Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum | Inhaltsverzeichnis "Ein deutscher Junge"

ber zu unserem Leidwesen nie gekommen. Bald war die erste Be-

geisterung verflogen, und eines Tages löste sich die ganze Aktion in

Luft auf.

In unserer Freizeit ging ich mit meinem Schulfreund Helmut gern

auf Rattenjagd. Mein Vater hatte eine Pistole vom Kaliber 7,65 mm,

die er im Kleiderschrank unter Wäschestücken versteckte. Ich glaube

nicht, daß er einen Waffenschein hatte. Für mich war es jedenfalls ei-

ne Kleinigkeit, die Schußwaffe ,,auszuleihen". Mit reichlich Munition

versehen legten wir uns in ausgebrannten Häuserruinen auf die Lauer

und warteten darauf, daß sich die häßlichen Nager zeigten. Alles

mußte sehr heimlich vor sich gehen. Hätte die Polizei uns erwischt,

wären wir und auch mein Vater in größte Schwierigkeiten geraten. Auf

unerlaubten Waffenbesitz standen schwere Strafen. Unser leichtsinni-

ges Tun war uns damals überhaupt nicht bewußt; an die möglichen

schlimmen Folgen haben wir zu keiner Zeit gedacht. Das Schießen mit

scharfer Munition war außerdem ein höchst gefährliches Spiel, denn

weder Helmut noch ich hatten vorher jemals so eine Waffe in der Hand

gehabt. Aber Übung macht den Meister, heißt es so schön. Hin und

wieder haben wir sogar eine Ratte getroffen.


Etwa zur gleichen Zeit lief eine Großaktion der Naziführung an: die
,,Kinderlandverschickung" (KLV). Denn deutsche Städte wurden

immer mehr in Das Ziel der britischen Bomberverbände. Die Verschi-

ckung der Kinder - freiwillig und meist klassenweise - organisierte die

Reichsjugendführung. KLV-Lager entstanden zunächst in den östli-

chen Teilen Deutschlands. Dort, glaubte man, seien sie vor den An-

griffen sicher. Die Lager unterstanden nicht der allgemeinen Schul-

verwaltung, sondern den ausgewählten Inspekteuren des NS-Lehrer-

bundes. Hitlerjugend-Führer agierten als ,,Lagermannschaftsführer".

Für meine Klasse war ein Lager auf der Insel Rügen vorgesehen. Al-

lerdings verbot mir mein Vater die Teilnahme an der Verschickung -

Gründe dafür hat er nie genannt -, und ich muß gestehen: ich war

nicht besonders traurig darüber.


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