Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum | Inhaltsverzeichnis "Ein deutscher Junge"

Bevor ich zur Schule kam, war ich noch niemals verreist gewesen.
Erst im Jahre 1934 durfte ich zum ersten Mal mit dem Zug fahren.

Es gingin ein Kinderheim nach Wolfshagen im Harz. Der Kinderarzt

hielt mich für körperlich ein wenig unterentwickelt und meinte, ich sei

erholungsbedürftig. Zusammen mit vielen anderen Kindern verbrachte

ich vier aufregende Wochen in einem Werfterholungsheim. Denn alles

war neu für mich: die bergige Landschaft, andere, ungewohnte Mahl-

zeiten, die fremden Kinder um mich herum.

Zunächst war ich vor Heimweh krank - ich war ja das erste Mal von

zu Hause fort. Aber es gab eine liebevolle Betreuerin. Wir nannten sie

Schwester Hanna. Die tröstete mich mit viel Schokolade und Bonbons

und lieben Worten, so daß der Schmerz bald vergessen war. Als dann

auch noch ein Brief meines Vaters mit einem eingeklebtem

50-Pfennig-Stück ankam, fühlte ich mich wieder gesund. Jeweils vier

Jungen bewohnten ein Zimmer. Der strenge Heimleiter achtete pein-

lich genau darauf, daß wir unsere Sachen stets gründlich aufräumten,

was uns zunächst gar nicht gefiel. Als ich wieder zu Hause war, de-

monstrierte ich meinen frisch erworbenen Ordnungssinn - sehr zum

Erstaunen meiner Eltern. Ich glaube allerdings nicht, daß diese Tu-

gend lange vorhielt.

Im Sommer 1935 reisten meine Eltern mit mir nach Berlin, um

,,Tante Guschi" zu besuchen, eine entfernte Verwandte meiner Mutter.

Keiner von uns dreien war vorher in solch einer beeindruckenden

Weltstadt gewesen. Gewiß, ich war überwältigt vom Anblick der riesi-

gen Bauten, der prächtigen Alleen und vom Menschengewühl auf den

Straßen. Aber was war es für ein Erlebnis, als Guschis Mann uns mit

seinem Auto vom Bahnhof Zoo abholte! Ich hatte noch nie in einem

richtigen Auto gesessen, und jetzt die wundervolle Fahrt quer durch

Berlin im Opel Olympia! Unsere Verwandten bewohnten eine hoch-

herrschaftliche Villa in Berlin-Friedenau. In meinen Augen muß Gu-

schis Mann ungeheuer reich gewesen sein, denn er besaß auch noch

ein Sommerhaus in Caputh bei Potsdam. Es lag auf einem Riesen-

grundstück direkt am See; auch ein Bootshaus mit Motorboot gehörte

dazu. Meine Eltern reisten bald wieder ab, aber ich durfte noch eine


35


Anzeige



nach oben