Waldemar Futter
Interview von Margit Fischbach (Seniorentreff) mit Herrn Waldemar Futter, dem Landesvorsitzenden des Seniorenverbandes öffentlicher Dienst Baden-Württemberg
Thema: Altersdiskriminierung
Altersdiskriminierung begegnet uns immer wieder. Sei es in der gedankenlosen Anrede als Oma oder Opa, oder in der Form, dass der alte Mensch z.B. beim Arzt nicht mehr als Person wahrgenommen wird und statt ihm seine jüngere Begleitung gefragt wird, was denn dem Patienten fehle. Ein besonders krasser Fall von Altersdiskriminierung fiel Herrn Futter in Tübingen auf.
Seniorentreff: Herr Futter, worum geht es in dem konkreten Fall?
Waldemar Futter:
Als Bürger im Landkreis Tübingen verfolge ich alle Vorgänge in der Stadt Tübingen besonders interessiert, ging ich doch dort zur Schule und auf die Universität, habe dort viele gute persönliche Beziehungen …
Tübingen hat im Anschluss an die berühmte Kulisse „Neckarfront mit Neckarbrücke“ ein verkehrspolitisches Nadelöhr: die Mühlstraße. Gehwege, Fahrradwege und Buslinien teilen sich die enge Schlucht. Für Autos gilt noch (!) eine Einbahnstraßenregelung bergauf. Die Stadtverwaltung will Tübingen umwelt- und zukunftssicher machen und deshalb den Verkehr optimieren. So weit, so gut. Auch die Bürgerbeteiligung ist vorbildlich: Über eine App konnten vor kurzem 79076 Bürger ihre Meinung abgeben. 18543 haben dies genutzt. 52,4 Prozent waren gegen eine „Sperrung“ der Mühlstraße für den Autoverkehr. Das erinnert an den Volksentscheid zu „Stuttgart 21“.
Seniorentreff: Damit ist doch alles klar?
Waldemar Futter:
Anders als die grün-rote Landesregierung bei Stuttgart 21 fühlt sich der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer nicht an das Votum gebunden. Die Entscheidung liege mit Blick auf die Gemeindeordnung beim Stadtrat, alles andere sei eine unzulässige Einschränkung des freien Mandats der vom Volk gewählten Vertreter.
Einen Sturm der Entrüstung hat er jedoch durch seine Bewertung des Abstimmungsverhaltens bei den Leserbriefschreiberinnen und –schreibern hervorgerufen, meinte er doch, dass das Votum der Älteren das „eigentliche“ Meinungsbild „verdreht“ hätte. Die Mehrheit der Tübinger sei mit Rad in der Mühlstraße unterwegs und hätte – anders als die Autofahrer – keine Alternative. Die über 76-Jährigen hätten zu 68 Prozent gegen eine Sperrung votiert, bei den 16- bis 66-Jährigen hätte die Sperrung für Autos und der Ausbau des Radwegs jedoch eine Mehrheit erreicht (1). Und mit Blick auf die derzeit größte Jugendbewegung „Fridays for Future“ appellierte er an die Großeltern und ihre Verantwortung für ihre Enkel: „Wer eine klimaneutrale, umweltfreundliche Stadt mit hoher Aufenthaltsqualität im Zentrum als Zielbild hat, muss früher oder später den Schritt wagen, den Autoverkehr auf Umgehungsrouten zu verweisen.“ Und eine Quote von 48 Prozent Befürwortern sei doch schon ein beachtlicher Erfolg.
Seniorentreff: War das ein einmaliger Ausrutscher oder sehen Sie darin eine Entwicklungstendenz, die sich gegen Seniorinnen und Senioren richtet?
Waldemar Futter:
Ganz im Ernst:
- Immer häufiger werden derzeit die „Alten“ mit ihrer Lebenserfahrung bespöttelt und diskriminiert, nicht nur als Verursacher von Autounfällen.
- Derzeit wird gefordert, die Rechte der Kinder grundgesetzlich besonders zu schützen: vor den Eltern? vor den Großeltern? vor Onkeln und Tanten?
- Die Akteure der Jugendbewegung „Fridays for Future“ beschimpfen die Generation der „Alten“ wutentbrannt: „Wie könnt Ihr es wagen, uns unsere Lebenschancen zu nehmen, unser Leben zu zerstören…“
- Die Medien berichten weit überwiegend einseitig über solche Tendenzen, kommentieren einseitig und stärken so „altenfeindliche“ Tendenzen in der Gesellschaft.
Seniorentreff: Welche Schlüsse ziehen die Medien daraus?
Waldemar Futter:
Die Medien sprechen immer häufiger von einer „Gerontokratie“, einer Herrschaft der Alten, weil diese mit ihrer wachsenden Zahl und ihrem staatsbürgerlichen Pflichtgefühl bei demokratischen Wahlen zunehmend wahlentscheidend werden.
Seniorentreff: Wie sehen Sie diese Entwicklung als Seniorenvertreter?
Waldemar Futter:
Wir „Alten“ wissen:
- Artikel 1 im Grundgesetz schützt alle Menschen vor Entwürdigung:
Junge und Alte, Frauen und Männer, Gläubige und Un- oder Andersgläubige, Deutsche und Ausländer, Veganer und Fleischesser, Fußgänger und Autofahrer…
- Artikel 3 im Grundgesetz verhindert, dass Staatsbürgern „mit ökologisch unerwünschter Lebenseinstellung und fehlendem Weitblick“ das Wahlrecht entzogen wird oder dass Stimmen je nach Lebenseinstellung ungleich gewichtet werden.
