Weil der Mensch nicht fertig ist...

Autor: ehemaliges Mitglied

 
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Die Reise des Schamanen.

Es lebte einst, oder noch immer, im dampfend heißen Regenwald ein kleines Regenwaldvolk am großen Strom Amazonas, oder an einem seiner vielen Nebenflüsse. Ich weiß es nicht mehr wo genau, und auch der Name des kleinen Volkes ist mir entfallen. Es ist die Geschichte eines Jesuitenpaters, der lange mit diesem Volk gelebt hat um es zu erforschen, seine Kultur zu studieren, und um es, so gut es ging, auf den unausweichlichen Augenblick des Aufeinanderprallens mit den "weißen Herren" ihres Waldes vorzubereiten. Missioniert in Glaubensdingen hat er nicht.

Eine Dokumentation.
Der Pater hat seinen Aufenthalt, seine Arbeit in einer  ausführlichen Video-Dokumentation aufgezeichnet,  sie war schon vor einiger Zeit im TV zu sehen. Es ist ein sehr interessanter Film über den Alltag dieser Waldleute, über ihre Sitten und Gebräuche. Er hat ihre Sprache gelernt, jedenfalls wohl soweit, das eine gegenseitige Verständigung möglich war. Er ging mit ihnen auf die Jagd und lernte Blasrohr und Bogen näher kennen. Es gelang ihm auch, das Vertrauen des Medizinmannes zu finden und sprach mit diesem über ihre Ängste vor den Dämonen des Waldes und wie sie zu besänftigen waren.

Lauter schöne, junge Menschen.
Während ich fasziniert dem Film folgte, fiel mir so allmählich etwas auf - überall kräftige junge, bis mittelalte Leute und Kinder. Alle machten einen entspannten Eindruck, sie schienen mit allem bestens einverstanden.

Es waren keine alten Leute zu sehen.
Nur der Medizinmann war nicht mehr so ganz jung. Und auch der Padre, der neugierige Weiße.
Was machten die hier mit den Alten. Ich dachte an die Eskimos, oder Inuit, (beide Namen sind korrekt), die ihre Alten auf's Eis geschickt haben sollen, wenn sie zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Ob es wahr ist -  wer hat's gesehen!
Nachdem ich diese Entdeckung gemacht hatte, wurde ich unruhig und begann mich über den Padre zu ärgern. Wie konnte er diese offensichtliche Tatsache übergehen. Wollte er etwas vertuschen? Während er so vor sich hin referierte, war ich nahe dran abzuschalten. Aber ich war einfach zu neugierig und schaltete nicht aus.
Und da -  als wüsste er es, sprach er das Thema Alter bei diesem Stamm an. Was ich zu hören bekam, haute mich um, alles habe ich erwartet, nur das nicht...
"Ich kann mir vorstellen, das sie sich wundern, darüber, dass hier keine alten Leute zu sehen sind" sagte der Padre. "Nun", der Padre sah unverwandt in die Kamera, "die alten Leute verlassen das Dorf. Sobald ihr Leben beschwerlich wird, durch Krankheit oder was auch immer, gehen sie".
"Wohin gehen sie"? Ich sage es laut, als stünde ich neben ihm.
"Nicht sehr weit von hier steht ein großes, offenes Rundhaus", der Padre zeigt zum Rand des Regenwaldes. "Dorthin gehen sie und nehmen ein Planzenextrakt zu sich, woran sie schnell und schmerzfrei sterben". Der Padre sieht kurz in die Richtung in die er gerade gezeigt hat. "Manche tun das nicht gleich, sondern warten eine Weile, bevor sie das Gift nehmen. Sie gehen freiwillig dorthin, niemand zwingt sie",

"Weil die Menschen noch nicht fertig ist".
Der Padre streicht sich wie verlegen über den Bart. "Ich habe mit dem Medizinmann darüber gesprochen".
Im Hintergrund sieht man kleine Kinder mit Äffchen spielen. Die Äffchen sind mit einem dünnen Seil an einem Pflock angebunden. Es ist laut, alle schreien, quietschen und schneiden Grimassen. Allen scheint es Spass zu machen, auch den Äffchen.
Die Kamera macht einen Schwenk über das Dorf - überall geschäftiges Treiben. Junge Frauen stampfen Maniok und sind an grossen Töpfen zu Gange, oder liegen mit Babys in ihren Hängematten.  Männer reparieren ihre Jagdwaffen, oder stellen neue her. Manche bemalen ihr Gesicht.
Der Padre fährt fort: "Was der Medizinmann auf meine Frage geantwortet hat ist folgendes":
"Wir glauben, das die Menschen noch nicht fertig sind". Der Padre deutet auf sich und macht eine Geste über das Dorf.

"Sind wir alt, und es wird schwer zu leben, warten wir nicht auf den Tod, bis es ihm gefällt zu uns zu kommen. Wir rufen ihm zu, Tod, wir kommen zu dir, bevor du uns vergisst".

