Aufbau Taschenbuch 1138.

Internet-Tipp: https://www.perlentaucher.de/grafik/cover/2/9802.jpg


 iustitia antwortete am 20.02.05 (13:04):

Eheszenen aus dem November/Dezember 1849:

Theodor Fontane: Mein Herze...

Mein Herze, glaubt's, ist nicht erkaltet,
Es glüht in ihm so heiß wie je,
Und was ihr drin für Winter haltet,
Ist Schein nur, ist gemalter Schnee.

Doch was in alter Lieb ich fühle,
Verschließ ich jetzt in tiefstem Sinn.
Und trag's nicht fürder ins Gewühle
Der ewig kalten Menschen hin.

Ich bin wie Wein, der ausgegoren:
Er schäumt nicht länger hin und her,
Doch was nach außen er verloren,
Hat er an i n n r e m Feuer mehr.
*

Hier bezieht sich Fontane poetisch auf Vorwürfe seiner Ehefrau Emilie, die bei ihm Kälte und Nüchternheit feststellte; am 8. November 1849 schrieb sie an ihre Pflegemutter Bertha Kummer:
„Von Theodor erhielt ich gestern drei Zeilen (gemeint: Strophen), worüber ich mich recht geärgert habe, so kalt und nüchtern waren sie“.


 iustitia antwortete am 20.02.05 (13:11):

In Erinnerung an Peter Paul Fontane:

Emilie, mit Kindererziehung beschäftigt und in steter Sorge um die Gesundheit ihres Mannes, hat in dieser Zeit (bis 1855), wie gewohnt, reichlich mit sich selber zu tun: Seit Jahresanfang 1853 ist sie erneut schwanger; sie hat, wie Freund von Lepel von Th. F. mit dem 31. Juli erfährt, »ihre schlanke Figur bereits wieder eingebüßt und das Marterbett [das Wochenbett] vor Augen«.

Am 14. Oktober 1853 bringt sie ihren dritten Sohn zur Welt: Peter Paul. Doch der Kleine kränkelt den Winter hindurch und stirbt am 6. April 1854 an Zahnkrämpfen.
An Theodor Storm schreibt Fontane: „[...] außer Vater und Mutter wohnte ein besoffner Leichenkutscher und die untergehende Sonne dem Begräbnis bei. Der Kreis der Erlebnisse ist nun so ziemlich geschlossen, nur das eigne Sterben fehlt noch.“
Die Todesnacht hat er für sich und seine Frau in dem Gedicht »Der Gast« gestaltet und später in seiner Erzählung »Ellernklipp« die Tragik eines nicht lebensfähigen Kindes verallgemeinernd beschrieben.

Zum Tod des dritten Sohnes des Ehepaares Emilie und Theodor Fontane am 6. April 1854 schrieb Th. F. dieses Gedicht:

Fontane: Der Gast

Das Kind ist krank auf Sterben,
Die Lampe gibt trägen Schein,
Die Mutter spricht: Mir ist es,
Als wären wir nicht allein.

Der Vater sucht zu lächeln,
Doch im Herzen pocht's ihm bang,
Stiller wird's und stiller, -
Die Nacht ist gar zu lang.

Nun scheint der Tag ins Fenster,
Die Vögel singen so klar;
Die beiden wußten lange,
Wer der Gast gewesen war.
*
Eine andere Fassung der letzten Strophe lautet:

Nun scheint der Tag ins Fenster,
Die Vögel singen so klar;
Alles still; sie wussten schon
Wer der Dritte gewesen war.
*

Der Biograph Gotthard Erler hat dieses Kapitel des Lebens der Fontanes überschreiben von 1850-55: „Am Rande der Armut“.

Zur URL:
Es gibt ein Foto von Emilie, das »um 1854« datiert wird. Es zeigt eine von Kummer und Leid gezeichnete Frau, mit tiefliegenden Augen und schmallippigem Mund - so könnte sie in jenen Wochen ausgesehen haben.

Internet-Tipp: https://www.bildung-brandenburg.de/bbs/schule/projekte/fontane/pic/10b.jpg


 iustitia antwortete am 20.02.05 (13:20):

THEODOR FONTANE: IN DER KRANKHEIT
(Brief an Emilie)

Mein ganzes Zimmer riecht nach Wald,
Das machen die kienenen Tische,
Glaub mir, ich muß genesen bald
In dieser Harzesfrische.

Du bist noch kaum bei uns daheim
An unsres Kindes Bettchen,
Und sieh, schon sitzt ein muntrer Reim
Auf meinem Fensterbrettchen.

Er sitzt allda und schaut mich an
Wie auf dem Felde die Lerchen
Und singt: »Du hast ganz wohlgetan,
Dich still hier einzupferchen.

Steh nur früh auf und schweif umher
Und lache wie der Morgen,
So wird dies grüne Waldesmeer
Schon weiter für dich sorgen.

Und schiedst du doch zu dieser Frist,
So tu es ohne Trauern,
Das Leben, weil so schön es ist,
Kann es nicht ewig 'dauern.«
*
"Reim" meint hier "Gedicht".
Fontane litt schon vor 1853 lange Zeit an Bronchial- und Asthmaanfällen. Es wurde „Schwindsucht“ vermutet. Da ging er zu einer vierwöchigen „Brunnen- und Molkenkur“ ins Berliner Bethanien-Krankenhaus, wo er 1848/49 als Apotheker tätig gewesen war.
Dort schrieb er schon am ersten Abend, am 5. Juni 1853, dieses hoffnungsfrohe Gedicht für Emilie. Es zeigt, wie sehr Fontane in seiner psychischen und körperlichen Gesundheit von den Umständen abhängig war.
Er zeigte, wie viele Dichter, häufig psychosomatische Erkrankungen, die durch Zuwendung, durch Honorare (die bei ihm lange nicht existenzsichernd waren), durch Wohnungswechsel, durch freundschaftlichen Verkehr, durch gelungene und anerkannte und gelobte Werke sich besserten.
*
URL: Die Apotheke in Bethanien.

Internet-Tipp: https://www.bildung-brandenburg.de/bbs/schule/projekte/fontane/pic/06b.jpg


 iustitia antwortete am 22.02.05 (11:19):

FONTANE als Schiller-Interpret:

Theodor Fontane: S c h l o ß E g e r

Lärmend, im Schloß zu Eger,
über dem Ungarwein,
sitzen die Würdenträger
Herzogs Wallenstein:
Tertschka, des Feldherrn Schwager,
Illo und Kinsky dazu,
ihre Heimat das Lager
und die Schlacht ihre Ruh.

Lustig flackern die Kerzen,
aber der Tertschka spricht:
"Ist mir’s Nacht im Herzen
oder vorm Gesicht?
Diese Lichter leuchten
Wie in dunkler Gruft,
und die Wände die feuchten,
hauchen Grabesluft."

Feurig funkelt der Unger,
aber der Kinsky spricht:
"Draußen bei Frost und Hunger
schüttelte so mich’s nicht;
hielte lieber bei Lützen
wieder in Qualm und Rauch;
wolle Gott uns schützen,
oder – der Teufel auch."

Illo nur, Herz wie Kehle
Hält er bei Laune sich,
dicht ist seine Seele
gegen Hieb und Stich,
trägt ein Büffelkoller
wie sein Körper traun,
lustiger und toller
war er nie zu schaun.

Und vom Trunke heiser
Ruft er jetzt und lacht:
"Das erst ist der Kaiser,
wer den Kaiser macht;
Eid und Treue brechen,
taten wir’s allein?
Hoch der König der Tschechen,
Herzog Wallenstein!"

Burg- und Schloßbewohner
ruhen ... Da sieh, in Stahl
Butlersche Dragoner
Dringen in den Saal;
Butler selbst, im Helme,
tritt an den Illo: "Sprich,
seid ihr Schurken und Schelme,
oder gut kaiserlich?"

Hei, da fahren die Klingen
Wie von selber heraus,
von dem Pfeifen und Schwingen
löschen die Lichter aus;
weiter geht es im Dunkeln,
nein, im Dunkeln nicht:
ihrer Augen Funkeln
gibt das rechte Licht.

Tertschka fällt; daneben
Kinsky mit Fluch und Schwur;
mehr um wie Tod und Leben
ficht selbst Illo nur,
schlägt blindhin in Scherben
Schädel und Flaschen jetzt,
wie ein Eber im Sterben
noch die Hauer wetzt.

Licht und Fackel kommen,
geben düstren Schein:
ineinander verschwommen
blinken Blut und Wein;
überall im Saale
Leichen in buntem Gemisch,
stumm, vor seinem Mahle,
sitzt der Tod am Tisch.

Butler aber, wie Wetter,
donnert jetzt: "Laßt sie ruhn!
Das sind erst die Blätter –
an die Wurzel nun!"
Bald in Schlosses Ferne
Hört man’s krachen und schrein –
Schau nicht in die Sterne,
rette dich, Wallenstein!
**
Anm:
In Lützen hatten die kaiserlichen Truppen in der Schlacht am 16. November 1632 eine Niederlage erlitten.
*
Die Verderblichkeit der Sternguckerei - das ist auch Fontanes Pointe für den Leser, allen Senis zur Fortbildung.
URL: zu Schloss Eger, in Nordböhmen –

Internet-Tipp: https://www.dug-wittenberg.de/gallery/big/eger_schloss.jpg


 Enigma antwortete am 23.02.05 (08:31):

...ja also, jetzt bin ich aber enttäuscht über die "Verstümmelung der Umlaute". Ich habe jetzt den Korrektur-Bottom nicht benutzt. Und trotzdem.....

Ich schreibe den Beitrag noch einmal, wäre ja sonst schade in dem schönen Thread:

"@iustitia

Ist der nachfolgende Text die Ballade bzw. die Parodie, die Fontane selbst geschrieben hat (Dein Beitrag vom 10.1.2005)?
Ich hoffe, dass ich jetzt Deinem Zeitplan nicht vorgegriffen habe.
Solltest Du eine andere Reihenfolge geplant haben, warte ich gerne, bis der Text an die Reihe kommt, um von Dir "literarisch beleuchtet" zu werden.
Mein Interesse an Schottland hat mich da wohl ungeduldig gemacht .... :-))

Theodor Fontane
Lied des James Monmouth

Es zieht sich eine blutige Spur
durch unser Haus von alters,
meine Mutter war seine Buhle nur,
die schöne Lucy Walters.

Am Abend war`s, leis wogte das Korn,
sie küßten sich unter der Linde.
Eine Lerche klang und ein Jägerhorn -
Ich bin ein Kind der Sünde.

Meine Mutter hat mir oft erzählt
von jenes Abends Sonne.
Ihre Lippen sprachen: Ich habe gefehlt!
Ihre Augen lachten vor Wonne.

Ein Kind der Sünde, ein Stuartkind;
Es blitzt wie Beil von weiten;
Den Weg, den alle geschritten sind,
ich werd`ihn auch beschreiten.

Das Leben geliebt und die Krone geküßt
und den Frauen das Herz gegeben
und den letzten Kuß auf das schwarze Gerüst -
Das ist ein Stuart-Leben.

John Monmouth ist ja der illegitime (und zudem anglikanische) Sohn von Charles II. (und Lucy Walters), von diesem (Charles) wohl anerkannt, aber nicht zum Erben eingesetzt.
Er verlor die Schlacht von Sedgemoor, wurde gefangengenommen und später hingerichtet.

Der Überlieferung nach soll der Herzog von Monmouth zu seinem Scharfrichter gesagt haben:
"Hier sind sechs Guineas für dich, aber hack mich nicht wie du es mit meinem Lord Russel tatest."

Er soll aber trotzdem erst nach mehrmaligen Versuchen tot gewesen sein....:-(("

Und hoffentlich muss ich mich jetzt nicht vor Kummer "entleiben", wenn das wieder mit den Umlauten nicht klappt
(oder wieder den alten Browser nehmen....., wäre angenehmer)
*lach*


 iustitia antwortete am 23.02.05 (22:14):

Gute Zusammenarbeit - Dank, Dir!
Die zweite Fassung Fontanes zum Thema:
*
Fontane selber nahm sich des Themas nochmals an.
Er veränderte die Aussage, indem er aus der großen, genealogischen Tendenz der Stuarts und ihrer Herrschaften und Todesurteile – eine private Romanze - eine Aussage über den Rausch der Liebe und den Brauch der Ehe. (Insgeheim also auch etwas über eigene Liebes-Ideen, versteckt...)

Theodor Fontane: James Monmouth

Ich heiße James Monmouth und bin der Sohn
Karl Stuarts und Lucy Walters',
Ich wurde geköpft vor Jahren schon,
Das war so Mode vor alters.

Meine Mutter liebte Vätern sehr,
Und sie küßten sich unter 'ner Buche,
Sie saßen sich oft und dann nicht mehr
Und stehn nicht im Kirchenbuche.

Und das ist mein Pech, Potzsapperment,
Daß sie nie die Ringe gewechselt,
So hieß ich zeitlebens ein Prätendent -
Bis den Kopf sie mir abgedrechselt.

Ich hab es bezahlt mit meinem Blut
Und fühle noch das Messer.
Und die Moral, die lautet: Ja, Lieb' ist gut,
Doch die Ehe, die ist besser.
*
(Entstehungsjahr: 1854; Erscheinungsjahr: 1875)


 iustitia antwortete am 23.02.05 (22:16):

Ein interessantes Porträt über den Journalisten Fontane in der SZ:

Christopher Schmidt: Teil und Gegenteil:

Sein ganzes Schaffen stand unter dem Zeichen der Verspätung. In einem Alter, in dem andere ausgeschrieben sind, nahm Theodor Fontane seine wichtigsten Werke in Angriff, als 60-Jähriger. In seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten schrieb er die großen Romane, nachdem vierzig Jahre lang der Journalismus seine „Tretmühle“ gewesen war. Noch mit 51 debütierte er als Theaterkritiker. Erst acht Jahre vor seinem Tod 1898 hatte er genug Vertrauen, als freier Schriftsteller überleben zu können, und gab die Stelle als Theaterrezensent bei der „Tante Voß“, der Vossischen Zeitung, auf. Hauptmanns „Die Weber“ im Jahre 1894 war die letzte Aufführung, die er besprach.
(…)

(SZ 07.07.2003)

URL - zur SZ-Seite:

Internet-Tipp: https://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/56/14042/


 iustitia antwortete am 23.02.05 (22:21):

Ein Fontane-Gedicht über einen Kranich - auch ein Gedicht über sich als Mensch und Künstler selbst!!


Th. Fontane: Der Kranich

Rauh ging der Wind, der Regen troff,
Schon war ich naß und kalt;
Ich macht' auf einem Bauerhof
Im Schutz des Zaunes halt.

Mit abgestutzten Flügeln schritt
Ein Kranich drin umher,
Nur seine Sehnsucht trug ihn mit
Den Brüdern übers Meer;

Mit seinen Brüdern, deren Zug
Jetzt hoch in Lüften stockt,
Und deren Schrei auch ihn zum Flug
In fernen Süden lockt.

