Zum ersten Mal in Polen


Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, konnte es an einem Morgen im August endlich losgehen. Wir stiegen am Ostbahnhof in den Zug, der uns nach Szczecin (Stettin) brachte. Dort mussten wir umsteigen und unsere Fahrt mit der polnischen Staatsbahn bis Kotschalin, wie meine Schwägerin es aussprach, fortsetzen.
Zwar durften wir zu dieser Zeit visafrei nach Polen reisen, aber dennoch dauerte die Grenzkontrolle eine gefühlte Ewigkeit und so kamen wir sehr spät in Stettin an. Nachdem wir ausgestiegen waren, fragte ich einen polnischen Eisenbahner in Ermangelung eines größeren polnischen Wortschatzes einfach nur: „Kotschalin?“ Der Schaffner sah mich verständnislos an. Zum Glück erinnerte ich mich an den Zielbahnhof des Zuges und fragte nach „Gdańsk“. Der Gesichtsausdruck des Eisenbahners hellte sich auf und er antwortete: „Peron pierwszy!“. Ich verstand wegen jahrelangen Russischunterrichts, dass er Bahnsteig 1 meinte und sagte „dziękuję“, weil ich das polnische Wort für „danke“ vorsorglich gelernt hatte. Dann setzten wir uns schnell in Bewegung, um den Zug noch zu erreichen.
Wir gingen eine eiserne Treppe herunter und gelangten so auf einen sehr schmalen Bahnsteig. Der Zug stand da, aber weit und breit war kein anderer Fahrgast zu sehen und auch Bahnpersonal fehlte vollständig. Es gelang mir eine Wagentür zu öffnen, die sich in ziemlich großer Höhe genau zwischen zwei der vielen auf dem Bahnsteig befindlichen Blumenkübel befand. Ich fragte mich, wie es dem Lokführer gelang, den Zug immer so anzuhalten, dass alle Türen der Wagen zugänglich blieben. Das war schon Präzisionsarbeit. Zum Glück halfen uns freundliche polnische Fahrgäste im Inneren des Zuges beim Einsteigen, denn während wir unser Gepäck und unser Kind in den Waggon hievten, fuhr der Zug schon an. Wir wunderten uns, dass wir keinerlei Abfahrtsignale gesehen oder gehört hatten. Es gab ja auch gar kein Bahnpersonal auf diesem Bahnsteig, was wir für sehr leichtsinnig hielten.
Als wir dann endlich glücklich an Bord waren und aus den Fenstern auf der anderen Seite schauten, bemerkten wir, dass wir auf der falschen Seite eingestiegen waren. Wir waren in der Eile auf einem schmalen Hilfsbahnsteig gelandet. Einerseits durchfuhr uns ein riesiger Schreck, aber andererseits war es uns wahrscheinlich nur auf diese Weise möglich gewesen, den Zug noch zu erreichen. Dass kein Pole sich aufgeregt hatte, weil wir etwas falsch gemacht hatten, machte uns dieses Volk sofort sympathisch.

Aus dem Buch "Reisehusten" von Wilfried Hildebrandt


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