Der Padre schweigt und schaut zu Boden. "Und wir kommen wieder, sobald die Menschen besser geworden sind, und leben unser Leben weiter". Jetzt lächelt der Padre.

Ich schaue den Film fertig und bin etwas angegriffen von dem was ich gesehen habe. So arg weit ist es auch für mich nicht mehr bis zum "Rundhaus". Es fallen mir die vereinsamten Alten ein, die in unseren meist reichen Städten lange tot in ihren Wohnungen liegen. An die Zustände in manchen Pflegeheimen, an die vielen im hohen Alter, die an einer Demenz, oder an langem, schmerzhaften Siechtum leiden müssen, bis sie endlich sterben dürfen. An die quälende Armut und Einsamkeit vieler Alten.

Ein kleines Regenwaldvolk am großen Strom ist der Meinung, der Mensch ist noch nicht "fertig". Bin ich ehrlich zu mir selber, so muß ich ihnen Recht geben. Fertig ist der Mensch nicht. Das ist nicht neu, und behauptet hat es eigentlich auch noch niemand. Ja und wir, die zivilisierten müssen auf den Tod warten, bis es ihm einfällt, zu uns zu kommen.

Zu guter Letzt, dieser Spruch würde uns auch niemals einfallen:

"wir kommen wieder, sobald die Menschen besser geworden sind, und leben unser Leben weiter.
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Da kann man natürlich sagen: Aha, wiederkommen wenn alles gerichtet ist. Wenn's so einfach wär.
Aber es sind eben Naturmenschen die etwas über sich wähnen, machtvoll, entweder böse und schädlich, oder gut und hilfreich.
Wir sind nicht besser oder weiter - wir glauben an den Fortschritt und das Wachstum. Wohin das führt, sehen wir gerade. Der Glauben an Gott ist vielen von uns abhanden gekommen. Das erleben von Spiritualität und Metaphysis haben Kirche und Aufklärung ausgemerzt. Aber das ist eine andere Geschichte...

LG Arni
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Eine Geschichte aus meinem Block "Querwege".

Die TV-Sendung ist lange her. Es kann also sein das ich nicht ganz richtig liege im Detail. Etwas dazu gedichtet habe, oder etwas weggelassen habe.  Aber im Kern stimmt sie und darum geht es!
 


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Kommentare (12)

Syrdal

An dieser Geschichte kann man ermessen, was uns bei aller Anerkennung des auch Guten der sogenannten Zivilisation an grundehrlicher Naturverbundenheit verloren gegangen ist. Dieser „Gang in das Rundhaus“ hat nichts, aber auch gar nichts mit Suizid zu tun, es ist lediglich tradierte Form eines würdigen Voranschreitens in einen anderen Daseinszustand, um in diesem das einstige Wiederkommen vorzubereiten. Welche Weisheit, welche Größe ist darin zu finden, während die „zivilisierte“ Welt das Alter heute als nichtsnutze Belastung der Jüngeren ent-wertet. Vor zwei Generationen – noch bei meinen Großeltern – war das noch anders, ganz anders! Damals kümmerte sich die ganze Familie um die Alten... bis zum lezten Tag! Aber heute...?  Auch das ist in der reichen Leistungsgesellschaft dem rundum feststellbaren ideellen Werteverfall längst zum Opfer gefallen. Sollen doch die Alten sehen, wie sie klar kommen... Nur ein "Rundhaus" gibt es nicht.
 
Syrdal

ehemaliges Mitglied

@Syrdal

Auch der Padre hat diesen Akt des Rückzuges aus dem Leben, den diese Menschen vollzogen haben, nicht als Suizid bewertet. Ein großer Fortschritt der Mission die heute ohne Missionierung auskommt. 

LG.
Arni

Anabell23

Diese unglaubliche Geschichte hast Du hoch interessant
geschildert lieber Arni. Sie hat mich sehr berührt und mitge-
nommen.
Ja, so sind Menschen, egal ob es sich um Gebildete oder um
ein Naturvolk handelt. Es gibt überall diese zwei Sorten, Gute
und Böse.
Aber wenn das aus dem Leben scheiden, wirklich so freiwillig
ist, kann man dann den jungen Menschen überhaupt einen
Vorwurf machen?
Kümmern sie sich nicht um ihre Alten, so daß die gezwungen
sind, diesen Schritt zu tun? Oder wollen die Alten den Jungen
einfach nicht zur Last fallen?
Man muß sich fragen, ist bzw. wird der Mensch in dieser Hinsicht
jemals fertig sein.