Und sieh, er hat sich aufgerafft,
Es gilt erneutes Glück;
Umsonst, der Schwinge fehlt die Kraft,
Und ach, er sinkt zurück.

Und Huhn und Hahn und Hühnchen auch
Umgackern ihn voll Freud'; -
Das ist so alter Hühner - Brauch
Bei eines Kranichs Leid.

[Fontane: Gedichte (Ausgabe 1898), S. 9. Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 17478 (vgl. Fontane-NA Bd. 20, S. 10-11)]
*
URL - so stell ich mir den Kranich "Theodor" vor.

Internet-Tipp: https://www.entdeckemv.de/region_darss/themen_orte/landschaft/kranich/kranich.jpg


 iustitia antwortete am 26.02.05 (16:44):

Eine Verszeile vom "alten Fontane" - mit vielen Folgen:
"Aber wir lassen es Andre machen."
Zuerst ein liebloses Porträt zum 100. Todestag Fontanes von F.J. Raddatz:

D e r U n t e r t a n

- Vor 100 Jahren starb Theodor Fontane - geistreicher Spötter und politischer Reaktionär. Nahaufnahme eines Dichters, der Ruhe und Ordnung liebte.

Von Fritz J. Raddatz -

Zu greifen ist er kaum, zu begreifen leicht: der Mann, der Ehre über alles stellte - und seine unehelichen Kinder ein Leben lang verleugnete; der Romancier, der von seiner Stärke, "die Menschen so sprechen zu lassen, wie sie wirklich sprechen", überzeugt war, "ich bilde mir ein, daß ich auch die Besten auf diesem Gebiet übertreffe" - und dessen Romane in ihrer oft klapprigen "warf Alvensleben ein..., lachte Sander..., Schach war wie mit Blut übergossen..."-Dramaturgie uns heute fahl, wie mit Spinnweb überzogen vorkommen; der Lyriker, dessen Balladen über den "alten Derffling" oder Prinz Louis Ferdinand arg blechern scheppern - und der zugleich unvergeßliche Verse schrieb, im Ton der Gültigkeit und von geradezu Bennscher Modernität: "Wie's dich auch aufzuhorchen treibt, / Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt"; der Theaterkritiker, der Ibsen schaudernd begreift und Gerhart Hauptmann fördernd entdeckt - von dessen Arbeit er gleichwohl erhofft, dies sei nicht die Literatur der Zukunft; der Beobachter von Geschichte und bewundernde Zeitgenosse Bismarcks - von dem er dann doch das am schärfsten konturierte Porträt zeichnet: "Diese Mischung von Uebermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Pferdestall-Steuerverweigerer, von Heros und Heulhuber".
(...)
*
Raddatz erwähnt viele Einzelheiten, die ich hier weglasse...
Er beendet seinen Artikel mit einen Fontane-Gedicht:
*
Raddatz:
Fontane ist Epigrammatiker. Seine Literatur wie sein nicht zu überschätzendes Briefwerk - man darf tatsächlich von einem "Werk" sprechen - ist reich an Sentenzen und Lebensweisheiten, in denen entweder man sich selber erkennt oder die man sich gerne zu eigen machen möchte. Doch weil der Horizont, den der Schriftsteller Fontane ausschreiten will, sich nur spannt zwischen dem Zulässigen, Möglichen und Wohlmotivierten, schwebt über allem ein Wohnstubenruch.
Die mangelnde Kraft hindert ihn, den Himmel zu stürmen, und befähigt ihn, den Regenbogen so schön zu kolorieren.

Immer kleine Kammermusik. Nie Aufschrei. Das ist gut fürs Leben. Es ist heikel für die Kunst. Kein Sisyphus, sondern die Einsicht, daß der Mensch nicht zu ändern ist. Es ist das Prinzip Teilnahmslosigkeit. Darin nistet ein Embryo namens Untertan.

Der Prosa-Autor Fontane ist ein Gemmenschnitzer, fein ziselierend, konturenscharf, ohne Tiefe noch Psychologie. Der politische Beobachter Fontane ist eben das: kein Leidender, der sich die Hände aufreißt, der blutet und den Eiter aus den Beulen der Zeit preßt - sondern ein Mann, wohlgekleidet in der Loge, mit dem Theaterglas vor den Augen, das Bewegungen zu Gesten macht und Bekenntnisse als Flüstern aus dem Souffleurkasten verrät. Unter der Rubrik "Lebensweisheiten" rangiert als erstes seiner Gedichte dieses:

Ein Chinese ('s sind schon an 200 Jahr)
In Frankreich auf einem Hofball war.
Und die einen frugen ihn: ob er das kenne?
Und die andern frugen ihn: wie man es nenne?
"Wir nennen es tanzen", sprach er mit Lachen,
"Aber wir lassen es andere machen."

Und dieses Wort, seit langer Frist,
Mir immer in Erinnerung ist.
Ich seh' das Rennen, ich seh' das Jagen
Und wenn mich die Menschen umdrängen und fragen:
"Was tust du nicht mit? Warum stehst du beiseit'?"
(DIE ZEIT. 38/1998 )

*
Raddatz verurteilt hier vieles, was er nicht verstanden hat - oder weil er sich für einen Revolutionär hält...; er zitiert das Gedicht nicht einmal vollständig:


 iustitia antwortete am 26.02.05 (16:46):

Also - Fontanes eigenes Gedicht:

Theodor Fontane:

Aber wir lassen es andere machen

Ein Chinese ('s sind schon an zweihundert Jahr)
In Frankreich auf einem Hofball war.
Und die einen frugen ihn: ob er das kenne?
Und die anderen frugen ihn: wie man es nenne?
"Wir nennen es tanzen", sprach er mit Lachen,
"Aber wir lassen es andere machen."

Und dieses Wort, seit langer Frist,
Mir immer in Erinnerung ist.
Ich seh das Rennen, ich seh das Jagen,
Und wenn mich die Menschen umdrängen und fragen,
"Was tust du nicht mit? Warum stehst du beiseit?"
So sag ich: "Alles hat seine Zeit.
Auch die Jagd nach dem Glück. All derlei Sachen,
Ich lasse sie längst durch andere machen."
*
Entstanden im Zeitraum von 1885 bis 1889; zuerst gedruckt im Jahre 1889 in der Ausgabe der „Gedichte“. Ein spätes – ja! Aber: ein resignatives Gedicht? Nicht nur. Fontane hatte bis 1889 sein Lebenswerk erreicht, viele Krisen überstanden; insbesondere mit seinen späten zehn Romanen ein weltliterarisch wichtiges Werk beschlossen.
*
S. Fortsetzung... - Wie Tucholsky dieses Gedicht verwendete...


 iustitia antwortete am 26.02.05 (16:50):

Kurt T u c h o l s k y:
Z u s c h a u e r

„Aber wir lassen es Andre machen.“ Fontane

In Oberammergau in weiter Halle
sitzt ebenso erschüttert wie geneppt,
die Menschenschar bei dem Posaunenschalle
und sieht, wie man den Christ zu Kreuze schleppt.
Sie lauschen jenem großen Oratorium.
Ungläubige spenden Gläubigen Applaus.
Ein paar Acteurs. Ein Riesen-Auditorium.
Sie sehn nur zu. Tun nichts. Und gehn nach Haus.

Es dampft Berlin. Bei schönstem Sommerwetter
ist knackend voll der ganze Sportpalast.
Das macht: Es boxt doch heute Breitenstraeter!
Na Mensch, wenn du das nicht gesehen hast!
Die Frauen schaun verzückt ein Suspensorium.
Die Männer boxen nicht. So sehn sie aus -!
Ein paar Acteurs. Ein Riesen-Auditorium.
Sie sehn nur zu. Tun nichts. Und gehn nach Haus.

Wir sind Zweihundert.
Seit vier deutschen Jahren
schießt man uns Einen nach dem Andern ab.
Allein in Krach und Not und in Gefahren.
Schon liegen unsre Besten still im Grab.
Wo seid Ihr, Freunde? Müssen’s nur wir tragen?
Für wen wird eigentlich dieser Kampf geschlagen.
Bleibt das nun so? Ist’s nur ein Provisorium?
Wir stellen immer uns allein heraus.
Ein paar Acteurs. Ein Riesen-Auditorium.
Sie sehn nur zu. Tun nichts.
Und gehn nach Haus.

**
Anmerkungen:
Hans Breitensträter (1897-1972): populärer Boxchampion, deutscher Schwergewichtsmeister, sog. „Blonder Hans“.
Supensorium: Hodenschutz für Boxer
*
Interpretation:
In diesen drei großen Lebensbereichen – 'Oberammergau' als Hochstation christlich-gläubigen Lebens – 'Berlin' als politisches Schaufenster des Deutschen Reiches – und die Gruppe etwa „zweihundert“ Intellektuellen, die von zeitgenössischen Rechten (Nazis, Militaristen, Antisemiten, Kampftruppen) – zeigt Tucholsky die Gefährdung auf, die er in Fontanes Motto „Aber wir lassen es andre mache“ sah.
Es ist aber keine Schmähung Fontanes, sondern der Aufruf, ein zurückhaltend verstehbares, resignatives Motto in Zeiten demokratischer Not und Freiheitskampf als Vorwurf, als „Agens“, als Soldaritätsaufruf zu nutzen.
(Fontane als alter 48er republikanischer Kämpfer in Barrikadenszenen in Berlin hätte sich nicht missverstanden gefühlt.)
*
URL - Tucho als Zeitgenosse...

Internet-Tipp: https://www.tucholsky-museum.de/KurtZeitungsLaden.jpg


 iustitia antwortete am 28.02.05 (09:41):

THEODOR FONTANE - wirbt für Reclam...

Es waren die kleinen Reclambändchen, die auffielen...
(Aus Fontanes "Mathilde Möhring". Roman):

(...) Was Mathilde auffiel, war das Studium. Aus allem, was sie sah und auch aus Andeutungen von ihm selbst hörte, ging hervor, daß er sich auf ein Examen vorbereitete; er steckte auf jeden Morgen, wenn er ausging, ein Buch oder ein Heft zu sich, trotzdem war klar, daß, wenn er wieder zu Hause saß, von Studium keine Rede war. Auf einem am Fenster stehenden Stehpult, das er sich angeschafft hatte, lagen zwar ein paar dicke Bücher umher, aber sie hatten jeden Morgen eine dünne Staubdecke, Beweis genug, daß er sich den Abend über nicht (damit beschäftigt hatte. Was er las, waren Romane. Besonders auch Stücke, von denen er manchen Tag mehrere nach Hause brachte. Es waren die kleinen Reclambändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingeknifft und mit Zeichen oder auch mit Bleistiftstrichen versehen. Mathilde konnte genau kontrollieren, was ihm gefallen oder seine Zweifel geweckt hatte. Denn es kamen auch Stellen mit Ausrufungs- und selbst mit drei Fragezeichen vor. Aber das waren doch nur wenige. »Das Leben ein Traum« hatte die meisten Zeichen und Randglossen und schien ihn am meisten interessiert zu haben. (...)
*
Es geht hier um den Sudenten Hugo Grosmann, der statt der Jurisdiktion sich gerne mit Literatur beschäftigt; als aber die Bemühungen der Dame Mathilde M. um den jungen, „schönen“, Mann einsetzen, gibt er den Widerstand gegen das Juristische auf; er wird durch Studium gehievt und in das Amt eines Bürgermeisters bugsiert... Ihn wird aber die unheilbare Schwindsucht ereilen.
[Sollte man den Reclamheftchen und ihren Metaphern, literarischen Träumen und fiktionalen Tröstungen treu bleiben, um einen besseren Lebensweg zu beschreiten...?]

(Aus. Th. Fontane: Mathilde Möhring. Roman. Von Fontane seit 1891 erarbeitet; erst 1916 nach dem Tode Fontanes erschienen.)
*
URL - Fontanes Arbeitsnotizen zu "Mathilde Möhring"

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/6DmUmpDGb


 iustitia antwortete am 28.02.05 (09:47):

Weitere Reclman-Ehrungen, nicht mehr von Th. Fontane:

RICARDA HUCH:
Ein mürbes Reclambändchen
Japanpapier und Buchschmuck, edle Lettern,
Ganz weiches Leder, Seide, Pergament
Ergötzt den Bücherfreund, der alles kennt.
Vielleicht - wenn er so spielt mit theuren Blättern,
Denkt er, wie wunderschön es einst gewesen,
Wenn in der Schule, heimlich irgendwie,
Ein mürbes Reclambändchen er gelesen,
Das golden überfloß von Poesie.

RAINER MARIA RILKE: Reclams Universal-Bibliothek

Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen. Es fällt mir ein, ob Sie seine Werke kennen. Sie können sich dieselben leicht verschaffen!, denn ein Teil derselben ist in Reclams Universal-Bibliothek in sehr guter Übertragung erschienen. Verschaffen Siie sich das Bändchen »Sechs Novellen« von J. P. Jacobsen und seinen Roman: »Niels Lyhne«, und beginnen Sie des ersten Bändchens erste Novelle, welche »Mogens« heißt. Eine Welt wird über Sie kommen, das Glück, der Reichtum, die unbegreifliche Größe einer Welt. Leben Sie eine Weile in diesen Büchern, lernen Sie davon, was Ihnen lernenswert erscheint, aber vor allem lieben Sie sie. Diese Liebe wird Ihnen tausend- und tausendmal vergolten werden, und wie Ihr Leben auch werden mag, -sie wird, ich bin dessen gewiß, durch das Gewebe Ihres Werdens gehen als einer von den wichtigsten Fäden unter allen Fäden Ihrer Erfahrungen, Enttäuschungen und Freuden.

HUGO VON HOFMANNSTHAL: Und wieder ein »Reclam-Büchel«

Was dankt man nicht diesen kleinen Bändchen: unter der Schulbank, im Grünen, in der Packtasche auf Manövern - wo hätten sie uns nicht begleitet und zu tausend Stunden erfreut und beschenkt! Gar zwischen 15 und 20! Aus dieser Lebenszeit könnte ich das »Reclam-Büchel« so wenig wegdenken als irgendetwas.

EGON ERWIM KISCH: Reclambook

[...] das Reclambuch ist es, das die Welt mit der deutschen Literatur bekannt gemacht hat. An erster Stelle in der Reihe der bestellenden Länder steht - Japan; und es ist verständlich, daß in einer asiatischen Reisebeschreibung berichtet wird, ein Japaner habe dem Deutschen, den er kennenlernte, nur zwei deutsche Worte zu sagen gewußt: »Bismarck« und »Reclambook«.

*
URL - Reclams "Goethe", ein wenig derangiert..

Internet-Tipp: https://www.goethe.de/z/jetzt/dejzus20/kultur.gif


 iustitia antwortete am 03.03.05 (22:38):

Fontane
hat ein Reisefeuilleton geschrieben, aus dem Jahre 1871, aus den „Tagen der Okkupation“, die er als Beichterstatter erlebte.
Er begab sich nach Straßburg – und wusste von Goethes Besuch und Bemühungen um das Straßburger Münster als das Zeugnis „deutscher Baukunst“ (womit Goethe ja einem Irrtum erlag, denn die bautechnischen Voraussetzungen entstammten ebenso den französischen Vorbildern der Gotik, den großen Kathedralen, nicht nur dem Kölner Dom, der unvollendet bis in das 19. Jh. Hineinreichte. - Fontanes Begriff „Amerikanismus“ war ein zeittypischer, kritischer Begriff, der Bewunderung für technische Vorgaben, aber auch Kritik gegenüber unmenschliche, kulturelle Verhältnisse einschloss.

