Im Herbst 1941 wollte ich plötzlich doch auf die Oberschule. Ich muß
mir wohl gesagt haben, je qualifizierter der Schulabschluß, desto
besser später die Berufsaussichten. Möglicherweise hatte ich auch die
ständige Unterforderung satt. Meine Leistungen auf der Mittelschule
waren derart solide, daß ich kein großes Risiko einzugehen glaubte.
Meine Eltern waren über meinen Gesinnungswandel hoch erfreut. Sie
unterstützten mich in meinem Entschluß, nachdem sie sich bei der
Lehrerschaft meiner bisherigen Schule noch einmal nach den Er-
folgsaussichten erkundigt hatten. Die ,,Oberschule für Jungen" lag am
Königsweg im Süden Kiels, eine gute dreiviertel Stunde Fußweg von
unserer Wohnung entfernt.
Außer mir stellten sich sieben weitere ,,Seiteneinsteiger" dem Di-
rektor Dr. C. vor, einem weißhaarigen älteren Herrn, der uns mit leiser
Stimme präzise Fragen stellte. Ich hatte den Eindruck, daß er sich bei
mir besonders lange aufhielt. Vielleicht irritierte ihn meine Augenklap-
pe. Sie verdeckte nämlich ein blaues Auge, das ich mir kurz vorher bei
einer kleinen Prügelei eingefangen hatte. Nach dem Vorstellungsge-
spräch mußten die zukünftigen Oberschüler zeigen, ob sie auch den
schriftlichen Anforderungen gewachsen seien. Das Aufsatzthema, das
man uns stellte, hieß: ,,Warum will ich die Schule wechseln?" Darauf
folgte ein immens schweres Diktat. Am nächsten Tag hatte sich der
Kreis der Anwärter bereits auf die Hälfte reduziert. Uns anderen ge-
währte man eine Probezeit von einem Vierteljahr. Dabei hatten wir
mehr als ein volles Jahr Lateinunterricht nachzuholen. So blieb mir
nichts weiter übrig, als mehrmals in der Woche bei einem Herrn Dr.
Schröder diese vertrackte Sprache zu büffeln. Dr. Schröder, ein ehe-
maliger Oberstudienrat, beherrschte zwölf Sprachen fließend, war von
den Nazis aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen
worden und schlug sich nun mit Nachhilfeunterricht durchs Leben. Aus
lauter Bewunderung für dieses Sprachgenie gab ich mir alle erdenkli-
che Mühe und entwickelte einen Fleiß wie nie zuvor. Denn mir stand ja
bei einem Versagen nicht nur die zwangsweise Rückkehr in meine alte
Schule, sondern zusätzlich der triumphierende Spott meiner ehemali-
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