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          Georg von Signau: Noch weit bis Eden


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erschweren, hat man sie periodisch wieder in andere Häuser gebracht. Sie wurden geschlagen, mit

Psychoterror gefoltert und sexuell missbraucht. Sie wurden schneller älter als ihr in euren

wohlgeordneten Familien und Ordnungen. Und wenn eines sich wehrte oder versuchte, bei den

Behörden auf die Pein aufmerksam zu machen, dann glaubte man nicht ihm, sondern den

sogenannten Erziehern. Später, als sie älter wurden, zwang man sie zu niedrigen Arbeiten in

Fabriken und Bauernhöfen, wo sie wiederum ausgenützt wurden. So ist es auch Anja gegangen, bis

sie eines Tages abhaute und ihre Familie suchte, und sie dann endlich auch fand. Und um den

Häschern besser entgehen zu können, wurde sie in eine andere Sippe gebracht und ihr eine andere

Identität gegeben. Sie lebt noch, die Anja, aber sie heisst halt anders heute. Aber falls du die

Absicht hättest, nach ihr zu suchen, - ich lese es in deinen Augen, dass du mit diesem Gedanken

spielst - muss ich dir sagen, dass das schon anderen misslungen ist, die sich gescheiter glaubten.


Jetzt sind wir aber von unserem ursprünglichen Thema abgekommen. Schon meine Grossmutter

hatte das `Zweite Gesicht`. Meine Mutter habe ich nicht mehr in Erinnerung und ob sie auch das

`Zweite Gesicht` hatte, das weiss ich nicht. Sie ist gestorben, als ich drei Jahre alt war. Ich bin dann

bei der Grossmutter aufgewachsen. Sie hat meine Fähigkeit gespürt und mich ermuntert, sie nicht

zu unterdrücken. Die meisten Menschen haben sie, wenn sie zur Welt kommen, diese Fähigkeit,

aus der Zeit, als die Menschen noch auf den Bäumen herumkletterten. Es ist der magere Rest einer

Gabe, die uns von der Entwicklungsgeschichte geblieben ist. Weil wir sie aber nicht mehr

brauchen und weil die meisten Leute sie sogar unterdrücken, falls sie mal etwas davon zu spüren

bekommen, verkümmert sie. Aber wir dreschen hier leeres Stroh und verplempern unsere Zeit. Du

bist nicht hier um zu plaudern. Trink doch endlich dein Glas leer."

          Georg von Signau: Noch weit bis Eden