Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum | Inhaltsverzeichnis "Ein deutscher Junge"

Taschen voll mit Süßigkeiten. Wir betrachteten diese schändliche Tä-

tigkeit als erlaubten Mundraub. Gefaßt worden sind wir nie. Später, als

Robert nach der Grundschule die Kieler Gelehrtenschule besuchen

mußte, obwohl Verstand und Begabung dafür wohl kaum ausreichten,

untersagten ihm seine Eltern jeden weiteren Umgang mit mir. Ich war

ja nur ein Proletarierkind.


Die Familie meines Spielgefährten Werner K., die ganz in unserer
Nähewohnte, möchte ich als Beispiel dafür anführen, wie all-

mählich politische Strömungen das Leben einer Familie bestimmen

konnten. Mit Werners Vater Fritz, seiner Mutter Margarete und den

Geschwistern Julia und Ingrid hielten wir gutnachbarliche Beziehun-

gen. Die Väter kannten sich aus früheren Tagen. Fritz war bis 1933

überzeugter Kommunist gewesen. Als Hitler an die Macht gekommen

war, ,,fiel er um" und trat sofort in die Marine-SA ein. Seine Frau Mar-

garete trat ebenso schnell in die NS-Frauenschaft ein und übernahm

dort einen Posten. Julia tat sich später im BDM (Bund deutscher Mä-

del) hervor, und Werner bemühte sich erfolgreich um Aufnahme in den

,,HJ-Streifendienst". Das war eine berüchtigte und bei uns Kindern

verhaßte Sondereinheit der Hitlerjugend, die sich schon beinah poli-

zeiliche Aufgaben anmaßte, indem sie zum Beispiel die Einhaltung der

Sperrstunden für Jugendliche in Lokalen überprüfte oder vor den Ki-

nos kontrollierten, ob man laut Personalausweis berechtigt war, nicht

jugendfreie Filme anzuschauen.

Alle K.s waren glühende Anhänger des ,,Führers", versahen übereif-

rig ihren ,,Dienst" und versuchten, Andersdenkende und Zögernde von

den Segnungen des Nationalsozialismus zu überzeugen. Bei uns tra-

fen diese verbalen Bemühungen allerdings auf taube Ohren. Mein

Vater, obwohl kein unpolitischer Mensch, hielt sich klug zurück und

ließ die Beziehungen zur Familie K. merklich abkühlen. Er ist zeit sei-

nes Lebens niemals Mitglied der NSDAP gewesen, obgleich er durch

seine Verweigerung erhebliche berufliche Nachteile in Kauf nehmen

mußte.


12


Anzeige



nach oben