Theodor Fontane: A U F D E M M Ü N S T E R


Bischof Konrad wohl beraten
Kommt mit heil'gem Öl und Weine,
Mit dem Stabe, mit dem Spaten,
Legt geschickt die Gründungssteine;
Ringsum stehn die Arbeitsleute —
Alle Geistlichen des Landes,
Alle Zünfte graben heute,
Selbst die Herren! edlen Standes.
Achim v. Arnim (Der Münster zu Straßburg)

A Yankee boy is trim and tall
And never over fat, Sir.
Yankee Doodle




Ich weiß nicht, wie es kam, aber es wollte mir nicht glücken, Eintritt in den Münster zu erlangen - immer wenn ich kam, war er zu. Nur ganz zuletzt glückte es noch - vorläufig mußte ich mich damit begnügen, unter Absolvierung von 330 Stufen, die berühmte Plattform zu erklettern.
Da stand ich denn nun und hielt jene Umschau, die schon so viele Tausende vor mir gehalten haben und hoffentlich noch halten werden. Zwischen Schwarzwald und Vogesen schweifte das Auge hin und her, folgte dem Lauf des Flusses, der Straßen und Bahnen, blickte unmittelbar abwärts auf den Häuserwirrwarr der großen Stadt und ruhte zuletzt wieder aus auf der Plattform selbst, auf der es wie ein Jahrmarktstreiben von Besuchern war. Kommende und Gehende, Malkontente und Enthusiasten, Fernrohrkucker und Kartenausbreiter - zu Häupten der bunten Menge aber flogen die Münstertauben blitzend auf und ab, um sich in dem Zacken- und Fensterwerk der nachbarlichen Turmspitze zu verlieren. Sie nisten dort.
Es kann nicht meine Absicht sein, über hundertfach Berichtetes: über? Meister Erwin und seine Tochter, über Johann Hültz von Köln, der den Turm vollendete, über Maybaum Vater und Sohn, die die Schlaguhr verfertigten, oder wohl gar über die eingeschnittenen Namen Goethes, Herders, Uhlands und allerlei Ähnliches aufs neue berichten zu wollen; nur aus der vielhundertjahrigen Geschichte des Münsters seien ein paar Worte; gestattet, soweit sie die Heimsuchungen betreffen, die über ihn hereinbrachen.
Unter diesen Heimsuchungen, weit über Krieg und Bombardement hinaus, nehmen die Blitze die erste Stelle ein. Die Wetterwolke behauptet den Vortritt. Es mag keine Kirche in Deutschland geben, vielleicht überhaupt nicht, die so oft getroffen wurde. Kein Wunder; wer dem Himmel am nächsten ist, ist es auch dem Blitze. 1.562 traf der Blitz das Gebäude sechsmal in einem Monat. 1568 schlug ein Gewitter in die Krone und das bleierne Dach. Das flüssig gewordene Metall brach wie ein Strom in die Kirche ein. 1584 schmolz ein Strahl in der Schlagglocke den Hammer an das Gebäude fest. Soviel über die Blitze. (Seit 1833 übrigens - das sei vorweggenommen – hat der Turm einen Blitzableiter.) 1728 kam das Unheil von unten: ein Erdbeben erschütterte das ganze Gebäude. Das Wasser im Reservoir der Plattform wurde drei Fuß hoch in die Höhe getrieben und 18 Fuß weit weggeschleudert. 1793 ein neues Erdbeben: die Revolution. Was 1728 getan, verschwand daneben. *
URL - in Straßburg

Internet-Tipp: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/thumb/6/69/180px-Turm_der_Cathédrale_Notre-Dame_de_Strasbourg.JPG


 iustitia antwortete am 03.03.05 (22:40):

Fontane:
Straßburger Münster
- Teil 2 -

Zweihundertfünfunddreißig Statuen von Heiligen und Fürsten, beide gleich anstößig, fielen unter den zertrümmernden Händen dieser neuen Bilderstürmer. Der wahnwitzige Teterel machte den Vorschlag, den Turm abtragen zu lassen, „da er das Egalitätsprinzip verletze". Als es unterblieb, wurde ihm wenigstens die Genugtuung, daß der Münsterspitze eine kolossale rote Blechmütze aufgestülpt wurde.
Dies ist nur eine Blumenlese, wobei ich, wie leicht zu ersehen, mein Auge weit mehr noch auf die Kuriosa als auf die eigentlichsten Schrecknisse gerichtet habe. Neben der Fülle dieser und dem Gesamtschaden, den Blitz, Feuer und Revolution angerichtet, verschwindet das, was die Belagerungen getan. Namentlich unter Louis XIV. Es scheint so gering gewesen zu sein, daß die Aufzeichnungen darüber fehlen. Verbleibt nur 1870. Ich finde darüber folgendes: „Die Nacht vom 25. auf den 26. August war die verderblichste. Gegen Mitternacht: schlugen die Flammen aus dem von Granaten durchlöcherten Dach und loderten, von dem schmelzenden Kupfer genährt, neben der Pyramide des Turmes auf. Unbeschreiblicher Anblick! Ebenso schön wie grausig. Dazwischen krachten die Geschütze und zerschmetterten Teile des steinernen Zierwerks, das die Fassade und die Seiten des Münsters schmückt. Das ganze Dach stürzte zusammen; im Innern dies Gebäudes war am folgenden Morgen der Boden mit Trümmern überdeckt und durch die Löcher in der Wölbung des Schiffes schaute der klare Himmel. Die schöne Silbermannsche Orgel war von einer Granate durchlöchert, die prächtigen gemalten Fenster waren zum großen Teil zertrümmert. Wunderbarerweise war jedoch die berühmte astronomische Uhr unbeschädigt geblieben.“
Von allen diesen Zerstörungen, soweit sie Turm und Dach betreffen, nimmt man zur Stunde nur noch wenig wahr; hier und dort ein Stück abgebrochene Balustrade, ein Schrammschuß an Wand oder Pfeiler hin, eine durchschlagene Treppenstufe - das ist alles. Es soll die Größe des angerichteten Schadens damit nicht geleugnet, vielmehr lediglich auf die Kolossalität des Gebäudes hingewiesen werden, das von allen diesen Dingen doch eigentlich nur gestreift wurde.
*
URL:
Straßburger Münster, Fassade:

Internet-Tipp: https://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/rhein/strassburg/muenster06.jpg


 iustitia antwortete am 03.03.05 (22:43):

F o n t a n e: Auf dem Münster
- Teil 3 -
(...)
Ich hatte mir Zeichnungen und Notizen gemacht, hier der Zitadelle, dort, nach Norden zu, den Dörfern Bischheim und Schiltigheim und nun wieder südlich Illkirch und dem Illfluß — allem seinen Platz gegeben und schickte mich eben an, meinen Umgang um die Plattform, soweit die zerstörte Balustrade ihn zuließ, zu wiederholen. Ich war bei diesem Gange bis am die südliche Turmseite gekommen und bewunderte, beinah senkrecht nach oben blickend, die Turnerkunst, die es verschiedenen Wagehälsen möglich gemacht hatte, ihre Namen auch in den Teil der Schlagglocke zu schreiben), der (es war gerade die Halte) aus dem Schaufenster frei nach außen hing, als ich mich ohne weiteres englisch angesprochen hörte. „Rather bold“, sagte ein neben mir stehender Herr, ein starker Vierziger, und zeigte auf die mit Kreide gemachten Glockeninschriften.
Er hatte mich entweder für einen Engländer genommen oder es auf gut: Glück hin gewagt; jedenfalls antwortete ich: „Somewhat in the american style.“
Er lächelte jetzt beifällig und fuhr sichtlich befriedigt fort: „Do you thunk so? I am an American.“
„Wir traten nun von der Glocke fort, schritten ein paarmal, im Gespräch über nächstliegende Themata, um die Plattform herum und setzten uns dann, ohne uns weiter um Schwarzwald und Vogesen zu kümmern, auf ein chausseewalzenartiges Ding, das, ich weiß nicht wie und zu welchem Zweck, in diese Höhe hinaufgeschafft worden, war. Wir hatten „the war“ und „the rising german nation“ natürlich längst hinter uns - denn ein Amerikaner (ganz wie ein Berliner oder Leipziger) kann nicht fünf Minuten ein Gespräch führen, und wenn es über Sanskrit oder Vegas Logarithmen wäre, ohne durch die einfache Wendung „bei uns" vom Allgemeinen aufs Besondere überzusehen. Dies Besondere ist natürlich Amerika.
*
Goethe, beim Anblick des Straßburger Münsters:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/HsPQp3piD


 iustitia antwortete am 03.03.05 (22:45):

Fontane: Auf dem Münster - Teil 4 -
Jeder Yankee, auch der beste, betrachtet alles andere nur als Einleitung zu dem Thema, über das es sich eigentlich allein noch zu sprechen verlohnt. Es hat etwas Komisches, aber weder etwas Langweiliges noch sonst Bedrückliches, und zwar deshalb nicht, weil es einmal mit vollkommener Naivität geschieht, und zweitens weil die Betrachtung sich aufdrängt, daß sie doch möglicherweise recht haben. Wir wandeln vielleicht jetzt schon mehr in ihren Fußstapfen als sie in den unsern. Unsere ganze Eisenbahn- und Telegraphenzeit, die die Bewegung an die Stelle des Stabilen, die Hast an die Stelle der Ruhe, das Geld an die Stelle des Grund und Bodens setzt, was ist sie anders als Amerikanismus?
Wir hatten uns einander vorgestellt und uns lächelnd als Kollegen begrüßt. Er war der „Chief-Editor“ eines Chicago-Papers. Natürlich. Ich bin noch keinem Amerikaner begegnet, der nicht ein „Editor“ war, gewesen war oder zu sein hoffte. Ich sagte ihm dies, worauf er nur erwiderte: „Just so.“
Dann fing er an, wie sie es alle tun, die großen amerikanischen Bilder zu malen, die Bilder „far from the West“, die meine Seele immer wieder zurücktragen zu Uncas und Chingachgook und ein wenig auch (freilich nur ganz wenig) zu Alice und Cora und dem englischen Major, dessen Namen ich vergessen habe. Die Bilder sind andere geworden seitdem, aber immer größer, gewaltiger. Über Nacht schwinden Wälder, und am Tage wachsen Städte auf; im Sommer, abwechselnd, jetzt ein Gruß an das Atlantische und jetzt an das Stille Meer; eine Hochzeitsreise nach Italien, eine Sommerfrische in Japan, und dann in Winterszeit im großen Segelschlitten, daß der Schnee stiebt: hin über die Flächen des Michigan! Am Abend, wo immer es sei, a fire, a paper, a cup of tea. Mal ein Waldbrand; der Himmel steht in Lohe, und wie ein Donner rollt der Ton des brechenden Eises über den See hin.
So ging das Gespräch. Unten lag Straßburg, die „wunderschöne Stadt", dies war der Münster, das mächtigste Sinnbild deutscher Kunst und deutscher Größe, drüben, in den Stein geschnitten, stand der Name Goethe, und hier perorierte ein „Chief-Editor“ von jenseits des großen Wassers und sagte mir ruhig: „America, that's the world“.
So schieden wir. Ich hatte nicht den Mut, zu widersprechen.


 iustitia antwortete am 06.03.05 (12:30):

Fontane in Frankreich 1870:
... gefangen gesetzt, befreit...
(Teil 1)

Briefe und Reaktionen

... stand Fontane nachmittags am 5. Oktober 1870 am Geburtshaus der Jeanne d’Arc in Domremy, vor der Statue der Jungfrau. Dort wurde er, der Preuße im Grenzbereich der kämpfenden Truppen von Franktireurs verhaftet, in Gefangenschaft gesetzt, nach Besançon verschleppt und dann auf die Gefängnisinsel Oléron verbracht.
*
Ein Schullehrer aus den Vogesen hat ein recht trauriges Bild von Fontanes Zustand nach Berlin übermittelt und hinzugefügt, daß derselbe «seiner Ansicht nach es nicht mehr lange aushalten würde, Gefahr im Verzüge sei».
*
Einen anderen, erfolgverheißenden Versuch zur Befreiung unternahm der jüdische Professor Moriz Lazarus, Philosoph an der Berliner Universität. Er kannte Fontane aus den literarischen Vereinen «Rütli» und «Tunnel über der Spree».
Sein Brief an den französischen Justizminister Gremieux, Präsident der «Alliance Israélite Universelle», wurde am 20. November aus Tours telegraphisch beantwortet:
«Ich denke, daß in diesem Augenblick Herr Fontane, Ihr Schutzbefohlener und der Ihrer gelehrten Kollegen, frei ist. Ich habe keinen Augenblick verloren, aber er war nach der Insel Oleron verschickt worden, wodurch seine Freilassung verzögert wurde. Leider, lieber Herr, darf man nicht unserem treuen Frankreich Menschlichkeit in diesem barbarischen Kriege, den man gegen uns führt, anempfehlen. Gott wird richten.
Ihr wohlgeneigter Gremieux.»

*

URL: Der Gefangene von Oléron

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/eDrBWAtOc


 iustitia antwortete am 06.03.05 (12:44):

Fontane – in Frankreich 1870
Teil 2:

Bismarck, preußischer Ministerpräsident, schrieb am 29. 10.1870:

»Nach glaubwürdiger Mitteilung ist Dr. Fontane, ein preußischer Untertan und wohlbekannter Geschichtsschreiber, auf einer wissenschaftlichen Reise in französischen, durch deutsches Militär besetzten Distrikten verhaftet und nach Besançon abgeführt worden, wo er in Lebensgefahr zu sein scheint. Nichts kann ein solches Vorgehen gegen einen harmlosen Gelehrten rechtfertigen.
Ich bitte Sie daher, die Güte zu haben, formell seine Freilassung von der französischen Regierung zu verlangen und ausdrücklich zu erklären, daß wir im Weigerungsfall eine gewisse Anzahl von Personen in ähnlicher Lebensstellung in verschiedenen Städten Frankreichs verhaften und nach Deutschland schicken und ihnen dieselbe Behandlung zuteil werden lassen, die dem Dr. Fontane in Frankreich beschieden ist.«
(Brief von Fürst von Bismarck vom 29.10.1870 an Elihu B. Washburne, den Gesandten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, der in Paris die Angelegenheiten deutscher Zivilpersonen diplomatisch betreute. Wie dort in Paris die Angelegenheit weiter behandelt wurde, ist mir unbekannt geblieben.)
*
Am 29.11. konnte Fontane die Heimreise antreten.
*
Zwei Tage nach seiner Heimkehr in Berlin (am 5.12.) wandte er sich an das Königliche Allgemeine Kriegsdepartement: «. . . Ich füge hinzu, daß es mich glücklich machen würde, von Erfüllung dieses Wunsches zu hören, und zwar um so mehr, als ich während meiner Gefangenschaft viel Wohlwollen von selten unseres Feindes erfahren habe und ohne Ausnahme aufs humanste behandelt worden bin.»
Diese Bitte erneuert er in einem Schreiben vom 20. Dezember an den Kriegsminister von Roon in Versailles: «Ich bezweifele keinen Augenblick die Korrektheit dieses Verfahrens, wende mich aber doch in einem Gefühl persönlichen Verschuldetseins für viel empfangene Nachsicht mit der nochmaligen Frage direkt an Ew. Exzellenz, ob es nicht vielleicht ausnahmsweise sich ermöglichen möchte, einem der vorstehend genannten Herren die Freiheit zu geben.» - «Macht ihm alle Ehre, kann aber nicht willfahren», schrieb der Kriegsminister auf den Rand des Gesuches.
*
In Zeitungsberichten der „Vossischen Zeitung“ beschrieb Fontane ab dem 23.12.1870 seine Erlebnisse, die 1871 in seinem Band „Kriegsgefangen. Erlebtes 1870/71“ veröffentlicht wurden.
"Ich muß Dir, lieber Vater", so schreibt der preußische Leutnant George Fontane am 2. Februar 1871 aus St. Denis, «und auch im Namen aller unserer Herren einen kleinen Vorwurf machen, weil Du die Franzosen in Deinen Schicksalen zu sehr herausstreichst.»

