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( Leseprobe) ,,...wenn alles in Scherben fällt..."

Es war wohl eines der bekanntesten und schon gleich nach seiner Veröffentlichung auch eines der umstrittensten Lieder der Nazizeit. Wegen der makabren Verwirklichung der Zeile ,,... wenn alles in Scherben fällt ..." ist es bis heute noch bei allen geschichtlich und politisch interessierten Menschen ein Begriff.
Reiner kannte natürlich die Lieder der damaligen Zeit alle. Die Melodien waren meist sehr eingängig und auf den Marschrhythmus komponiert, sodass sie bei einem jungen Menschen durchaus Resonanz fanden - auch bei Reiner. Nur mit den Texten hatte er oft seine Verständnisschwierigkeiten. Das ging schon bei ,,Die Fahne hoch" an. Wer war ,,Rotfront" und ,,Reaktion" und welche Kameraden erschossen sie?
Er war zu jung um aus eigener Vergangenheit um diese Dinge zu wissen. Vater und Mutter gingen bei ihren Erklärungen nie so richtig in die Tiefe seines Wissensdurstes. Erst als er selbst lesen gelernt hatte, konnte er in seinen Schulbüchern nachlesen, was es mit den erschossenen Kameraden auf sich hatte.
Durch die zögerliche Zurückhaltung seiner Eltern bei allen Fragen nach dem, was Nationalsozialismus und Partei in seinem Leben bewirkten und bewirken sollten, wurde Reiners Neugierde besonders geweckt und gleichzeitig aber auch Misstrauen und Zurückhaltung gegenüber allem, was aus der Richtung der Nazis kam. Das Misstrauen war ihm zwar nicht bewusst, aber er versuchte mit seinen Fragen den Dingen auf den Grund zu gehen und gab sich mit Antworten, auch der Lehrer und Jungvolkführer, nicht so schnell zufrieden wie die meisten seiner Kameraden. Bei ihm war noch das, was gemeinhin ,,gesundes Volksempfinden" genannt wird, durch seinen Zwiespalt zwischen Pimpf und Ministrant, kindlich unverbildet vorhanden.
Reiner störte die Mystik in vielen Liedern. Da war das Morgenrot, das er im Osten sehen sollte, als Zeichen zur Freiheit und Sonne; oder das Lied: ,,Wenn wir marschieren, dann leuchtet ein Licht, das Dunkel und Wolken strahlend durchbricht ...". In diesem Lied reimten sich dann auch noch die Fahnen auf Ahnen. Dann war schon wieder die Rede von der Fahne, die sogar mehr als der Tod wäre. Im nächsten Text ging es um nächtlich nach Norden rauschende Wildgänse, bei deren Rückkehr übers Meer nach Süden man sich fragen sollte, was aus uns geworden sei.
Reiner konnte sich unter all dem ,,Dunkel und Wolken" und dem ,,strahlenden Licht" nichts Konkretes vorstellen und deshalb empfand er diese Lieder als unangenehm, ja sogar deprimierend. Für düstere und nebulöse Symbolik hatte er keinen Sinn. Er war Realist und auch Optimist mit einem kleinen Hang hin zur Romantik. ,,Kein schöner Land ..." oder der junge König, der jenseits des Tales nach seiner angebeteten Marketenderin schmachtete, war eher nach seinem Geschmack. Er konnte ja nicht wissen, dass die Nazi-Ideologen den jungen König nicht mehr hören wollten, weil er nicht in das Bild der jugendlichen Heroen der damaligen Zeit passte. Andererseits waren die Wanderlieder auch nicht mehr angebracht, denn ,,zu Land ausfahren" konnte auch niemand mehr. Da waren die Lieder von den Bomben auf ,,Engeland" und den Panzern die in Afrika vorrollten schon griffiger. Aber die Frage der Fragen: warum überhaupt immer und überall vom Kampf und Krieg gesungen wurde, konnte oder wollte ihm niemand beantworten.