Schöne Bescherung !
Dezember 1977 - Nikolausabend.
Herr Heinrich Seidel sitzt mit seiner Frau Erika vor dem Fernseher und brütet schwere Gedanken.
Die beiden Töchter, Beate und Sigrid, - zwölf und acht Jahre jung, sind bereits zu Bett gebracht.
Der Nikolaus wird in diesem Jahr nur kleine Geschenke in die Strümpfe der beiden Mädchen geben können. – Herr Seidel, sechsunddreißig Jahre alt, ist seit zwei Jahren arbeitslos – und es mangelt an Geld.
Ein Augenleiden – hervorgerufen durch einen eigentlich mittelschweren Unfall – beendete sein Berufsleben als Kraftfahrer. Nun macht er sich Sorgen wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes. Was kann er seiner Familie schenken ?
Die vierunddreißigjährige Erika ist Hausfrau und hat niemals einen Beruf erlernt; so wie auch Heinrich außer dem Fahren niemals einer anderen Beschäftigung nachging. Seit über vierzehn Jahren verheiratet, konnten sie bisher von seinem Lohn nicht nur gut leben, sondern auch noch etwas auf die Hohe Kante legen - doch nun ist auch das Ersparte aufgebraucht und eine Anstellung Heinrichs immer noch nicht, trotz aller Bemühungen, in Sicht.
Im Fernseher beginnt ein Krimi, doch Heinrich ist nur halb bei der Sache - ihn plagen die Sorgen. - Erika stellt ihm eine frische Flasche Bier auf den Tisch und geht wortlos zu ihrem Platz auf dem Sofa zurück.- Sie ahnt, welche Gedanken ihn quälen. Des Öfteren schon hat sie sich erboten, eine Stelle als Putzfrau suchen zu wollen; doch Heinrich ist dagegen. Die Mutter seiner Kinder soll
nicht für fremde Leute arbeiten, sondern zu Hause für ihre Familie da sein. – Man würde schon über die Runden kommen, bis eine neue Anstellung gefunden sei.
Das Augenleiden habe sich ja schon deutlich abgeschwächt; nur grellem Licht dürfe er die Augen immer noch nicht aussetzen. Es würde schon werden: früher oder später....
Die Bezüge des Arbeitsamtes genügten für eine einfache Haushaltsführung, doch für Extras, wie jetzt der Fall, blieb einfach nichts übrig. Erika seufzt. – Auch nach vierzehn Jahren ist Heinrich ihr ein guter Ehemann und für sie Alle ein guter Familienvater. Selbst das Rauchen hat er aufgegeben, so schwer es ihm auch gefallen ist. Ein Trinker war er ohnehin nie; an Festtagen oder zu besonderen Anlässen trinkt er zwei, drei Bier und schränkt sich auch ansonsten ein, wo er nur kann.
`Er wird schon wieder eine Beschäftigung finden, ́ denkt sie, - `es muss ja nicht unbedingt als Fahrer sein. ́ - Liebevoll blickt sie ihn an – und verfolgt dann wieder das Geschehen im Fernseher.
Heinrich hat den Blick bemerkt – und das verunsichert ihn noch mehr.
`Wo findet man wohl noch so eine Frau - sie bringt mir unaufgefordert noch ein zweites Bier, weil sie weiß, dass ich mir selbst kein weiteres mehr gegönnt hätte. – Ich muss Etwas unternehmen.... Das bin ich ihr und den Kindern schuldig. – Aber was ? ́
Er versucht, sich auf den Krimi zu konzentrieren. – Es ist das Übliche. – Raubüberfall; die Täter flüchten; man hat ihre Fahrzeugnummer notiert und am Ende werden die Täter gefasst.
`Warum eigentlich, ́ schießt es Heinrich jäh durch den Kopf, `warum werden Täter eigentlich gefasst. ? ́
Der Gedanke lässt ihn nicht mehr los und er schaut sich den Krimi nun konzentriert bis zum Ende an....
Seine Frau erhebt sich, räumt den Wohnzimmertisch ab und sieht ihn fragend an. „Kommst du, oder bleibst du noch etwas auf ?“
Er will noch etwas nachdenken und verspricht, bald nachzukommen. Erika gibt ihm einen Gutenachtkuß und flüstert: „Grüble nicht soviel. – Wir schaffen es schon.“
Damit verlässt sie ihn, um ins Badezimmer – und danach in ihr Bett zu gehen. Schließlich muss sie früh aufstehen, um Frühstück für die Kinder zu bereiten. Ein dankbarer Blick folgt ihr.