Fontanes Redlichkeit war deutlich, daß er sofort nach seiner Heimkehr die "preußischen Militärbehörden nachdrücklich um die Freilassung eines höheren französischen Offiziers bat, wie dies der Kardinal-Erzbischof Cesaire Mathieu und der Justizminister Cremieux unabhängig voneinander vorgeschlagen hatten.
*
Ich habe noch nie gehört oder gesehen, dass Fontanes Erlebnisse und Berichte aus Frankreich während der deutschen Besatzung als Dokumente des deutschen Chauvinismus und der französischen Ehrenhaftigkeit z.B. in Lesebüchern veröffentlicht wurden...
Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit ist zwar ein Modus der Dichtung Th. F.s, aber nicht der preußischen Administration gewesen.
Preußens Gloria schrie und schritt ... - und wird heute wieder beschrien.
*
Bei Fontane kann man es nachlesen: Er schrieb dazu am 6. Mai 1894 an August von Heyden: «Alles bei uns ist roh, kommissig, urdämlich ... Aber in einem Menschen lesen, ihm einigermaßen richtig taxieren - o du himmlischer Vater! Deshalb haben mir auch Anno 70 alle preußischen Offiziere gesagt: "Bei uns wären Sie erschossen worden."
*
URL: Bismarck...

Internet-Tipp: https://www.lsg.musin.de/Geschichte/Karikaturen/wpe6.jpg


 Enigma antwortete am 07.03.05 (09:11):

Das habe ich kürzlich beim Surfen gefunden:

Die Alten und die Jungen

»Unverständlich sind uns die Jungen«
Wird von den Alten beständig gesungen;
Meinerseits möcht ich's damit halten:
»Unverständlich sind mir die Alten.«
Dieses am Ruder bleiben Wollen
In allen Stücken und allen Rollen,
Dieses sich unentbehrlich Vermeinen
Samt ihrer »Augen stillem Weinen«,
Als wäre der Welt ein Weh getan -
Ach, ich kann es nicht verstahn.
Ob unsre Jungen, in ihrem Erdreisten,
Wirklich was Besseres schaffen und leisten,
Ob dem Parnasse sie näher gekommen
Oder bloß einen Maulwurfshügel erklommen,
Ob sie, mit andern Neusittenverfechtern,
Die Menschheit bessern oder verschlechtern,
Ob sie Frieden sä'n oder Sturm entfachen,
Ob sie Himmel oder Hölle machen -
E I N S läßt sie stehn auf siegreichem Grunde:
Sie haben den Tag, sie haben die Stunde;
Der Mohr kann gehn, neu Spiel hebt an,
Sie beherrschen die Szene, sie sind dran.

(Theodor Fontane)


@iustitia

Was er sagen will, ist ja nicht schwer zu verstehen.
Aber gibt es da auch noch etwas ergänzend zur Einordnung in sein Gesamtwerk zu sagen?


 iustitia antwortete am 07.03.05 (10:02):

Ja, Fontane war erstaunlich offen für junge Menschen, Ideen, Entwicklungen, wirtschaftlich-technische Veränderungen und ihre humanen Konsequenzen...
Religionen hat er respektiert; alle Arten oder Abarten von Kirchen mit ihren moralischen Dressuren und Dogmen verabscheut... Er war selber ein republikanischer 48er, den man mit einem 68er des 20. Jhs. vergleichen kann.

In dem jungen Gerhart Hauptmann hat Fontane die neue Dichtung des Naturalismus erkannt, die auf soziale und psychische Veränderungen der Industrialieserung so revolutionär reagierte...

Gerhart Hauptmann berichtet davon in seinem Essay „Mein höchster Protektor: Theodor Fontane“:

Vom Beginn meiner sogenannten Laufbahn an ist Theodor Fontane mein höchsten Protektor gewesen. Aber der Umstand ist sattsam bekannt. Es genügt, ihn auch hier zu registrieren. Ich widmete ihm »Das Friedensfest«. Als ich damit vor seiner Tür im dritten Stock eines Hauses der Potsdamer Strauße erschien, wurde ich an der Entreetür abgefertigt. Ob ich mein Büchelchen an den öffnenden Hausdrachen abgegeben habe, weiß ich nicht.
Der Dichter betreute damals bei der sogenannten »Tante Voß« [der Vossischen Zeitung in Berlin] das Theaterreferat. Es ist kein gutes Zeichen für den Stand der literarischen Verhältnisse in Deutschland um jene Zeit, daß ein Mann, der die Romane „L'Adultera“, „Irrungen, Wirrungen“, „Frau Jenny Treibel“ u.a., außerdem die märkischen Wanderungen geschrieben hatte, um zu leben, auf das Gehalt seiner Zeitung durchaus angewiesen war. Ihr Chef und Besitzer, Geheimrat Lessing, Verwandter Gotthold Ephraims, konnte nicht abgewiesen werden, wenn er an Geburtstagen das Salär mit einigen hundert Mark und einigen Flaschen Wein fast beleidigend aufbesserte. Und doch war Fontane auch als Kritiker sozusagen die erste Feder von Berlin.
Übrigens hielt ich eines Tages im Hause des Geheimrats Lessing, der Manuskripte seines großen Vorfahren sammelte, sowohl das von „Laokoon“ als das der »Hamburgischen Dramaturgie« in der Hand, ich glaube in Oktavbänden, überaus köstlich und zierlich geschrieben - ein Zauber, dessen Erinnerung mir geblieben ist.
Vom Jahre 1889 bis 98, also ungefähr neun Jahre, habe ich unter den Augen Theodor Fontanes Dramen bis »Die versunkene Glocke« der Öffentlichkeit übergeben, können. Ich hatte Ursache anzunehmen, der alte Herr möge mich persönlich gern. Man sah ihn übrigens täglich im Tiergarten, den kleinen bunten Wollplaid locker über die Schultern genommen, auf die das graue Haar strähnig herunterfiel. Ein dichter Schnurrbart und Kinnbart verdarb nichts an diesem schönen, klug-sympathischen Dichterkopf. So spazierend gleichsam sieht man ihn heut noch in einem Teil des Tiergartens als Bronzedenkmal aufgestellt. (…)
*
URL - Es handelt sich um das Marmordenkmal von Max Klein, das am 7. Mai 1910 im Berliner Tiergarten enthüllt wurde.

Internet-Tipp: https://www.luise-berlin.de/Lexikon/indexlex.htm#nvg?Fontanedenkmal.htm


 iustitia antwortete am 07.03.05 (23:53):

Von Zigeunern...

In der deutschen Literatur - von Goethe besonders interessant und intensiv bei Marie von Ebner-Eschenbach) bis Wolfdietrich Schnurre – sind Zigeuner, ohne dass das Wort peiorativ verwendet wurde, immer zu Gast. Ja, sie sind soziale Außenseiter, nur in speziellen Berufen erfolgreich,ja, sie bedürfen des Mitleides der Erzähler, ja, sie sind vielen „normalen Mitspielern“, meist Spießbürgern oder Großmäulen, suspekt, aber sie vertreten eine fremde Welt, die häufig mit rätselvoll, phantastisch, gar mit poetisch gleichgesetzt wird. (Vgl. in Th. F.s nächstem Gedicht die Metapher "Zigeunerzelt")
Die rassistische Deutung des Wortes ist erst den Nazis gelungen; sie klingt häufig im bürgerlichen Sprachgebrauch mit…

Hier – aber Th. Fontane:
Mr. Burford, ein Maler, hat Fontane in seine Villa außerhalb von London eingeladen…:

Theodor Fontane: Ein Sommer in London (1864 erschienen; Ausschnitt)
The hospitable English House
(…)
Es ging zu Tisch, früher als es in England gemeinhin Brauch ist. Wir wollten noch ein paar Nachmittagsstunden zu Ausflügen in die Umgegend gewinnen. Die Mahlzeit war nach englischen Begriffen glänzend. In Champagner wurde tapfer angestoßen oder richtiger getoastet, da unser deutsches Anklingen mit den Gläsern gegen die Landessitte verstößt. Dort sieht man einander bloß an, läßt die Augen einige Zärtlichkeiten sagen, macht dabei mit Glas und Hand eine halbkreisförmige Bewegung und trinkt. Auch Reden wurden gehalten. Mr. Burford, dessen Unterhaltungsgabe sich unter dem Einflüsse von fünf Sorten Wein bis zur Schwatzhaftigkeit gesteigert hatte, platzte zunächst mit einem »Germany forever!« heraus; doch damit war's ihm nicht genug. Auf die ewige Freundschaft beider stammverwandten Länder wurde Glas auf Glas geleert, und als es schließlich in Mr. Burfords Kopfe selbst sehr kriegerisch geworden war, trank er auf ein zweites Waterloo, wenn's wieder einmal gelte, gleichviel gegen alte oder neue Feinde. Alles stimmte ein und in der mutigsten Stimmung von der Welt standen wir auf, um uns von Tisch in den Garten zu begehen. »Nun zu den Gipsies, Vater!« rief das jüngste Kind, ein reizender Junge von sechs Jahren; und groß und klein lärmte lachend mit: »Zu den Gipsies!« Gipsies sind Zigeuner. Man hält sie in England für Söhne Ägyptens, woraus sich im Laufe der Zeit die Benennung »Gipsies« (Ägypter) gebildet hat. Wir waren noch nicht allzuweit gegangen, als wir auf freiem Felde ein Gipsy-Nest entdeckten. Tief in einer Lehmgrube, um Schutz gegen den Wind zu finden, lagen drei zerlumpte Gestalten eng zusammengekauert; sie mochten frieren. Kaum daß sie uns gewahrten, so sprangen sie auf und gingen ihrem Geschäft nach, d.h. bettelten uns mit einer Beharrlichkeit an, der der endliche Erfolg nicht fehlen konnte. Wir erfuhren von ihnen, daß Großmutter zu Hause sei, und gingen nun, um Ihrer Majestät der Zigeunerkönigin unsern schuldigen Besuch zu machen. Ich hatte mich auf ein poetisches Zigeunerschloß: dichte Hecken als Wände, Moos und Flechten als Teppich, Baumstümpfe als Sessel, gefaßt gemacht – statt dessen ward ich in ein freundliches, grün abgeputztes Haus geführt, worin soeben ein lustiges Kaminfeuer hoch aufprasselte. Die Zigeunerkönigin war eifrig beschäftigt, sich und ihrem Mitregenten, einem steinalten Männchen, Kartoffeln zu kochen.
(Teil 2 folgt.)
URL – zum ganzen Text:

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/fontane/sommer/somm031.htm


 iustitia antwortete am 07.03.05 (23:55):

Fontane im Haus einer Zigeuenrkönigin:
Aus: Th.F.: Das gastfreundliche englische Haus" (Aus: Ein Sommer in London)
Teil 2:

Unser Erscheinen indes war ganz ersichtlich keine unwillkommene Störung; sie trat uns entgegen und die kohlschwarzen, trotz hohen Alters noch immer funkelnden Augen lachten freundlich, fast herzgewinnend, aus dem braunen, pockennarbigen Gesicht heraus. Es schien mir aus allem hervorzugehen, daß Mr. Burford ihr und dem alten Manne dies Häuschen für den Rest ihrer Tage geschenkt und sie überhaupt unterstützt habe; wenigstens trug ihr ganzes Tun, trotz mancher derben Keckheit, den unverkennbaren Stempel der Dankbarkeit. Ich erregte ihre Neugier, und sie drang darauf, daß sie mir wahrsagen müsse. Erst sträubte ich mich in einer Art abergläubischer Furcht; die freundlichen Augen aber machten mir Mut, und ich gab ihr lachend meine Hand. Bald war ich erlöst: »Drei Frauen und...«, aber ehe sie enden konnte, rief ich ein lautes »Stop!« dazwischen; – schon diese Aussicht auf die Lebensreise schien mir des Guten zuviel.
Unter dem Jubel und Spott der ganzen Gesellschaft trat ich wieder ins Freie.


 iustitia antwortete am 08.03.05 (00:03):

Fontanes Phantasie vom Zigeunerzelt...:

Theodor Fontane: Der echte Dichter
(Wie man sich früher ihn dachte)

Ein Dichter, ein echter, der Lyrik betreibt,
Mit einer Köchin ist er beweibt,
Seine Kinder sind schmuddlig und unerzogen,
Kommt der Mietszettelmann, so wird tüchtig gelogen,
Gelogen, gemogelt, wird überhaupt viel,
»Fabulieren« ist ja Zweck und Ziel.

Und ist er gekämmt und gewaschen zu Zeiten,
So schafft das nur Verlegenheiten,
Und ist er gar ohne Wechsel und Schulden
Und empfängt er pro Zeile 'nen halben Gulden,
Oder pendeln ihm Orden am Frack hin und her,
So ist er gar kein Dichter mehr,
Eines echten Dichters eigenste Welt
Ist der Himmel und - ein Zigeunerzelt.
*
(1890/91 geschrieben, als Fontane noch nicht arriviert war, als preußischer Dichter auch noch kaum Anerkennung gefunden hatte.)


 iustitia antwortete am 15.03.05 (13:44):

Vor einer Fahrt ins Havelland....

Theodor Fontane: Havelland
(Statt eines Vorwortes zu dem 3. Band »Wanderungen« 1873)

Grüß Gott dich, Heimat!... Nach langem Säumen
In deinem Schatten wieder zu träumen,
Erfüllt in dieser Maienlust
Eine tiefe Sehnsucht mir die Brust.
Ade nun, Bilder der letzten Jahre,
Ihr Ufer der Somme, der Seine, Loire,
Nach Krieges- und fremder Wässer Lauf,
Nimm, heimische Havel, mich wieder auf.

