Zelturlaub im Berliner Umland
Meine Frau konnte sich wohl nicht vorstellen, dass das Angebot im Ort so schlecht war, wie ich es ihr beschrieb. Sie wollte sich persönlich davon überzeugen. Also fuhr sie los, während ich mit den Kindern am Zelt blieb.
Als sie nach zwei Stunden immer noch nicht zurück war, machte ich mir doch langsam Sorgen, nahm den großen Sohn an die Hand und den kleinen auf die Schulter, um ihr entgegenzugehen. Zum Glück mussten wir nicht allzu weit laufen, da sahen wir sie. Sie befand sich in einer ziemlich prekären Situation. Ihr rechtes Hosenbein war in die Fahrradkette geraten und somit fixiert. Zwischen Vorderrad und Gabel waren mehrere Kartoffeln aus dem Netz eingeklemmt. Da das Fahrrad sich somit weder vorwärts noch rückwärts bewegen ließ, war sie quasi stehend k.o. Ich weiß nicht, wie lange sie schon so gestanden hatte, aber lange hätte sie es nicht mehr ausgehalten, dann wäre sie wahrscheinlich umgekippt. Warum sie mich nicht mit dem Handy angerufen hat? He, wir schrieben das Jahr 1974, da waren Handys noch nicht erfunden!
Mit vereinten Kräften zogen wir die Kartoffeln aus dem Vorderrad, wobei einige von ihnen nur noch in Form von Scheiben zur Verfügung standen. Dann gelang es uns, das Hosenbein aus der Kette zu bekommen. In der damals so beliebten Schlaghose blieben allerdings mehrere kleine Löcher zurück.
So vergingen drei Wochen Zelturlaub zwischen Hoffen und Bangen, dass das Wetter wieder besser werde. Es wurde nicht! Es gab nichts mehr im Zelt, das nicht klamm war, außer den neu gekauften Streichhölzern. Die schützten wir, indem wir sie in einer leeren Margarinedose aufbewahrten, welche wir sicherheitshalber noch mit einem Plastbeutel (ja, so sagte man damals) umhüllten.
Zu allem Überfluss war in dieser Zeit Fußball-WM. Wir hatten ein winziges Transistorradio namens Mikki bei uns. Nachdem ich mehrere Spiele der deutschen Mannschaft verfolgt hatte, waren die Batterien leer und mangels Elektroanschluss konnte ich sie auch nicht nachladen. Dass Deutschland Weltmeister geworden war, erfuhr ich von Zeltnachbarn.
So sehr wir auch hofften, unser Urlaub war durch und durch verregnet und kalt. Als er nach drei Wochen endete, war unser Zelt klitschnass, aber - Ironie des Schicksals - jetzt herrschte strahlender Sonnenschein. Wir bekamen die Erlaubnis, das Zelt noch eine Woche länger stehenzulassen. Erstens konnte es trocknen und zweitens hätten wir gar nicht alles auf einmal abtransportieren können.
Ein freundlicher Zeltnachbar brachte uns mit seinem Trabant zum Bahnhof, sodass wir nicht mit Kind und Kegel den weiten Weg zu Fuß machen mussten. Das Fahrrad ließen wir im Zelt zurück.
Am Tag unserer Abreise begann der uneingeschränkte Sommer in Berlin und Umgebung. Unser trockenes Zelt konnten wir eine Woche später abbauen und einpacken.
Im Juli und August 1974 quälten wir uns mit ungewöhnlich hohen Temperaturen herum und beschlossen, künftig nur noch im Hochsommer zu verreisen.
Aus dem Buch "Reisehusten" von Wilfried Hildebrandt.
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