Heinrich Seidel greift in das Bücherregal und entnimmt diesem gleich mehrere Kriminalromane.
Er blättert, - überfliegt, - greift zum nächsten Buch, um wiederum darin zu blättern. – Am Ende zieht er das Fazit: Alle haben sie einen Fehler gemacht; nur darum wurden sie letztendlich gefasst.!
„Man müsste....,“ beginnt er; dann erschrickt er über seine eigenen Gedanken. Schnell stellt er die Bücher ins Regal zurück, als hätte er sich an ihnen verbrannt. – Er sucht das Badezimmer auf, um danach endlich ins Bett zu gehen. - Lange noch liegt er wach und denkt über eine Möglichkeit nach, noch vor dem Fest zu einer Summe Geldes zu kommen.
Wie es oftmals so ist im Leben - man schläft mit einem bestimmten Gedanken ein und wacht mit demselben wieder auf - und hat sich dieser Gedanke erst einmal festgesetzt, so wird man ihn so schnell nicht wieder los.
So auch bei Herrn Seidel. Er mochte noch so sehr versuchen, nicht mehr an diesen unsägliche und wahnwitzige Idee zu denken - vergebens! Der Gedanke spukte in seinem Kopf - verfolgte ihn gar des Nachts in seinen Träumen und wollte ihn partout nicht mehr loslassen.
- Ein Überfall ! Ein Überfall auf ein Geldinstitut; eine Tankstelle oder eine ähnliche Örtlichkeit würde seine Probleme lösen; vorausgesetzt, dass er sich nicht erwischen ließ.
Wieder der Griff zum Bücherregal. – Blättern, nachlesen, Fehler suchen und diese bewerten.
Gezielt suchte er sich jetzt aus der Programmzeitschrift Kriminalfilme aus und sah sie sich an.
Was braucht man, um einen erfolgreichen Überfall auszuführen ? – Er macht Notizen, schreibt Listen, die abzuhaken sind und später sorgfältig vernichtet werden.....
Maske, Waffe, eine geeignete Örtlichkeit, einen geeigneten Fluchtweg, ein geeignetes Fluchtfahrzeug. – Ein Fluchtfahrzeug.... Der springende Punkt! Das Fluchtfahrzeug und in seinem speziellen Falle – die geeignete Tageszeit....
Ob seiner empfindlichen Augen sind die Abende ungeeignet für sein Vorhaben. Jeder Autoscheinwerfer würde ihn hilflos machen. Also steht bereits fest, dass der Überfall am Tage stattfinden muss. Die Maskierung ist kein Problem und wird abgehakt. Jede Pudelmütze – mit Augenschlitzen versehen - ist geeignet für diesen Zweck.
Die Waffe ! Dieses Instrument wird für ihn zum Problem; um nichts in der Welt ist er gewillt, auf einen Menschen zu schießen, oder ihn zu verletzen – und sei es auch nur aus Versehen oder Nervosität. – Doch ist eine Waffe zur Einschüchterung eine absolute Notwendigkeit; also muss er sich Gedanken machen, welcher Art diese denn sein solle.
Er wird in die Kaufhäuser gehen, um die Spielzeugabteilungen zu durchforsten und dort etwas Geeignetes zu finden. Die Örtlichkeit. – Heinrich unternimmt ausgedehnte Spaziergänge; fährt mit dem Fahrrad in entfernte Bezirke und klappert mit Bussen und Zügen Ortschaften ab, bis er glaubt, das Geeignete gefunden zu haben:
Eine kleine Poststelle mit lediglich drei Angestellten in einem etwas entfernten Stadtbezirk.
Er besorgt eine Spielzeugpistole, die ihm von der Verarbeitung ihres Äußeren geeignet erscheint. Dann radelt er immer wieder, trotz der winterlichen Temperaturen, verschiedene Routen ab, um den ansprechendsten Fluchtweg von jener Post zu seinem Heim zu finden.
Auf dem Dachboden seines kleinen Häuschens sucht er nach alter, abgelegter passender Kleidung und stolpert dabei über ein Utensil, welches ihn auf einen neuen, aufregenden Gedanken bringt: Des längst verstorbenen Großvaters Rollstuhl!