Es spiegeln sich in deinem Strome
Wahrzeichen, Burgen, Schlösser, Dome:
Der Julius-Turm, den Märchen und Sagen
Bis Römerzeiten rückwärts tragen,
Das Schildhorn, wo, bezwungen im Streite,
Fürst Jazko dem Christengott sich weihte,
Der Harlunger-Berg, des oberste Stelle
Weitschauend trug unsre erste Kapelle,
Das Plauer Schloß, wo fröstelnd am Morgen
Hans Quitzow steckte im Röhricht verborgen,
Die Pfaueninsel, in deren Dunkel
Rubinglas glühte Johannes Kunkel,
Schloß Babelsberg und »Schlößchen Tegel«,
Nymphäen, Schwäne, blinkende Segel -
Ob rote Ziegel, ob steinernes Grau,
Du verklärst es, Havel, in deinem Blau.

Und schönest du alles, was alte Zeiten
Und neue an deinem Bande reihten,
Wie schön erst, was fürsorglich längst
Mit liebendem Arme du umfängst.
Jetzt Wasser, drauf Elsenbüsche schwanken,
Lücher, Brücher, Horste, Lanken,
Nun kommt die Sonne, nun kommt der Mai,
Mit der Wasser-Herrschaft ist es vorbei.
Wo Sumpf und Lache jüngst gebrodelt,
Ist alles in Teppich umgemodelt -
Ein Riesenteppich, blumengeziert,
Viele Meilen im Geviert.
Tausendschönchen, gelbe Ranunkel,
Zittergräser, hell und dunkel,
Und mitteninne (wie das lacht!)
Des roten Ampfers leuchtende Pracht.
Ziehbrunnen über die Wiese zerstreut,
Trog um Trog zu trinken beut,
Und zwischen den Trögen und den Halmen,
Unter nährendem Käuen und Zermalmen,
Die stille Herde... das Glöcklein klingt,
Ein Luftzug das Läuten herüberbringt.

Und an dieses Teppichs blühendem Saum
Die lachenden Dörfer, ich zähle sie kaum:
Linow, Lindow,
*
(Und es folgen noch viele Namen von Dörfern und Schlössern...)


 iustitia antwortete am 15.03.05 (13:48):

Theodor Fontane: Blanche

Jung, /Auf dem Sprung,/Nicht bös,/ Graziös.

Auch ein weibliches Wesen ist um mich her, das in meinem Haushalt die Ergänzung zu Rasumofsky bildet. Es ist, um mich in Rückertschen Anklängen zu bewegen, eine feine Reine, schlanke Kleine, die ich mit Rücksicht auf ihre Erscheinung Blanche getauft habe. Sie ist ganz weiß und nur auf der Stirn, als Zeichen edelster Abstammung, hat sie einen braunen und schwarzen Tigerstreifen. Sie ist noch ganz Kind, ganz unbefangen, faßt das Leben von der heiteren und Vergnügungs-Seite auf und betrachtet sich selbst als bloßes Ornament des Daseins. Sie kennt keine andere Pflicht als die, sich zu putzen und sich streicheln zu lassen; sie könnte nach allem eine Engländerin sein. Nur ihrer Grazie nach ist sie Französin.
Ich engagierte sie zunächst aus bloßer Nützlichkeitsrücksichten und erwartete von ihr, wie jetzt das Modewort lautet, einen guerre d´extermination gegen den Erbfeind; aber niemals ist eine Erwartung gründlicher getäuscht worden. Sie scheint kaum zu wissen, daß es Feinde gibt, geschweige Erbfeinde; sie führt ihren Exterminations-Krieg gegen Gardinenkanten, gegen alles, was Puschel oder Quaste heißt; über Nacht aber, wenn der Feind seine Vorposten schickt, horcht sie auf, spinnt dann einen Augenblick vergnüglich und schläft wieder ein. Dennoch - dies Anerkenntnis bin ich ihr schuldig - übt sie einen gewissen Einfluß, aber freilich ohne die geringste Ahnung davon; sie wirkt wie das Bild des Tigers, das die Chinesen, zum Schrecken für den Feind, an die Außenwand des Hauses stellen.
Sie ist ganz Spielzeug, und ich habe es längst aufgegeben, Ernsteres von ihr zu erwarten. Es liegt nicht in ihr. Sie ist mir Schauspiel, Augenweide, Zirkus-Schönheit, im Hoch- und Weitsprung gleich ausgezeichnet, und den Tag über an der Klingelschnur zu Hause. Sie behandelt dieselbe als Trapez, was sie ungehindert kann, da die betreffende, aus Bast geflochtene Cordel das Schicksal der meisten ihrer Schwestern teilt, eine bloße höchst fragwürdige Stubendekoration zu sein.
Blanche, wie gesagt, ist die Ergänzung zu Rasumofsky; was jener meinem Geiste ist, ist dies meinen Sinnen. Wenn ich mit dem Erstern, in jener Simplizität, die alles Große begleitet, die Tagesangelegenheiten behandle, also in rascher Reihenfolge die Fragen stelle: Wie ist das Wetter? Was macht Paris? Nichts von Frieden? - so gehört mein Auge ganz der kleinen Weißen, die wie ein alabasterner Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch neben mir liegt. Nun erhebt sie sich, um zwischen Uhr, Teetasse und Tintenfaß jene Spaziergänge auszuführen, die eben nur jenem Geschlechte möglich sind, dem Blanche angehört. Werde ich endlich ungeduldig, so weiß sie diese Ungeduld zu sänftigen. Der Tisch hat einen Aufsatz von sechs Fächern, jedes nur so groß, um eine Hand hineinzulegen. In alle sechs Fächern duckt sie sich der Reihe nach hinein und blickt mich aus dieser Umrahmung schelmisch an. Das sind die letzten Mittel, denen nicht zu widerstehen ist.

Um acht Uhr, nachdem wir unsern Tee genommen, für den sie eine distinguierte Vorliebe zeigt, gehen wir zu Bett; sie ist aber noch nicht müde und unterhält mich eine Viertelstunde lang durch die wunderbarsten Kapriolen. Um halb neun endlich, wo abwechselnd ein Trompeter von den Schleswiger Husaren und den Garde-Ulanen auf den Kasernenhof tritt, um die preußischen Kavallerie-Signale zu blasen, wird Blanche stiller und schiebt sich wie zu einer letzten Liebkosung, an meinen Hals zwischen Kopf und Schulter. So vergehen Minuten. Eine Viertelstunde später tritt aus dem Kasernenflügel gegenüber ein französischer Trompeter auf den Hof hinaus und antwortet dem Preußen oder besiegelt den Appell.
Nun weiß Blanche, daß es Zeit ist. Sie erhebt sich summend und spinnend und legt sich am Fußende des Bettes auf die vierfach zusammengefaltete Reisedecke.
Das Feuer im Kamin erlischt. So schlafen wir, bis die Reveille uns weckt.


 iustitia antwortete am 15.03.05 (13:54):

"Blanche" - ein eigenartig schöner Text - aber ein Feuilleton aus der Gefangenschaft Fontanes 1870 auf der Festungsinsel Oléron, im Atlantik.
Dort wurde er aber bevorzugt behandelt, als Offizier...
*
Das kriegstechnische Vokabular ist verräterisch; einiges müsste man heute sogar und Gott sei Dank erklären:
guerre d´extermination, Reveille…

Ein meisterliches Feuilleton, in dem keinmal das Wort "Katze" vorkommt.
*
In: Th. F.: Kriegsgefangen. Erlebtes 1870. Berlin 1871.
(Aus der Ausgabe des Verlags der Nation. Berlin 1984. S. 148ff. Wanderungen durch Frankreich. Bd. 1.)
*
Max R a s u m o f s k y war der ihm, der den Status eines höheren Offiziers“ zuerkannt erhielt, zugeteilte Bursche; ein „schwarzer preußischer Husar“, ein deutscher Kriegsgefangener in der Festung auf der Insel Oléron/Westfankreich, wo die Loire und die Gironde in den Atlantik münden..
*
Fontane: Kriegsgefangen. TB-Ausgabe
https://images-eu.amazon.com/images/P/3746652774.03.LZZZZZZZ.jpg

Oléron:
URL: Er befand sich damals auf dieser Insel, die heute im Internet touristisch vermarktet wird.
*
War schon jemand mal dort...?

Internet-Tipp: https://locanet.com.free.fr/images/oleron.jpg


 Enigma antwortete am 15.03.05 (17:24):

Hallo iustitia,

"Blanche" finde ich so entzückend, so liebevoll beschrieben und auch für mich so dem Wesen einer Katze entsprechend, dass ich das doch unbedingt direkt schreiben muss.

Gruss
Enigma


 iustitia antwortete am 16.03.05 (11:20):

Ich verweise auf eine Interpretation zu Fontanes Gedicht

"Es kribbelt und wibbelt weiter"

URL:
https://f27.parsimony.net/forum66372/messages/2167.htm

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/m2EbWQzUU


 iustitia antwortete am 17.03.05 (16:26):

Ein weiteres Grab-Gedicht Fontanes....:

Theodor Fontane:
Am Jahrestag
(27. September 1888)

Heut ist's ein Jahr, daß man hinaus dich trug,
Hin durch die Gasse ging der lange Zug,
Die Sonne schien, es schwiegen Hast und Lärmen,
Die Tauben stiegen auf in ganzen Schwärmen.
Und rings der Felder herbstlich buntes Kleid,
Es nahm dem Trauerzuge fast sein Leid,
Ein Flüstern klang mit ein in den Choral,
Nun aber schwieg's - wir hielten am Portal.

Der Zug bog ein, da war das frische Grab,
Wir nächsten beide sahen still hinab,
Der Geistliche, des Tages letztes Licht
Umleuchtete sein freundlich ernst Gesicht,
Und als er nun die Abschiedsworte sprach,
Da sank der Sarg, und Blumen fielen nach,
Spätrosen, rot und weiße, weiße Malven,
Und mit den Blumen fielen die drei Salven.

Das klang so frisch in unser Ohr und Herz,
Hin schwand das Leid uns, aller Gram und Schmerz.
Das Leben, war dir' s wenig, war dir' s viel?
Ich weiß das eine nur, du bist am Ziel,
In Blumen durftest du gebettet werden,
Du hast die Ruh' nun, Erde wird zu Erden,
Und kommt die Stund' uns, dir uns anzureihn,
So laß die Stunde, Gott, wie diese sein.
*
[Fontane: Gedichte. Ausgabe 1898]. Fontane: Werke. S. 117;vgl. Fontane-NA Bd. 20, S. 42 ff.

*

Gemeint ist der Jahrestag des Begräbnisses des ältesten Fontane-Sohnes George; am 27.09.1887 auf dem Friedhof in Berlin-Lichterfelde, im Zusammenhang ist es entstanden mit dem Gedicht „Meine Gräber“, in dem er den Namen des toten Sohnes nicht genannt hatte.

**

URL führt zu den Grab-Gedichten und einer Interpretation:
https://www.klassikerforum.de/forum/viewtopic.php?p=15386#15386


 iustitia antwortete am 18.03.05 (09:11):

Als Lese-Präsent für verschiedene Literaturbegeisterte im ST – ein Fontane-Brief, der auf Usedom geschrieben wurde, an ein „junges Poetenherzen“ erinnert – und an die Apotheke, den Nussbaum und den Vater...

Brief von Theodor Fontane an seine Frau:

An Emilie Fontane
Heringsdorf, 24. August 1863

Es sind erst zwei Tage und zwei Stunden, seit ich von Berlin fort bin, und schon habe ich so viele Eindrücke empfangen, so viel alte und neue Menschern gesehn und gesprochen, daß mir zumute ist, als hätte ich dem Berliner Staub und die Berliner Rinnsteine schon wochenlang hinter mir. Staub und Rinnsteine, da haben wir’s. Es läßt sich gegen diese Badereiserei gewiß sehr viel sagen; in hundert kleinen Dingen verschlechtert man sich, es fehlt in Komfort und manchem ändern noch, aber man hat „Ruhe und frische Luft“, und diese beiden Dinge wirken wie Wunder und erfüllen Nerven, Blut und Lungen mit einer stillen Wonne. Selbst in Swinemünde hatte ich am Sonnabend schon dies Gefühl, hier habe ich es seit gestern in einem sehr verstärkten Grade.
Stettin gefiel mir außerordentlich; der Sonnabend (Markt) und der Strom voller Boote von den benachbarten Oderdörfern tat das seinige, um das Bild besonders anziehend zu machen. Das Dampfschiff (der »Neptun«) setzte sich bald in Bewegung, und nun ging es stromab in das Haff hinein. Es erinnerte mich sehr an die Dampfschiffahrten in Schottland; auch kann ich nicht sagen, daß wir bei diesem Vergleich, namentlich in bezug auf die Menschen, sehr zu kurz gekommen wären. Nur freilich fehlte es ganz an eigentlicher Dameneleganz, wovon man in England und Schottland wenigstens immer etwas sieht. Die Landschaftsbilder waren anmutig, aber doch durchaus nicht so sehen wie die Elbufer um Hamburg herum. Um vier waren wir in Swinemünde.
An der Stelle, wo ich (es war ein wackliges altes Fachwerkhaus, darin die Ressource war) als 14jähriger Junge, angetan mit einem blauen Bastard von Frack und Jacke, getanzt und bei »Pfänderspiel« und »Wohnungsvermieten« zuerst die Unbefriedigtheit des jungen Poetenherzens empfunden hatte, erhebt sich jetzt ein großes Hotel mit vielen Balkonen und einem Eckturm, ein Gasthaus, das in Erscheinung und Größe keinem Berliner etwas nachgibt.

(Forts. folgt)

URL: Theodor Storm, Fontanes Freund

Internet-Tipp: https://www.xlibris.de/Autoren/Fontane/Fontane_Bilder/12gb.jpg


 iustitia antwortete am 18.03.05 (09:14):

Forts.:

Brief Fonanes an seine Frau Emilie (vom 24. August 1863)

Aber auch die Stadt selbst hat sich sehr verändert, und in abermals dreißig Jahren wird sie vermutlich den Charakter einer kleinen Schifferstadt mit Giebelhäusern völlig verloren haben. Diese Giebel, die Bäume vor den Türen und eine Art Gitter, das hürdenartig diese Bäume einschloß, waren das Hübschste an der Stadt, aber alles das ist auf dem Punkt zu verschwinden. Nur der Kastanienbaum steht noch, aus dessen Spitze ich (beim Kastanienpflücken) niederstürzte, wobei einer der untenstehenden Jungens ausrief: »Donnerwetter, nu kommt ne große.«
Dies führt mich natürlich auf das Haus, darin ich fünf Jahre lang gelebt, gelernt, gespielt, gelacht, geweint habe. Es ist total runtergekommen. Die Apotheke ist verlegt, und in dem Lokal, wo sonst rezeptiert wurde und wo der katholische Gehilfe dem protestantischen Kollegen mit dem Messingleuchter einem Schlag auf den Kopf gab, ist jetzt ein schmieriger Kaufmannsladen. Der Flur, die Küche, die winklige Treppe, die Einteilung der Zimmer ist (wenigstens an der Wohnseite) unverändert geblieben; aber wiewohl es nie was Schönes war, so hat es such doch bedeutend verschlechtert, denn alles ist dreckig und absolut ruppig geworden. Die Hof- und Garteneinrichtung ist völlig umgestaltet. Doch steht noch der Nußbaum, der damals seine noch jungen Zweige in das Fenster von Papas Stube - da, wo sein Sekretär mit der ewig knarrenden Klappe stand - hineinwachsen ließ. Ich bin in solchen Dingen so unsentimental wie möglich, und ich kann nicht sagen, daß das alles mich tief ergriffen hätte; aber von leiser Wehmut, von einer gewissen Herbststimmung, wird das Herz doch beschlichen.

