Mit der Flugasche, die sich überall niederließ, kam auch der allgegenwärtige Brand- und Schuttgeruch. Es bedurfte tagelanger
Reinigungsarbeiten im Haushalt, am Körper, in den Haaren und an der Kleidung, um dem Dreck und dem Gestank einigermaßen Herr zu
werden.
Reiner war bei seiner Oma, als der SHD zusammen mit der Feuerwehr die leere Hülle der Brandbombe, die in der Zimmerdecke stecken
geblieben war, abholte. Das Loch im Fußboden des Obergeschosses wurde mit Brettern und Dachpappe abgedeckt und mit Backsteinen
beschwert. Auch das nicht einmal sehr große Loch im Dach wurde provisorisch mit Dachpappe abgedichtet.
So grau wie die Welt um sie herum war auch die Stimmung der Menschen. Es war eine Art gefühlloser Leere, die sich ihrer bemächtigt hatte.
Übernächtigt, geschockt vom Erlebten und Gesehenen, brauchten die meisten eine lange Zeit, um wieder zu sich zu finden.
Reiner kannte die verschiedenen Gemütslagen vieler Menschen seiner Umgebung aus dem täglichen Zusammenleben sehr genau. Die
Regungen von Freud und Leid, Ärger und Wut, erkannte er nicht nur bei Eltern und Großeltern, sondern auch bei Lehrern, Pfarrern oder
Nachbarn. Er bemerkte bei vielen seiner Mitmenschen neben Angst, Schrecken und Trauer auch eine gehörige Portion Ärger, Wut und Trotz.
Diese Stimmungen schwebten unausgesprochen in der Atmosphäre. Niemand sprach direkt darüber - am allerwenigsten mit ihm. Wer hätte
auch detailliert sagen können, gegen wen sich Wut und Trotz am meisten richten sollten? Gegen ein anonymes Schicksal? Gegen die Bomber?
Gegen die eigene Führung?
Der Ausspruch von Luftfahrtminister Feldmarschall Hermann Göring, dass er Meier heißen wolle, wenn ein feindliches Flugzeug in den
Luftraum des Deutschen Reiches eindringen sollte, war auch Reiner bekannt. Deshalb wusste er auch genau, wer gemeint war, wenn mit
Augenzwinkern vom ,,Herrn Meier" die Rede war. Sehr verwirrt war er allerdings, als er hörte, dass auch der Nachbar mit der SA-Uniform und
der großen Hakenkreuzfahne, dessen Haus auch abgebrannt war, vom ,,Herrn Meier" sprach.
Die Gesprächsfetzen der Erwachsenen, die er aufschnappte, waren für ihn schon häufig Rätsel gewesen. Er hatte sogar den Eindruck, je älter er
werde, desto weniger wollte man ihm auf seine Fragen über Krieg, Politik und Partei eine befriedigende Auskunft geben. Fast immer geriet er
an den Punkt, wo ein Gespräch mit dem Satz endete:
,,Das verstehst du noch nicht!"
Der Fahrradraub
Einer von Reiners Gruppenkameraden wohnte im Nachbarhaus. Er hieß Josef oder auf neudeutsch natürlich ,,Joe" - besonders gern ließ er sich
auch ,,Old Joe" nennen. Dieser besaß den Ferrari der ersten Nachkriegszeit: ein Fahrrad.
Weil nun beide nicht jeden Abend AFN hören oder Bücher lesen wollten, Kinokarten bei den wenigen Lichtspielhäusern sehr schwer zu
erhalten waren und da das Fußballspielen bei Dunkelheit unmöglich ist, durchstreiften sie die nähere und weitere Umgebung ihrer Wohnung
meist planlos. Oft hatten sie dabei den Hintergedanken, das eine oder andere ihnen bekannte Mädchen zu treffen und über Filme, Musik oder