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Ganz besonders der Text des Liedes von den ,,morschen Knochen", die vor dem großen Krieg zitterten, von dem gebrochenen Schrecken - welcher Schrecken war da gemeint? - und vor allem das Weitermarschieren auch wenn alles in Scherben fällt, waren für ihn unverständliche Aussagen. Ebenso unverständlich waren die vagen Erklärungen der Erwachsenen. Ihn quälte vor allem die Frage, was das ,,alles", das da in Scherben fällt, war. Er kannte damals nichts von der ,,ganzen Welt" die ihm am Schluss des Liedes gehören sollte. Seine Welt war Nürnberg und insbesondere Mögeldorf. Es war nur logisch, dass er automatisch mit der ,,ganzen Welt", die da möglicherweise in Scherben fallen sollte, im Unterbewusstsein ,,seine" Welt, vor allem Mögeldorf, assoziierte. Der Gedanke gefiel ihm aber gar nicht!
Er war richtig froh, dass bei einem Heimabend ein HJ-Führer über das Lied ,,Es zittern die morschen Knochen" referierte und es zu erklären versuchte. Was er nicht wusste, und was der HJ-Führer auch nicht sagte, war die Tatsache, dass das Lied innerhalb verschiedener Naziorganisationen umstritten war und verschieden interpretiert wurde, ja zeitweise sogar verboten war.
Der HJ-Führer mystifizierte und symbolisierte den Text auf eine Art, die Reiner wohl die Angst vor den Scherben nahm, ihn aber trotzdem unbefriedigt, ja mit neuen Besorgnissen in der Seele hinterließ. Der Vortragende dozierte, dass die nationalsozialistische Idee und Weltanschauung gemeint war, die weiter marschieren wird, wenn andere Ideen wie Christentum und Judentum oder andere abseitige Gedankengebäude in Scherben gefallen seien und dass der ,,große Krieg" der Kampf der Ideologien sei. Er erklärte: die ,,morschen Knochen" seien die Anhänger solcher Jahrtausendealter und überholter Weltanschauungen, die dem Kampf gegen die neue, junge und starke Idee des Nationalsozialismus nicht gewachsen wären.
Für den damals erst zehnjährigen Reiner war der ganze Vortrag eine Stufe zu hoch. Der hier angemahnte Kirchenkampf drang nicht in sein Bewusstsein. Der HJ-Führer wusste wahrscheinlich nicht, dass die Kirche nicht untergehen wird. Das hat Jesus prophezeit. Und dass der Kaplan schon öfter in seinen Predigten, sinngemäß, darauf hingewiesen hat, dass die Kirche auch neben den Nazis existieren könne, denn das habe schließlich der Führer mit dem Papst und den Bischöfen in einem Vertrag abgesprochen, das wusste der HJ-Führer offenbar auch nicht.
Ein Rest von Beunruhigung war nach diesem Heimabend bei Reiner trotzdem noch zurückgeblieben.
An diesen Heimabend musste Reiner denken, als sie von dem oberfränkischen Dorf zurückkamen und die Zerstörungen sahen, die die letzten Fliegerangriffe angerichtet hatten. In der unmittelbaren Umgebung ihres Häuschens gab es zwar keine größeren Beschädigungen, aber ganz in der Nähe von Omas Wohnung, beim Schauerswäldla, hatte eine Luftmine die Innenmauern zum Hof eines in U-Form gebauten Wohnblocks herausgerissen. Es hatte Verletzte aber keine Toten gegeben. Es gab nun doch immer mehr Scherben in seiner Welt.
Vater sah seine Bedenken, die er bei der Rückkehr seiner Familie hatte, in zunehmendem Maße bestätigt. Ihr Wohnviertel lag zwischen zwei Bahnlinien nach Osten, einer Flakstellung und dem großen Rüstungsbetrieb ,,Tafel" am gegenüberliegenden Pegnitzufer. Vater kannte durch seine Arbeit auf den Flughäfen die mangelhafte Zielgenauigkeit der damaligen modernen Bombenwurfeinrichtungen aus eigener Anschauung.
Er hatte Recht. Die Eisenbahnbrücken beim Pulversee wurden nie getroffen. Die Bomben landeten im Pegnitztal (dem heutigen Wöhrder See) oder verwüsteten die Wohnviertel von Wöhrd, St. Jobst und Teilen von Mögeldorf. Das Tafelwerk wurde dann doch getroffen und Reiner vergaß diesen Angriff sein Leben lang nicht.
Die ganze Familie saß um den Küchentisch und erwartete den Alarm, denn der Nürnberger Rundfunksender hatte wieder einmal sein Programm eingestellt. Es war nicht das erste Mal. Aber das beklemmende und lähmende Gefühl, die naive Hoffnung der Alarm möge