Dunkle Zypressen; -
Ring dich nicht ab,
Es wird doch alles vergessen.
- sagt Storm, und er hat recht.

Immer wieder lief ich durch die Straßen der Stadt, aber ich sah kein bekanntes Gesicht; sie sind alle fort, verzogen, die meisten sehr weit. Gestern um elf nahm ich einen Wagen und fuhr am Strande entlang hierher. Das Wetter ist schlecht, gestern Wind, heute Regen, und doch muß ich sagen, es ist entzückend. Das Zimmer, das ich bewohne, ist freundlich, geräumig, das Haus seifest ganz allerliebst, der Blick durch Bäume hindurch auf das graue Meer poetisch und für Herz und Sinne unendlich wohltuend. Lepel [ein Freund Fontanes] kam bald, um mich zu besuchen.
Dann streifte ich durch den Wald; auf der Rückkehr, mitten im Buchengrün, hörte ich Orgelklänge, denen nachgehend ich in die »Waldkirche« kam, die geschmackvoll mit ihrem rotbraunen Ziegelton aus dem Waldesgrün emporwächst. Die Kirche war aus, und die schmalen Steige fingen an, sich mit heimkehrenden Kirchgängerinnen zu beleben. Dazu die Stille, nur Waldes- und Meeresrauschen - es machte einen überaus freundlichen Eindruck auf mich ...
*
(Aus: Th. F.: Von dreißig bis achtzig. Sein Leben in Briefen. München: dtv 6041. 1995. S. 149ff.)
*
URL: Fontane

Internet-Tipp: https://home.snafu.de/hartwig/friedhof/texte/fontane.jpg


 iustitia antwortete am 19.03.05 (21:13):

Dichterkollegen über Theodor Fontane:

Thomas Mann (1875-1955):

Man vergleiche das blasse, kränklich-schwärmerische und ein bißchen fade Antlitz von dazumal mit dem prachtvollen, fest, gütig und fröhlich dreinschauenden Greisenhaupt, um dessen zahnlosen, weiß überbuschten Mund ein Lächeln rationalisierter Heiterkeit liegt, wie man es auf gewissen Altherren-Portraits des achtzehn­ten Jahrhunderts findet, - und man wird nicht zweifeln, wann dieser Mann und Geist auf seiner Höhe war, wann er in seiner persönlichen Vollkommenheit stand.(...) („Der alte Fontane". Essay, 1910)
*
Georg Lukács (1885-1971):

So wird Fontane - je reifer, desto mehr - zur schwankenden Gestalt, zu einem Menschen und Schriftsteller, der für keine der kämpfenden Klassen oder Parteien wirklich zuverlässig ist. Er ist durch Gefühlstraditionen seiner Entwicklung, durch ästhetisch-moralische Sympathien am meisten an den märkischen Adel gebunden. Die Produktion jedoch, die seine skeptische Ironie entstehen läßt, lockert, ja zerreißt objektiv dieses subjektiv so fest geknüpfte Band.
(T.M.: „Der alte Fontane“. 1950)

*

Samuel Beckett (1906-1989):

(Bühnenfigur) Krapp: Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal Effi las, eine Seite pro Tag, wieder unter Tränen. Effi (Pause). Hätte mit ihr glücklich sein können, da oben an der Ostsee, und die Kiefern und die Dünen.
(Aus dem Drama „Das letzte Band", 1959)

*

Alfred Döblin (1878-1957:

Welches Vergnügen hat der gebildete Spießbürger, der Mann in besseren Verhältnissen, an diesen Schilderungen der ‚kleinen Freuden und Leiden' des Menschen. Dies Vergnügen legt bloß die ganze Entartung, die der Bürger in den verflossenen Jahrzehnten erfahren hat (er hat sie nicht erlitten, es ging schmerzlos). Der Bürger sagt triumphierend vor diesen Werken: so und nicht anders sind die Menschen, die geschraubten Bücher lügen; da gibt es nichts von Dämonie. („Der Maskenball". 1921)
*

Ricarda Huch (1864-1947):

Daß er, Fontane, selbst Idealist sei, hat er wohl erwogen, aber recht überzeugt war er doch nicht davon und konnte es nicht sein. Zwar lobte ihn sein Vater, daß er ‚nicht happig, nicht begehrlich sei’; indessen merkt man doch, daß er sich den Verzicht auf äußere Glücksgüter abringt, von dem unbefangenen Darüberstehen des wahren Idealisten hat er nichts. Anderseits hatte er wohl ein ungeheures Selbstgefühl; aber er versteckte es, weil er wußte, daß er die Kraft nicht hatte, es zu verwirklichen.
(„Fontane aus seinen Eltern“. 1917/18)

Günter Grass (*1927)
Es fing mit einem Traum an, der ausgelöst wurde von der Fontane-Begeisterung meiner Frau. Ein Eifersuchtstraum, der nur literarisch zu bewältigen war. (...) Als zweites war mir nun die Auseinandersetzung mit der mehrfach ge­brochenen Existenz Fontanes wichtig geworden. Es entstand der Wunsch, nicht im klassischen Sinn eine Biographie zu schreiben, aber eine unterschwellige zu erzählen. Und zwar, indem ich eben nicht Fontäne auftreten lasse, was ich für eine Anmaßung gehalten hätte, sondern indem ich aus all den vielen Fontäne-Fans, die bisweilen auch etwas Schrulliges haben, eine einzige Figur mache. So ist mir Theo Wuttke, den alle Fonty nannten, in den Sinn gekommen.
(In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.10.1995. Grass übe seinen Fontane-Roman "Ein weites Feld“)
*
URL: Fontane (von Max Liebermann)

Internet-Tipp: https://www.buddenbrookhaus.de/ausstellungen/fontane_titel.jpg


 iustitia antwortete am 26.03.05 (09:48):

Theodor Fontane:
(Von Berlin ...) bis St. Denis

O S T E R S O N N T A G S B A H N F A H R T

Wir flogen rechts, wir flogen links,
Gebirge, Bäum' und Hecken! (Aus Bürgers "Lenore»)
*
„Ich gebe diesen werten Gästen
Aus unsrem Keller was zum besten“. Aus Goethes „Faust“

Die Ostertage 1871 führten mich «trotz alledem» wieder gen Frankreich. Der Zweck meiner Herbstreise war nicht erreicht worden; die Franctireurs von Domremy hatten es anders be­schlossen, und statt Sedan und Metz und das von siegreichen deutschen Heeren eingeschlossene Paris zu sehen, wurde ich selber eingeschlossen und angehalten, eine unfreiwillige Reise durch das mittlere Frankreich zu machen. Der Gebrannte scheut das Feuer, Da es indessen nicht Marotte, sondern Metier gewesen war, was mich im Monat Oktober in Feindesland geführt hatte, da der vernünftige Zweck von damals unabgeschwächt und unverändert fortbestand, so blieb mir keine Wahl, - ich muß es eben wagen. Nicht bloß der Soldat steht auf seinem Posten. Am 9. April brach ich auf.
Es war Ostersonntag. Ich hatte es mir so schön gedacht, überall am Wege hin die Glocken festlich klingen zu hören, aber wie das Eisenbahngetöse, für die Mitfahrenden wenigstens, selbst das Rollen des Donners übertönt, so ging auch das Glockenläuten der Städte und Dörfer in dem Rasseln unseres Zuges unter.
Noch um anderes, worauf ich gerechnet hatte, kam ich: die geputzten Leute, auf die der Festtagsreisende doch eine Art traditionellen Anspruchs hat, blieben mir zu gutem Teile versagt. Was davon da war, verschwand in den hundertfältigen Unifor­men von Freund und Feind. Unser Wagen selbst, in seinen beiden Nachbarkupees, beherbergte ein Dutzend französischer Offiziere, denen die wiedererlangte Freiheit alle Elastizität der Zunge zurückgegeben haben mußte, denn von rechts und links her, wie Pelotons, lärmte und klatschte die Konversation.
Desto stiller war es in unserem eigenen Kupee. Ich teilte dasselbe mit einem älteren Herrn, miles catarrhalis, der auf den sonnigen Stellen des Rücksitzes Taschentücher trocknete und nur von Zeit zu Zeit unanfechtbare Bemerkungen über die Un­bequemlichkeiten hartnäckiger Erkältungen machte. Der Ge­genstand berührte mich selbst zu ernsthaft, als daß ich durch Widerspruch die Konversation hätte beleben können. So schwiegen wir uns aus und trockneten weiter.
Es war kalt, aber sonnig; kein Wolkenschleier, kein milde fal­lender Schatten deckte die Schäden der Landschaft. Da lag Trebbin. Meine Kapitel über «Mark Brandenburg» (ach, so viele) traten wieder fragend vor mich hin; — sie sahen mich scharf an, und ich schlug die Augen nieder.
So ging es bis Wittenberg. Eine Stunde später fuhren wir in die sächsisch-thüringische Ebene ein, an dem alten Schlachtengrund von Lützen, an dem älteren von Merseburg vorüber, bis die Burgen «an der Saale hellem Strande» uns freundlicht grüßten. Kosen war noch intakt: Jung-Berlin, die ganze Armee der kranken Augenwimper, fehlte noch. Weimar lag so lächelnd da, als woll' es die Welt oder sich selber hinwegtäuschen über die Öde seines Daseins (…)
*
(Aus: Th. F.: Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsaß-Lothringen. 1871. Wanderungen durch Frankreich. Bd. 2. Berlin 1984: Verlag der Nation. S. 5f.)
*
Erläuterungen zum Text:
https://f27.parsimony.net/forum66372/messages/2191.htm

Internet-Tipp: https://f27.parsimony.net/forum66372/messages/2191.htm


 iustitia antwortete am 29.03.05 (21:20):

Theodor Fontane: (Frau Jenny Treibel singt…)

Glück, von Deinen tausend Losen,
Eines nur erwähl' ich mir,
Was soll Gold? Ich liebe Rosen
Und der Blumen schlichte Zier.

Und ich höre Waldesrauschen
Und ich seh' ein flatternd Band -
Aug' in Auge Blicke tauschen,
Und ein Kuß auf Deine Hand.

Geben nehmen, nehmen geben,
Und Dein Haar umspielt der Wind,
Ach, nur das, nur das ist Leben,
Wo sich Herz zum Herzen findt.
*
(Th. F.: Aus dem Roman "Frau Jenny Treibel"; Kap. 4; ebenso im 16., dem letzten Kapitel, am Hochzeitstag seiner Tochter Corinna, wo Prof. Schmidt, nachdem die Hausherrin schon zu Bett gegangen ist, das Lied vortragen lässt.)
*
Dass in diesem Liebesgedicht Mörikes „blaues Band“, das im Frühling überall, am Himmel, in der Werbung, auch im ST, flattert und dann bei Fontane zum Band der Liebe und des Versprechens wurde – daran wollte ich hier erinnern.
*
URL - a. Frau Jenny T...

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/oJ46ERp0D


 Marina antwortete am 30.03.05 (11:48):

Danke iustitia, für die Erinnerung. Das Gedicht ist sehr schön. Obwohl - am Schluss ein bisschen trivial, wie ich finde. Fast so trivial wie m e i n e Lyrik :-) Von Fontane hatte ich da doch mehr erwartet. Aber es ist trotzdem schön.


 iustitia antwortete am 30.03.05 (12:32):

Du hast Recht, Marina.
Fontane veranstaltet mit diesem Lied ein ironisches Spiel.

Etwa so zu beschreiben:

Verfasst hat das Leidchen, äh, Liedchen, der Lehrer Wilibald Schmidt für seine Jugendliebe Jenny Bürstenbinder (bevor sie reich heiratet und ihn verschmäht...)

Als Gymnasialprofessor Wilibald Schmidt fragt er sich späer mal wieder, als er sein Lied im Hause Treibel hört: „Was macht meine Freundin Jenny? Hat sie gesungen? Ich wette, das ewige Lied, mein Lied, die berühmte Stelle „Wo sich Herzen finden“, beiläufig eine himmlische Trivialität und ganz wie geschaffen für Jenny Treibel…“
*
Mit dem Text hat Professor Wilibald Schmidt vormals als jugendlicher Verehrer seine angeschmachtete Jenny gewinnen wollen. Er wollte also i h r entsprechen...
Seitdem muß das »Unglücksding«, dessen Schlußwendung der Poet Schmidt selbst als "himmlische Trivialität" bezeichnet, als Symbol eines sentimentalen Freundschaftskultes herhalten, den Schmidt gutmütig und selig mitmacht, auch wenn er seine Freundin Jenny durchschaut und kritisiert: »’Gold ist Trumpf’ und weiter nichts.«

Nachdem Frau Kommerzienrätin sich in genau diesem Sinne selbst entlarvt hat und eine Ehe zwischen ihrem Sohn und Schmidts Tochter kapitalorientiert verhindert, ist es am Ende des Romans Schmidt selber, der bei der Hochzeit Corinnas (mit einem anderen Liebhaber, den sie nicht verschmäht...) zu später Stunde, als Jenny das Fest bereits verlassen hat, den Sänger Krola »Jennys Lied« nochmals vortragen läßt.
Bereits betrunken, weint Schmidt gerührt vor sich hin und erklärt dann: »Bravissimo. Treibel, unsere Jenny hat doch recht. Es ist was damit, es ist was drin; ich weiß nicht genau, was, aber das; ist es eben - es ist ein wirkliches Lied. Alle echte Lyrik hat was Geheimmisvolles. Ich hätte doch am Ende dabei bleiben sollen ...«
(Er sehnt sich zurück als Kitschdichter mit Herz und nach niedlichen Reimen, die sich natürlich auch auf Schiller beziehen (geklaut aus "Lied von der Glocke").
So sentimental geht's zu im preußischen Bürgertum, das Fontane liebe- und verständnisvoll charakterisiert.


 iustitia antwortete am 30.03.05 (12:35):

Gefunden bei www.haraldschmidt.tv, in einer schönen Abfolge von wichtigen Männern an ihren Schreibtischen:

Fontane am Schreibtisch in Berlin. Potsdamer Str.:

https://www.haraldschmidt.tv/images/fotogalerie/galerie37/fontane1896.jpg

Schmidts Text dazu:

Emilie Fontane konnte nur das Haus verlassen, wenn sie ihren „Lieben Alten“ geborgen wusste: am Schreibtisch. Dort war sein Schaffenskreis. Als er am 20. 09. 1898 starb, hinterließ er auf seinem Schreibtisch folgende Gedichtzeilen:

"Bei mir heißt es eilen.
Allerorten umklingt mich
wie Rauschen im Wald:
'Was du tun willst, tue bald!“

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/C5tqc4jMc


 Marina antwortete am 30.03.05 (18:20):

Boooh, da bin ich aber stolz, dass ich das mit der Trivialität sogar im Fontaneschen Sinn richtig erfasst habe. Das wusste ich gar nicht. Es beruhigt mich aber, dass er doch nicht so trivial ist, sondern das ironisiert hat. Jedenfalls sind deine interessanten Erklärungen für mich jetzt ein Anlass, den Roman doch mal zu lesen.
Also was du hier leistest mit diesem thread - Bewunderung! Fontane hat es dir wohl sehr angetan, hoffentlich weiß er das zu schätzen. :-)


 iustitia antwortete am 01.04.05 (09:23):

Schön!
Nun noch einige Hinweise auf Fontanes Romane; heute ein Beispiel wg. der dort erwähnten "Siegesäule"; also in der Zeit nach 1873:
*
Aus welchem Roman, natürlich von Th. F. stammt diese Passage? (Die Gesellschaft befindet sich in der Eisenbahn, bei der Abfahrt aus Berlin, nach Thale, im Harzer Bode-Tal.)

