Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum | Inhaltsverzeichnis "Ein deutscher Junge"

Pünktlich um 13 Uhr begannen die Kindervorstellungen mit ,,Dick und

Doof" oder ,,Pat und Patachon". Man mußte schon früh erscheinen, um

noch einen Platz zu erwischen. Der Eintritt kostete generell 50 Pfen-

nig. In der Pickertstraße gab es noch ein weiteres Kino mit Namen

,,Reichspfennig". Am Sophienblatt, in der Nähe des Bahnhofs gelegen,

erfreute uns Kinder ein Varieté mit seinen bunten, artistischen Pro-

grammen. Wegen des hohen Eintrittspreises konnte ich mir einen Be-

such aber nur sehr selten leisten.


Ich habe noch eine Photographie aus dem Jahre 1933. Das Bild wur-
de an meinem ersten Schultag aufgenommen. Ich sehe darauf ziem-

lich beleidigt aus, denn der Photograph hatte mir mit höhnischem Un-

terton - so kam es mir damals jedenfalls vor - dringend empfohlen,

meine Wollstrümpfe glattzustreichen (,,Du siehst ja aus wie eine Woll-

sau!", sagte er). Es war damals allgemein üblich, daß Jungen und

Mädchen sogenannte Leibchen mit Strapsen trugen. Von Anfang an

war mir dieses Kleidungsstück überaus verhaßt gewesen. Mit der

Bekleidung war es sowieso nicht weit her. Die meisten Kinder trugen

gewöhnlich die Hosen, Mäntel und Schuhe, aus denen älteren Ge-

schwister herausgewachsen waren. Da ich keine Geschwister hatte,

mußte für mich neue Bekleidung gekauft werden.

Gleich amzweiten Schultag passierte eine unglaubliche Katastro-

phe. Wir Osterküken - so lautete die Bezeichnung für Schulanfänger -

sollten erst zur zweiten Unterrichtsstunde erscheinen. Natürlich konn-

ten wir die Zeit nicht abwarten und waren alle viel zu früh im Klassen-

raum versammelt. Um die Zeit bis zum Beginn des Schulunterrichts zu

verkürzen, kam jemand auf die verrückte Idee: ,,Laßt uns 'Pißtiere'

spielen! Alle Jungen liefen unter großem Geschrei wie wilde Hunde im

Klassenraum umher. Jedesmal, wenn die Horde am Papierkorb vor-

beiraste, ließ einer von uns die Hosen herunter und pinkelte in den

hölzernen Papierkorb. Plötzlich ging die Klassentür auf. ,,Assi" Meier,

unser Klassenlehrer, betrat den Raum. Ich sehe noch heute sein ver-

steinertes Gesicht vor mir. Solch eine Ungeheuerlichkeit hatte er noch


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