- Wir „Alten“ haben in der Regel einen sehr guten ökologischen Fußabdruck hinterlassen, besser als viele Nachkommen: Wir haben in der Nachkriegszeit Kleider lange aufgetragen; Frauen haben Socken gestopft. Wir haben in der Regel spät ein Auto gekauft, wenig Flugreisen gemacht, Lebensmittel oft noch selber angebaut… Wir brauchen nicht jedes Jahr ein neues Handy, einen neuen PC, neue Spielkonsolen… Wir lassen unsere Elektrogeräte nicht Stand-by laufen und machen das Licht aus…
- Welcher Opa, welche Oma wünscht sich nicht, dass es den Kindern, Enkeln und Urenkeln gutgeht? Welcher „alte Mensch“ will seinen Kindern finanziell zur Last fallen? Wie viele unserer Mitglieder im Seniorenverband haben eine Sterbegeldversicherung abgeschlossen, damit sie im Todesfall ihre Familie nicht belasten.
- Solange der öffentliche Nahverkehr so ist, wie er derzeit ist, solange Bus und Bahn unpünktlich sind, verspätet oder gar nicht fahren, solange es an den Stadträndern zu wenig P&R-Parkplätze gibt… so lange sind wir Seniorinnen und Senioren – vor allem bei eingeschränkter Bewegungsfähigkeit und abnehmender Kraft – auf ein Auto angewiesen, mit dem wir entweder selber zum Arzt oder zum Einkaufen fahren können oder von Fahrtüchtigen gefahren werden können.
Ein Beispiel aus Mössingen: Auf der Strecke Stuttgart – Tübingen sind vom 1.1.2019 bis 15.12.2019 insgesamt 1 933 Züge ausgefallen. Im Durchschnitt also rund 5 pro Tag. Auf der einbahnigen Strecke zwischen Tübingen und Mössingen sind es zusätzlich weitere unzählige, auch wegen einer langen Brückenbauarbeit. Verlässliche Terminplanung und –wahrnehmung sind für die Mössinger Bürger mit dem öffentlichen Verkehr nicht machbar.
Seniorentreff: Welches Fazit ziehen Sie daraus?
Waldemar Futter:
Es ist einfacher, die Unvernunft der Alten zu beklagen, als gute Kommunalpolitik zu machen und eine gute öffentliche Daseinsvorsorge zu gewährleisten.
Es ist einfacher, am Personal für den öffentlichen Dienst zu sparen, als gutes und qualifiziertes Personal dafür zu gewinnen, damit die anstehenden Aufgaben im öffentlichen Dienst gut und schnell erledigt werden können.
Es ist einfacher, eine ganze Gruppe von Menschen zu diskriminieren, als den alten Menschen mit ihren (großen) Verdiensten und (wenigen) Fehlern, die verdiente Ehre zu erweisen, ihre Lebensleistung zu schätzen und angemessen zu honorieren.
Das ist nicht in Ordnung. Das ist nicht anständig. Das muss sich wieder ändern. Dafür setzen wir uns ein.
Seniorentreff: Wir danken Ihnen, Herr Futter, für das Interview.
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(1) Anmerkung: Die genauen Abstimmungsdaten aus Tübingen nach Alter:
Soll die Mühlstraße für PKW für einen Radweg gesperrt werden? Die Verwaltung hat vier Altersgruppen gebildet:
Alter | In jedem Fall | Eher ja | Eher nein | Auf keinen Fall |
16 - 50 | 36,2 % | 16,5 % | 9,3 % | 38,1 % |
51 -60 | 34,6 % | 11,7 % | 7,8 % | 45,9 % |
61 -75 | 28,7 % | 10,4 % | 8,8 % | 52,1 % |
76 und älter | 18,4 % | 6,8 % | 6,7 % | 68,1 % |
Zur Diskussion im Forum zu diesem Thema
Kommentare (3)
Boris Palmer hat ja noch mehr altersfeindliche Sprüche drauf. Zu den Maßnahmen der Regierung bezüglich Covid-19 sagt er:
"Wir retten Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären."
Ich vermute, er baut jetzt die Pflegeheime in Tübingen um und macht daraus Produktionsstätten für Soylent Grün.
Link zu den tagesaktuellen Covid-19 Zahlen.
Karl
@karl
die Äusserung von Palmer ist doch durchaus nachvollziehbar. Jede Klinik prüft, ob bei 80-Jährigen ein bestimmter Eingriff, eine Behandlung sinnvoll, hilfreich oder notwendig ist, schon vor Corona und auch in Zukunft.
Wer älter ist, konnte diese übliche Vorgangsweise auch schon oft beobachten, beim Aneyrisma oder dem Kniegelenk einer übergewichigen alten Dame.
Dabei geht es darum, ob Krankenhäuser noch Mittel der Kassen zur Verfügung haben, wenn ja - wird eingegriffen.
Krankenkassen arbeiten mit dem Kostenfaktor, Palmer mit der Logik.
Aina
Die gesamten Lokaltitäten dort kenne ich natürlich nicht.
Was sag(t)en denn die 'hinter der Brücke' angesiedelten Einzelhandelsgeschäfte?
Falls es dort welche gibt.
Auch an die muss der GemeindeRat ja vorranging denken.