Fontane:
„Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluß hin gelegene Stadtteil, den der Zug eben passierte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. Zwischen rauchgeschwärzten Seitenflügeln erhoben sich etliche Kugelakazien, sechs oder acht, um die herum ebensoviel grüngestrichene Tische samt angelehnten Gartenstühlen standen. Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals, und man sah deutlich, wie Körbe mit Flaschen hinein- und mit ebensoviel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. In einer Ecke stand ein Kellner und gähnte.

Bald aber war man aus dieser Straßenenge heraus, und statt ihrer erschienen weite Bassins und Plätze, hinter denen die Siegessäule halb gespenstisch aufragte. Die Dame wies kopfschüttelnd mit der Schirmspitze darauf hin und ließ dann an dem offenen Fenster, wenn auch freilich nur zur Hälfte, das Gardinchen herunter.

Ihr Begleiter begann inzwischen eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu studieren, die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins angab. Er kam aber nicht weit mit seiner Orientierung, und erst als man die Lisière des Zoologischen Gartens streifte, schien er sich zurechtzufinden und sagte: »Sieh, Cécile, das sind die Elefantenhäuser.« (...)

*
Url - zur Siegessäule: "Goldelse" genannt - "Viktoria" mit Lorbeerkranz
Über der Plattform erhebt sich als Abschluss der Säule eine vergoldete, 8,32 m hohe und 35 t schwere, von Friedrich Drake geschaffene Bronzeskulptur der Viktoria mit Lorbeerkranz, adlergeschmücktem Helm und Feldzeichen mit Eisernem Kreuz, die Siegerin, ursprünglich als „Borussia“ glorifiziert:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/HuGiSuMXM


 Enigma antwortete am 02.04.05 (09:00):

Die Passage müsste aus dem Roman "Cécile" stammen.
Das wusste ich zwar nicht, habe es aber gefunden.
Und wenn man sucht, beschäftigt man sich ja auch damit, und dadurch kann man auch lernen. So sagt man jedenfalls.


 iustitia antwortete am 02.04.05 (10:12):

Ja - "Cécile" -
S. https://gutenberg.spiegel.de/fontane/cecile/cecile.htm
*
Dort, im Text, wird nur durch eine abweisende Handbewegung auf die S i e g e s s ä u l e verwiesen; der Leser aber erfährt, dass diese abreisende Familie wegen ihrer Auffassungen und Verhaltensweisen in Berlin gesellschaftlich geächtet ist.
*
Fontane verwendet mehrfach den Ausdruck "Deutschkaiserlichkeit" für die preußisch-deutschen Anmaßungen, deren sozialen Druck - bis zum Duellieren - er gestaltete. Und da mussten sich die Leser entscheiden..: Will ich da mitmischen...?
**
"Die Siegessäule" - aufgebaut und erbaut auf Krieg - da oben soll sie trohnen, die "Schutzgöttin" - für die nächsten Kriege.
Die funktionalisierte Weiblichkeit als Dekor - und als Kampfansage des Imperialismus für die nächsten Generationen (so gedacht, bis es platzte, das Sieges-Syndrom). Der offizielle Gegner hieß politisch-chauvinistisch "Franzosentum". - Und da machte der Hugenotte Fontane nicht mit, als Deutscher, als Dichter. (Auch wenn er dafür jahrzehntelang nicht akzeptiert wurde.)
*
Hier die "Siegessäule": als touristische Beschreibung 2004:

Kaiser Wilhelm I. beauftragte den Baumeister Johann Heinrich Strack 1864 mit der Planung eines Monuments als Nationaldenkmal, der an die Siege des Preußens gegen Dänemark, Frankreich und Österreich erinnern sollte. Die Säule sollte mit Beutestücken aus siegreichen Feldzügen geschmückt werden. Die Siegesgöttin mit Lorbeerkranz und Speer, die von Berliner auch "Gold-Else" genannt wird, ist 35 t schwer und 8 m hoch. Sie bekrönt die Siegessäule im Zentrum des Platzes Großer Stern. Die ursprünglich vor dem Reichstagsgebäude aufgestellte Siegessäule wurde wegen der von den Nationalsozialisten geplanten Umgestaltung Berlins zur Reichshauptstadt "Germania", an ihren heutigen Standort, auf den Großen Stern inmitten des Tiergartens verlegt und 1938 von 61,5 m auf 69 m erhöht. Die Säule hat einen achtstufigen quadratischen Unterbau aus poliertem roten Granit, wo Bronzereliefs Szenen von Karl Keil, Alexander Candrelli, Moritz Schultz und Albert Wolff aus den Befreiungskriegen gezeigt werden. Die Siegessäule wurde dann 1945 auf Geheiß des Alliierten demontiert, 1984 und 1987 wieder angebracht. Sie überstand den Krieg weitgehend unbeschadet und wurde Mitte der 80er Jahre restauriert. An der Innenwand angebrachtes Glasmosaik von Anton von Werner stellt ebenfalls Kriegszenen dar. Vergoldete Geschützrohre aus der Kriegsbeute verzieren den Säulenschaft. Um auf die Aussichtsplattform zu gelangen, muß man eine Wendeltreppe mit 285 Stufen im Inneren der Säulen ersteigen.
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URL - wo sich Geschmack und Geschichte entschieden:
https://www.reisefuehrer-berlin.de/siegessaeule.html

Internet-Tipp: URL: https://www.reisefuehrer-berlin.de/siegessaeule.html


 iustitia antwortete am 03.04.05 (12:04):

Mich interessiert an diesem Brief, wie Ihr Fontanes Beurteilung seiner Kinder findet. - Ist das gerecht, „en famille“ spielende, weihnachtlich beschäftigte Kinder nach dem eigenen Ehrgeiz zu beurteilen? Kann man ihnen die eigene berufliche Erfolglosigkeit so anlasten...?
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Th. Fontanes Brief an Mathilde von Rohr (eine adelige, liberal-großzügige Freundin) vom 3. Januar 1883:

Die Festtage, trotzdem uns nichts eigentlich quälte und drückte, waren nicht recht froh. Meine Frau schob es darauf, daß ich alle die Festtage durch bis zum 31., wo ich dann um 7 Uhr ins Theater (Silvester-Vorstellung) stürzte, angestrengt arbeiten mußte; aber das ist Täuschung. Der eigentliche Grund, der keine rechte Lustigkeit auf kommen läßt, ist der, daß in unsren sämtlichen Herzen keine Lustigkeit existiert; alles ist unter dem Druck vom irgend etwas Lästigem, Unangenehmen; die Kinder - mit alleiniger Ausnahme von Friedel, der einen gütigen, teilnahmevollen, liebenswürdigen Charakter hat - sind, im letzten Winkel ihres Herzeins, alle über »die kleinen Lebensverhältnisse« verstimmt; alle drei sagen sich beständig, »Gott, es ist doch aber auch ein Piech, daß wir gerade so arme Eltern haben, müssen«; sie übersehen das tausendfältig Gute, das sie haben, und kommen zu keiner echten und tiefen Anerkennung meiner Bestrebungen, weil ihnen die relative Resultatlosigkeit dieser Bestrebungen unbequem ist. Meine Frau ist darin viel verständiger und viel liebenswürdiger geartet (überhaupt die Beste von der ganzen Gesellschaft, mich mit eingerechnet) und leidet nur ihrerseits wiederum unter ihrer großen körperlichen Gebrechlichkeit. Ich, trotz aller Arbeit (oder vielleicht durch die Arbeit), bin der einzig oft wirklich Heitre und würde dieser Heiterkeit auch Ausdruck geben, wenn mich nicht die tief-innerlichste Nicht-Heiterkeit der Kinder um diese meine Heiterkeit brächte. Das Maß von Verkehrtheit und Undankbarkeit, das darin liegt, ärgert mich. Keins der Kinder hat je scharf zugefaßt und gesagt: »So soll es sein; das übernehm ich, das ist nun meine Sache« - alle leben ganz ausschließlich nach ihrem Penchant. Dieser Penchant ist nicht schlecht, sie verlangen keine Dummheiten, sie sind nicht faul - aber leider folgt nur seiner Laune, seiner Natur, keiner hat eine höhere Vorstellung von Pflicht. Sie tuen dies und das, auch Gutes und Verständiges, aber sowie es anfängt, ihnen im kleinsten unbequem zu werden, ist es damit vorbei. Vielleicht war ich ebenso, vielleicht sind die meisten Menschen so; aber jedenfalls gibt es auch andre, die voll Kraft und Mut nicht bloß der eignen Neigung, sondern auch einer wirklich schönen, über das Ich hinausgehenden Aufgabe leben. Die Beobachtung dieser Dinge rund um mich her ist mir mitunter schmerzlich und kann einem das ganze Menschentum, man selbst mit eingerechnet, verleiden.“
(Th. F.: „Sie hatte nur Liebe und Güte für mich.“ Briefe an Mathilde von Rohr. Hrsg. v. Gotthard Erler. Berlin 2000. Aufbau TB 5287. S. 282f. - Die Kinder - Theodor (*1856), Martha (Mete) (*1860), Friedrich (*1864); sie sind zu diesem Zeitpunkt also schon erwachsen.


 Marina antwortete am 04.04.05 (09:44):

iusitia, es ist schwer, auf deine Frage zu antworten, weil du die Antwort darin schon selbst gegeben hast. Natürlich ist das nicht gerecht. Aber so sind die Väter und Patriarchen! :-) Fontane war ja sicher eher ein konservativer solcher. :-)
Aber so sind auch die Künstler! Egozentriker! s. auch Th. Mann.


 Enigma antwortete am 04.04.05 (10:14):

...Marina, die Aufmerksame, hat schnell die Frage entdeckt.

Was mich daran stören würde, ist auf jeden Fall, dass wir nur eine Version, die von Fontane haben.
Aber die Frage stellt ja wohl darauf ab, wie das Verhalten zu beurteilen wäre, wenn es dem Wahrheitsgehalt entsprechen würde.(Obwohl das immer schwierig ist, weil es so viele subjektive Wahrheiten gibt...)
Normalerweise sind die Eltern erwachsen und die Kinder klein, und da liegt es nahe, dass die Eltern geben und die Kinder nehmen.
Aber vielleicht ist es auch so, dass Fontane selbst unter seiner materiellen Erfolglosigkeit zeitweise gelitten hat und das auch seinen Kindern unterstellt??
Wenn die Kinder noch klein sind, ist es normal, wenn die Eltern geben und die Kinder nehmen.
Aber vielleicht sollten sie auch nicht fordern, die Kinder...
Ich habe mal einen schönen Satz gelesen, der ungefähr ausdrückt, dass, wenn die Kinder immer mehr fordern, sich das Herz der Eltern schliesst....
Ist das nicht immer so bei Forderungen???


 Enigma antwortete am 04.04.05 (11:10):

Eine Ergänzung noch:

Was ich meine, ist, dass - ebenso wie die Kinder - auch die Eltern ein Recht auf Akzeptanz haben.
Es kommt darauf an, ob die Kinder - altersgemäss natürlich - die Lebenssituation ihrer Eltern intellektuell begreifen können.
Und können sie das, sollten sie auch lernen, keine unbilligen Forderungen materieller Art zu stellen.
Es gibt auch andere Werte. Und die zu vermitteln, ist wiederum Sache der Eltern oder anderer Personen.
Es würde doch ein völlig falsches Bild vermitteln, wenn jeder materielle Genuss im Leben ohne jede Anstrengung erreicht werden könnte.
Und das nennt man doch Erziehung, oder??


 Marina antwortete am 04.04.05 (15:15):

Ja, ja, das ist "ein weites Feld",
und manche Frage sich uns stellt,
die Enigma zu Recht anstößt,
doch damit ist sie nicht gelöst. :-)


 iustitia antwortete am 06.04.05 (23:42):

Ja, Erziehung, und wenn sie schon so verbal pessimistisch läuft wie bei Th.F. - aber es war nur in einem Brief an "Fräulein" Math. von Rohr...
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Wenn auch verspätet – Dank für die lieben Reaktionen.
*
Fontane hat viel von seiner Familie und seinen Berufsplänen dem „Fräulein von Rohr“ geschrieben. Der letzte Brief war auch ein bisschen Appell an die Gönnerin, ob seiner lebenslangen schlechten Einkünfte.
*
Heute, im Jahre 1876, hat Fontane eine berufliche Chance aufgegeben – zum Ärger aller, die ihm helfen wollten - und besonders zum Verdruss seiner Frau Emilie.
Er gab den Job eines Sekretärs der Berliner Akademie der Künste nach kurzer Zeit auf. Dort musste er Protokolle schreiben und bei Zwist zwischen den Künstlern als Beamter "stumm" bleiben.

Fontane im Brief an Mathilde von Rohr, vom 17.06.1876, seine älteste „Freundin“ aus Berliner literarischen Kreisen, die nach Eintritt in das adelige Damenstift Dobbertin (1869), eine Vertraute und Gönnerin blieb.