Vielen Menschen fehlt es an Feingefühl, Mitleid mit anderen.
Mitgefühl und Verständnis sich um Kranke und Hilflose zu
kümmern. Man schaut viel lieber weg, läuft davon. Das ist
einfacher.
Und natürlich, es fehlt der Glaube, der Glaube an Gott, an
einen liebenden, verzeihenden und gütigen Gott.
Warum läßt Gott das ganze Elend und Leid, den Schmerz und
Kummer zu, fragen Menschen.
Er könnte doch helfen, er der Allmächtige, sollte es ihn geben!
Fragen über Fragen; aber es gibt keine Antwort darauf.
Von Seiten vieler Menschen gibt es nur Ausreden um nicht helfen
zu müssen.
Zum Glück trifft das nicht auf alle Menschen zu. Es gibt auch
solche in Engelsgestalt, die Guten und Gütigen.
Eigentlich kann man nur hoffen und beten, daß einem der Gang ins
Rundhaus bzw. Pflegeheim, erspart bleibt und man stattdessen
einmal rasch abberufen wird, in eine bessere Welt.


Liebe Grüße
Uscha

ehemaliges Mitglied

Liebe @Anabell23

niemand dort hatt den jungen Leuten einen Vorwurf gemacht. Sie haben die Alten nicht verdrängt aus Angst etwas weggenommen zu bekommen.
Es war wohl eher ein Konsenz zwischen jung und alt, diesen Weg zu gehen.
Und es kam mir so vor als wüssten alle sehr genau, das es ein "fertig" nicht geben kann. Es aber sehr wohl ein Ziel geben muß ohne das es sich wirklich nicht lohnt "wiederzukommen".
Und noch etwas - Ein Gott den wir akzeptieren und für allmächtig halten,
können wir nicht für das Leid der Welt verantwortlich machen. Es ist unsere Welt. Was sollte er/sie/das denn tun? Immer mit Blitz und Donner dazwischenfahren?  Das wäre doch lächerlich. Es muß geglaubt werden, ohne wenn und aber, und das geht auch ohne Amtskirche.

Liebe Grüße
Arni

ehemaliges Mitglied

Sehr interessant zu lesen. Mir gefällt diese Idee mit den Alten.Gern hätte ich auch so einen Trunk, damit ich selbstbestimmt gehen kann.
Die Sache mit der Eisscholle fand ich schon immr grausam.

Danke
LG Elbstromerin

ehemaliges Mitglied

Im Gegensatz zu den Amazoniern wo es diese "Fahrkarte" gratis und ohne
peinliche Befragung gibt, erhalten auch wir ein Ticket in die Ewigkeit für ein angemessenes Entgeld, verbunden mit einem gewissen Aufwand bürokratischer Art, durch eine Reise in die Schweiz.
Mittellose dürfen sich auch gerne bei der Eisenbahn, hohen Brücken,
starken Ästen oder unsicheren Dinkturen bedienen.
Hierbei könnte die Qual durchaus unangenehmer ausfallen, als auf einer Scholle bei -50Grad zu erfrieren.
Grausamkeit ist kein Privileg der Naturvölker 

Gern geschehen und
herzlichen Gruß
Arni

Willy

Eine wunderbare (und wunderbar erzählte ) Geschichte. Ich lese, aber große Nachdenklichkeiten lasse ich aus, jeder sollte aber die Möglichkeit haben, ohne körperlichen Schmerz gehen zu können so er das mag.
In dieser Hinsicht sind uns diese Indios voraus, aber ich bin mir sicher, in nicht allzulager Zeit gibt es auch für uns so eine Art Rundhäuser.
Allerdings ist die Gefahr,dass dann lüsterne Erben  ihre Alten mehr oder weniger zwingen, diesen Weg zu gehen.
(Meister Chibaba sagt; "Sobald der Mensch persönlichen Besitz anhäuft (anhäufen will), wird er zur bösartigen Kreatur.")
Gruß
W.

ehemaliges Mitglied

Recht hast Du, lieber Willy. Aber das mit der Erbschleicherei wird auf Dauer kein Hindernis sein. Und die "Rundhäuser wird's geben.
Und Meister Yoda sagt: "Das mit Meister Chibaba du mir erklären mußt"

Gruße
Arni

lillii

diese Menschen hatten das, was den meisten von uns heute fehlt:
einen sehr starken Glauben.
Der ist abhanden gekommen bei all dem, was heute geboten wird.
Geht in unsrer Zeit einer freiwillig?
Nur, wenn er verzweifelt ist und keinen Ausweg weiß.

Danke für den nachdenklich machenden Thread.

Gruß Luzie - lillii
 

ehemaliges Mitglied

@lillii

Ich glaube, das eine nur dem materiellen verpflichtete Menschheit, weder dem Schutz der Erde, noch gar der eigenen Entwicklung  in eine bessere 
Einsicht dienen kann. 
Lernen könnte man viel von den Waldleuten, aber niemand hört sie.

Sie werden verschwinden wie die Schmetterlinge.

vielen Dank für Deinen Besuch
Arni

 

ehemaliges Mitglied

der Trugschluss ist nur,
dass die Menscheit nicht besser wird. 
Leider!

Lieben Gruss in den Sonntagabend
Agathe 

 

ehemaliges Mitglied

@APet

Wahrscheinlich hast Du Recht, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Herzlichen Gruß
Arni


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