Reiner war wütend auf den Lack und auf Joe, der das Teufelszeug angeschafft hatte. Nur nicht auf sich. Er war überzeugt, bei der ganzen
Aktion keinen Fehler gemacht zu haben. Da beschloss er, nicht mehr länger warten zu wollen. Die erste Ausfahrt musste endlich stattfinden.
Komme was da wolle!
Reiner holte seinen Freund Old Joe mit ihrem Spezialpfiff aus der Wohnung und informierte ihn, dass sofort die Jungfernfahrt stattfinden
würde. Mit verkniffenem Gesicht beobachtete Joe, wie sich Reiner mit vorsichtig verhaltenem Schwung auf den Sattel seines klebrigen
Drahtesels hievte.
Reiner konnte den vorsintflutlichen Gesundheitslenker nur an den äußersten Enden der Gummigriffe fassen. Um den Rahmen nicht zu
berühren, drehte er die Knie soweit als möglich nach außen. Weil die Pedale auch angeschmiert waren, versuchte er diese nur mit den
Zehenspitzen zu erreichen. Old Joe konnte sein Lachen nicht mehr verkneifen, als er Reiner mit steif aufgerichtetem Oberkörper und all den
Verrenkungen auf dem rabenschwarzen Gefährt sitzen sah.
,,Mit so einer Witzfigur fahr ich nicht am hellen Tag durch Mögeldorf", erklärte er kategorisch, obwohl er sonst doch für jeden Unsinn zu
haben war.
,,Weißt du wie du aussiehst?"
Er wartete gar nicht auf Reiners Reaktion, sondern erklärte ihm sofort, wie er seiner Meinung nach aussah, ,,wie hinauf gesch ..."
Er unterbrach seine Auskunft schnellstens, als er durch einen Rundblick feststellte, dass sie nicht alleine auf der kleinen Straße vor dem Haus
waren. Reiner hatte noch gar keine Zeit, um frustriert zu sein, als Joe noch weitere Begründungen für seine rigorose Ablehnung der
Jungfernfahrt anbrachte:
,,Der nächste Schupo würde dich verhaften und zurück zum Reichelsdorfer Keller bringen, weil er dich für einen Schrittmacher hält, der sich
auf der Rennbahn verirrt hat und ich bin dann dran wegen Beihilfe ... hi ... hii ..."
Joe war nun in Fahrt und wie aufgezogen:
,,Und wenn uns jemand sieht, der uns kennt, dann ..."
,,Ja, ja, reicht schon", meinte Reiner ärgerlich, ehe Joe nach weiteren Argumenten suchte. So wurde dann unter dem verhaltenen Protest
Reiners die Jungfernfahrt in die Dunkelheit verlegt.
In der lauen aber wolkenverhangener Frühsommernacht war es fast so finster, wie damals in Kösching bei der Kollision mit dem
unbeleuchteten Pferdefuhrwerk. Zum Unterschied von damals brannten heute aber die Gaslaternen der Straßenbeleuchtung. Aus Fenstern und
Türen der Ein- und Zweifamilienhäuser im fast unzerstörten Stadtteil Ebensee fiel matter Lichtschein auf die Gehwege.
Vor den Fahrrädern warfen die Lampen einen kleinen hellen Kegel auf die Straße. Reiner genoss das Surren seines Dynamos. Er hätte
stundenlang in der angenehmen Nachtluft hinter dem Schein seiner Fahrradlampe und Joe's rotem Rücklicht herfahren können. Der kühle
Fahrwind strich leicht über sein Gesicht und die Haare und bauschte am Rücken das Hemd zu einer Luftblase. Es war ein Genuss, auf dem
eigenen Fahrrad, aus eigener Kraft, aber ohne zu Laufen, vorwärts zu kommen. Die allzu bekannten Entfernungen der abendlichen Rundwege
schmolzen auf ein Minimum zusammen. Es war ein Glücksgefühl, das in ihm hochstieg und ihn fast etwas an das Gefühl erinnerte, das ihn bei
der Rückkehr des Vaters aus der Gefangenschaft überkommen hatte. Er fühlte sich jetzt Old Joe und den anderen Fahrradbesitzern ebenbürtig.