"Mein gnädigstes Fräulein(…)
Unser langes Schweigen tat darin seinen Grund, daß sich in unsrem Hause wieder große Umwälzungen vollzogen haben: ich habe vor etwa 3 Wochen meine Entlassung aus meinem Amte nachgesucht. Alle Welt verurteilt mich, hält mich für kindisch, verdreht, hochfahrend; ich muß es mir gefallen lassen. Das Sprechen darüber hab ich aufgegeben; es führt doch zu nichts; ich muß durch Taten beweisen, «daß ich nicht leichtsinnig gehandelt habe. Ob mir dies gelingen wird, muß abgewartet werden. Ihnen, die Sie immer so gütig und nachsichtig gegen mich gewesen sind, nur das folgende: ich bin jetzt 3 Monat im Dienst; in dieser ganzen Zeit hab ich auch nicht eine Freude erlebt, nicht einen angenehmen Eindruck empfangen. Die Stelle ist mir, nach der persönlichen wie nach der sachlichen Seite hin, gleich sehr zuwider; alles verdrießt mich, alles verdummt mich, alles ekelt mich an. Ich fühlte deutlich, daß ich immer unglücklich sein, daß ich gemütskrank, schwermütig werden würde. Vom ersten Tage an bis zu dieser Stunde ist meine Empfindung dieselbe geblieben. Ich benutzte eine sich mir darbietende Gelegenheit, erklärte, mein Amt niederlegen zu wollen, und kam tags darauf beim Minister Falk um meinen Abschied ein. Bis dieser erfolgt sein wird - worüber noch ein paar Monate vergehn -, führe ich die Geschäfte fort. Ich habe furchtbare Zeiten durchgemacht, namentlich in meinem Hause; meine Trau ist tiefunglücklich, und von ihrem Standpunkte aus hat sie recht. Andrerseits konnte ich ihr diese schmerzlichen Wochen nicht ersparen. Und was geschehen sollte, mußte rasch geschehn. Noch hab ich vielleicht die Kraft und die Elastizität, die Dinge wieder in so guten Gang zu bringen, wie sie bis zu dem Tage waren, wo mir diese unglückselige Stelle angeboten wurde. Die Weisheit der Menschen nutzt mir nichts. Was sie mir sagen können, hab ich mir in hundert schlaflosen Stunden längst selbst gesagt. Die Glücksarten der Menschen sind eben verschieden; »den enen sin Uhl is den annern sin Nachtigall«. Mir ist die Freiheit Nachtigall, den andern Leuten das Gehalt. Wenn Sie es über sich vermögen, so schreiben Sie meiner Frau ein paar freundliche, trostreiche Worte; ein paar Hiebe gegen mich können immer dabei abfallen. In 14 Tagen soll sie nach Neuhof; ich verspreche mir viel von diesem Aufenthalt. Eh ein Vierteljahr um ist, wird sie sich mit dem Geschehenen insoweit ausgesöhnt haben, daß sie es als das meiner Natur Entsprechende gelten läßt. Ich muß ja doch schließlich dafür aufkommen und die bequemen Tage (bequem trotz ihres innren Schreckensgehalts) mit arbeitsvollen vertauschen."
(Briefe an M. v. R. S. 228f.)
*
Schlau, der Bursche, wie er sich dachte, mit seiner Frau umgehen zu können; so ein bisschen "nacherziehen"..!


 iustitia antwortete am 07.04.05 (15:07):

Ist jemandem dieser "John Maynard" schon mal untergekommen....?
**
Ada Linden (=Christiane von Breden):
JOHN MAYNARD

Mit flatternden Wimpeln und rauchendem Schlot
Fährt über den Erie ein stolzes Boot;
Die Lüfte sind sonnig, die Wogen so hell,
Hinschwebt die "Schwalbe" sicher und schnell,
Es lenket das Steuer John Maynard.

Da gellt ein Angstruf: "Das Schiff, es brennt!"
Umsonst zu löschen man drängt und rennt,
Aus den Fugen steigt wirbelnd der Rauch hervor,
Am Hinterdeck züngeln die Flammen empor,
"Wir sind verloren, John Maynard!"

'Noch ist das Vorderdeck sicher und fest,
Dort harrt in Ruhe, der wachsende West,
Er treibt nach rückwärts die lodernde Gluth;
Auch in Flammen noch segelt die Schwalbe gut,
Auch in Flammen steht fest John Maynard.'

"Wie weit, wie weit noch zum rettenden Port?"
'In anderthalb Stunden sind wir dort!
Getrost, Capitän, ich halte Stand!'
Der drückt die heiße, schwielige Hand:
"So stärke dich Gott, John Maynard!"

Auf seinem Posten, von Funken umsprüht,
Vom sengenden Hauch der Flammen umglüht,
Steht fest der Brave, mit kundiger Hand
Hinlenkt das Schiff durch den Wogenbrand
Zum sicheren Hafen John Maynard.

"Gerettet nun sind wir von Tod und Qual,
Du, Getreuer, hab' Dank viel tausend Mal!"
Nicht Antwort kommt wieder, der Rauch verweht,
Am glühenden Steuer ein Todter steht.
So starb für sie Alle John Maynard.

**
(Aus: Karl Wilhelm Bindewald: Deutschlands Dichterinnen. Osterwieck/Harz: Zickfeldt, o. J. [1895]; S. 70)
*
URL - der bekanntere "J.M."!

Internet-Tipp: https://www.forums9.ch/sprachen/johnmaynard.htm


 iustitia antwortete am 08.04.05 (13:19):

Fontane: Ein Briefchen mit besonderen Erinnerungen an und für die Aufmerksamkeit einer Ehefrau.
(Aus dem 6. Kapitel des Romans „Irrungen, Wirrungen“ von Th. Fontane)

Rittmeister Rienäcker lachte (...) Und während er so sprach, erbrach er Lenes Billet und las:

»Es sind nun schon volle fünf Tage, daß ich Dich nicht gesehen habe. Soll es eine volle Woche werden? Und ich dachte, Du müßtest den andern Tag wiederkommen, so glücklich war ich den Abend. Und Du warst so lieb und gut. Mutter neckt mich schon und sagt: ›Er kommt nicht wieder.‹ Ach, wie mir das immer einen Stich ins Herz gibt, weil es ja mal so kommen muß und weil ich fühle, daß es jeden Tag kommen kann. Daran wurd' ich gestern wieder erinnert. Denn wenn ich Dir eben schrieb, ich hätte Dich fünf Tage lang nicht gesehen, so hab' ich nicht die Wahrheit gesagt, ich habe Dich gesehn, gestern, aber heimlich, verstohlen, auf dem Korso. Denke Dir, ich war auch da, natürlich weit zurück in einer Seiten-Alleh, und habe Dich eine Stunde lang auf und ab reiten sehn. Ach, ich freute mich über die Maßen, denn Du warst der stattlichste (beinah so stattlich wie Frau Dörr, die sich Dir emphelen läßt), und ich hatte solchen Stolz Dich zu sehn, daß ich nicht einmal eifersüchtig wurde. Nur einmal kam es. Wer war denn die schöne Blondine mit den zwei Schimmeln, die ganz in einer Blumengirrlande gingen? Und die Blumen so dicht, ganz ohne Blatt und Stiehl. So was Schönes hab' ich all mein Lebtag nicht gesehn. Als Kind hätt' ich gedacht, es müss' eine Prinzessin sein, aber jetzt weiß ich, daß Prinzessinnen nicht immer die schönsten sind. Ja, sie war schön und gefiehl Dir, ich sah es wohl, und Du gefiehlst ihr auch. Aber die Mutter, die neben der schönen Blondine saß, der gefiehlst Du noch besser. Und das ärgerte mich. Einer ganz jungen gönne ich Dich, wenn's durchaus sein muß. Aber einer alten! Und nun gar einer Mama? Nein, nein, die hat ihr Teil. Jedenfalls, mein einziger Botho, siehst Du, daß Du mich wieder gut machen und beruhigen mußt. Ich erwarte Dich morgen oder übermorgen. Und wenn Du nicht Abend kannst, so komme bei Tag, und wenn es nur eine Minute wäre. Ich habe solche Angst um Dich, das heißt eigentlich um mich. Du verstheest mich schon. Deine Lene.«

»Deine Lene«, sprach er, die Briefunterschrift wiederholend, noch einmal vor sich hin, und eine Unruhe bemächtigte sich seiner, weil ihm allerwiderstreitendste Gefühle durchs Herz gingen: Liebe, Sorge, Furcht. Dann durchlas er den Brief noch einmal. An zwei, drei Stellen konnt' er sich nicht versagen, ein Strichelchen mit dem silbernen Crayon zu machen, aber nicht aus Schulmeisterei, sondern aus eitel Freude. »Wie gut sie schreibt! Kalligraphisch gewiß und orthographisch beinah... Stiehl statt Stiel... Ja, warum nicht? Stiehl war eigentlich ein gefürchteter Schulrat, aber, Gott sei Dank, ich bin keiner. Und ›emphelen‹. Soll ich wegen f und h mit ihr zürnen? Großer Gott, wer kann ›empfehlen‹ richtig schreiben? Die ganz jungen Komtessen nicht immer und die ganz alten nie. Also was schadt's! Wahrhaftig, der Brief ist wie Lene selber, gut, treu, zuverlässig, und die Fehler machen ihn nur noch reizender.«
Er lehnte sich in den Stuhl zurück und legte die Hand über Stirn und Augen: »Arme Lene, was soll werden! Es wär' uns beiden besser gewesen, der Ostermontag wäre diesmal ausgefallen. Wozu gibt es auch zwei Feiertage? (...)« (1888)
*
(Später muss er dieses Briefchen entsorgen, da von Rienäcker geheiratet hat – und keine verräterischen Liebesdokumente in seiner Wohnung aufbewahren will.)


 Enigma antwortete am 12.04.05 (08:56):

Am Waldessaume träumt die Föhre,
Am Himmel weiße Wölkchen nur,
Es ist so still, daß ich sie höre,
Die tiefe Stille der Natur.

Rings Sonnenschein auf Wies' und Wegen,
Die Wipfel stumm, kein Lüftchen wach,
Und doch es klingt als ström' ein Regen
Leis tönend auf das Blätterdach.

Theodor Fontane

Eine schöne Föhre - she. URL!

Internet-Tipp: https://www.onlinekunst.de/baumgedichte/fontane_theodor.html


 iustitia antwortete am 28.04.05 (18:52):

Ich werde vor Pfingsten - noch einige Texte zu Th. F. einbringen - und dann dieses Thema hier abschließen.

Theodor F o n t a n e: Rückblick

Es geht zu End, und ich blicke zurück.
Wie war mein Leben? Wie war mein Glück?

Ich saß und machte meine Schuh;
Unter Lob und Tadel sah man mir zu.

«Du dichtest, das ist das Wichtigste...»
«Du dichtest, das ist das Nichtigste.»

«Wenn Dichtung uns nicht zum Himmel trüge...»
«Phantastereien, Unsinn, Lüge!»

«Göttlicher Funke, Prometheusfeuer ...»
«Zirpende Grille, leere Scheuer!»

Von hundert geliebt, von tausend mißacht't,
So hab ich meine Tage verbracht.
*
Zuletzt datiert auf Juni 1888; Vorfassungen entstanden schon 1885, unter dem Titel “Dichterlos“ oder „Mein Dichtertum“.
(Aus: Th. F.: GBA. Gedichte. Bd. I. Berlin 1995. S. 31)


 iustitia antwortete am 28.04.05 (19:45):

Zu Pfingsten vorausgeschickt; häufig überraschen mich Gedanken, wenn und ob und wie Priester, Bischöfe, Theologie-Professoren oder gar Päpste in ihrer geistig-religiösen Einsamkeit auch kritische Dichtung, z.B. von Fontane, zur Kenntnis nähmen...:

Theodor Fontane: B e r l i n 1850

Pfingsten ist das Fest der Freude,
Das da feiern Wald und Heide. -
>Uhland<

Pfingsten war's! Nach langen Jahren
Kehrt ich heim zur Vaterstadt,
Hatte Sehnsucht nach den Laren
Und die Fremde herzlich satt.
Tanzte schon im Kolosseum,
Rutschte schon im Tivoli,
Schlürfte Kaffee im Odeum –
Und Bouillon bei Stehely.

Fröhlich kam ich hergeschlendert
Durch das Anhaltiner Tor, -
Gott, wie kam mir so verändert
Alles in den Straßen vor.
Todesstille aller Orten;
Nur ein Polizistenpaar
Forschte nach, ob hier und dorten
Noch ein Laden offen war.
Vor dem elterlichen Hause
Stand ich endlich im Portal,
Schellte dann mit mancher Pause
Wohl ein halbes Dutzend Mal.
»Das ist ja zum Geierholen!
Aufgemacht! Potzsapperment,
Steh hier draußen wie auf Kohlen,
Aufgemacht! Mordelement.«

Endlich kroch des Hauses Stütze,
Ein erkrankter Greis, hervor,
Eine weiße Zipfelmütze
Zog er über Stirn und Ohr.
»Welch ein. Fluchen! wie beschädigt,
Wie verdorben bist du – Kind.
Bete, bete, - geh zur Predigt,
Wo die Hausbewohner sind.«

Schier verwundert ging ich weiter,
Und es war mir just im Sinn
Nicht so lustig, und so heiter,
Wie ich das gewöhnlich bin.
Langewelle, Durst und Arger
Trieben mich ins Türk’sche Zelt,
Wo ich schnell Johannisberger,
Vierunddreiß’ger, mir bestellt,

Aber ach, den toten Wänden
Sprach ich mein Verlangen aus,
Denn von dienstbeflißnen Händen
Fand ich keine dort zu Haus.
Endlich ließ im schwarzen Fracke
Sich ein Kellner vor mir sehn,
Eine furchtbar dicke Backe
Ließ ihn nicht zur Kirche gehn.

Und ich fordre heftig wieder
Meinen Vierunddreiß'ger mir;
„Sieh, da sinkt der Kellner nieder
Und ohnmächtig wird er schier.
»Gott im Hummel«, ruft er kläglich –
»Geh nicht; mit ihm ins Gericht,
Trinken will er - feiertäglich!
Ach, er weiß nicht, was er spricht.«

Lächelnd meint ich: »Nun, mit Biere
Will ich auch zufrieden sein,
Aber brocke mir Lektüre
In den Gerstensaft hinein.«
Er verklärte sich; die Bibel
Bracht er freudestrahlend mir
„Ein Gesangbuch, eine Fibel,
Aber - Wasser nur statt Bier.

Doch das schien mir zu vergnüglich,
Und ein nicht verdientes Glück,
Ich begab mich unverzüglich
In die fromme Stadt zurück.
Dorten wurde höchst moralisch
Ganz urplötzlich mir zu Sinn,
Oder war's nur theatralisch,
Kurz, ich ging zur Kirche hin.

Wunderbar! - Zur Andacht riefen
Priesterwort und Orgelton,
Aber die Berliner schliefen
Allesamt und schnarchten schon.
Mir zur Seite sprach im Traume
Eine Köchin äußerst fromm:
»Wilhelm, komm! im Jrienen Baume
Ist Musik und Tanz; - oh, komm.«
*
Dass dieses Gedicht schon 1842 entstand, wollte Th. F. nicht so offenbar machen; damals hatten 57 Berliner Geistliche zur "strengen Einhaltung der Sonntagsruhe" aufgerufen und sich frömmelnd an dem Friedrich Wilhelm IV. gewandt.
Dichter und Kritiker äußerten dagegen: "Wo der Geist entwichen ist, muss auch die Form in Stücken gehen."
Th. F. äußerte sich aber öffentlich nicht politisch; sondern schrieb lieber gleichnishafte Gedichte...