Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum | Inhaltsverzeichnis "Ein deutscher Junge"

gen Mitschüler bevor. Diese Angst saß mir ständig im Nacken und

verflog erst, als ich noch vor Weihnachten endgültig Oberschüler war.

Obwohl die Schule einige Kilometer von unserer Wohnung entfernt

lag, ging ich grundsätzlich zu Fuß dorthin. Die Straßenbahn Linie 8 zu

benutzen, mußte ich mir schon aus Kostengründen versagen. Selbst

die zehn Pfennige für die Einfachfahrt konnten meine Eltern nicht be-

zahlen. Ich kann mich nicht erinnern, daß sich überhaupt jemand dar-

über beklagt hätte, lange Fußwege zu machen. Wollte man von Gaar-

den ,,in die Stadt", das heißt nach Kiel, so ging man selbstverständlich

,,um die Kippe". So nannte man damals die Straße, die um die Hörn

herum am Bahnhof vorbei in die Innenstadt führte. Es gab zwar eine

direkte und bequeme Fährverbindung zwischen Gaarden und Kiel mit

den Fähren ,,Primus", ,,Sekundus" und ,,Tertius", aber selbst die zwei

Pfennige, die eine Überfahrt für Kinder kostete, ließen sich sinnvoller

einsetzen, zum Beispiel für den Kauf einer Tüte Bonbons. Natürlich bin

ich auch hin wieder mit der Fähre gefahren, aber nur, wenn Opa Mahrt

mir das spendierte.

Hatte ich in der Mittelschule noch einen gewissen Hang zur Mathe-

matik gehabt, sollte mir dieses Fach jetzt aufs gründlichste verdorben

werden. Ausschlaggebend dafür war Herr Professor Dr. Ahl. Ihn

fürchteten alle Schüler wegen seiner Grobheit und Unberechenbarkeit.

Schon die erste Begegnung mit ihm endete für mich mit einem Fiasko.

Auf meine unschuldige Frage, wer denn der Mathematiklehrer sei,

hatten meine Mitschüler listig erwidert, das sei ein ,,Herr Ahl". Seine a-

kademischen Titel hatten sie mir bewußt verschwiegen. So kam es,

wie es kommen mußte. Mit den Worten ,,Herr Ahl, ich bin der neue

Schüler" wollte ich mich vorstellen. Da fuhr es wie Blitz und Donner auf

mich herab: ,,Isch bin Oberstudienrat, isch bin Professor, isch bin

Doktor, und isch habe mir meine Titel ehrlisch verdient!" Das alles

sagte er in seinem hessischen Dialekt, der mir schrecklich klang. In

Zukunft war ich für Herrn Prof. Dr. Ahl - ohne eigene Schuld - absolut

erledigt. Während seiner Unterrichtsstunden herrschte in der Klasse

beängstigende Stille. Ahl thronte auf seinem Pult, schlug sein Notiz-

buch auf und fuhr genüßlich mit dem Daumen die Liste der Schüler auf


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