Ein Rollstuhl als Fluchtfahrzeug ...! Welch ein Gedanke !
Aufgeregt zerrt er das verstaubte Gefährt ins Licht der Dachbodenbeleuchtung, um es genauer zu begutachten. Es erscheint im Großen und Ganzen heil und funktionstüchtig; selbstverständlich muss es gereinigt und geölt werden, damit es seinen ihm zugedachten Zweck erfüllen kann.
Dies muss freilich in allergrößter Heimlichkeit vonstatten gehen, da er Erika oder den Kindern keine unbequemen Fragen beantworten möchte – und schon gar nicht gewillt ist, seine Lieben belügen zu müssen.- Außerdem muss er einen Weg finden, um den Rollstuhl nicht allzu weit, aber dennoch in genügender Entfernung, von der von ihm ausgewählten Poststelle unauffällig zu platzieren. – Ebenso unauffällig muss dies Gerät später wieder von dort verschwinden.
Erneut geht Herr Seidel auf Tour, um einen geeigneten Abstellplatz für den Rollstuhl zu finden.
Schwierig; äußerst schwierig. Wo kann man einen herrenlosen Rollstuhl – ohne Misstrauen zu erregen – wohl platzieren. ?
Dreieinhalb bis vier Kilometer beträgt die Entfernung von Heinrichs Heim bis zu der ausgewählten Post. Auf diesem Wege muss er einen Platz ausfindig machen; sonst scheitert sein ganzer schöner Plan.
Er wird fündig ! Was gibt es schon Geeigneteres für einen leeren Rollstuhl, als vor einer Arztpraxis zu stehen und auf seinen Besitzer zu warten...?
Heinrich Seidel ist stolz auf sich selbst und diese grandiose Idee. Beinahe fühlt er sich schon als professionellen Gangster; doch schnell schiebt er diesen Gedanken wieder beiseite. – Es wird bei diesem einen Mal bleiben - nie wieder wird er in seinem Leben etwas Derartiges tun. Dessen ist er sich ganz gewiss !
Etwa fünfhundert Meter vom späteren Tatort entfernt findet sich das Gewünschte. Heinrich muss die Fluchtroute geringfügig ändern, doch werden sich dadurch, soweit er es selbst beurteilen kann, keinerlei Nachteile ergeben.
Zufrieden radelt er nach Hause und arbeitet gedanklich weiter an seinem Plan.
Seiner Frau Erika fällt in den letzten Tagen eine Veränderung im Betragen ihres Mannes auf.
Er wirkt nicht mehr so bedrückt - scheint nicht mehr so niedergeschlagen, sondern gibt sich selbstbewusster, aber auch etwas fahrig, nervös, als habe er eine Überraschung parat, von der er aber noch nichts verraten wolle. – Ob er einen Arbeitsplatz in Aussicht hat ? Ist dies die Überraschung? Sie beschließt im Stillen, so zu tun, als bemerke sie nichts, um ihm die Freude nicht zu schmälern.
Beide sitzen am Abend wieder vor dem Fernseher - und nachdem die Kinder `Gute Nacht ́ gesagt haben und in ihrem gemeinsamen Zimmer verschwunden sind, erhebt sich Heinrich aus seinem Sessel, setzt sich neben seine Frau auf die Couch und legt seinen Arm um ihre Schultern.
Zärtlich zieht er sie an sich und küsst sie auf die Wange. Erfreut erwidert Diese den Kuss und ist sich nun sicher, dass sie richtig lag mit ihrer Vermutung: -`Er hat sich wieder gefangen und bereitet eine Überraschung für uns vor. ́
Heinrich denkt: `Niemals darfst du etwas davon erfahren, mein Schatz; für euch würde ich alles tun, doch kann ich es euch niemals sagen. – Wird schon Alles gut gehen; und irgendwann später werde ich das geraubte Geld wieder zurück geben. ́
Er hat sich mit diesem Gedanken in den letzten Tagen selbst beruhigt - wenn auch nicht wirklich gerechtfertigt. Sein Plan ist fertig – und er will fest daran glauben, dass alles gut gehen wird.
Den Termin hat er auf vier oder fünf Tage vor dem Fest gelegt - endgültig entscheiden werden die äußeren Umstände.
Im Fernseher läuft eine Vorweihnachtssendung mit viel Musik – und Beide fühlen sich von der festlichen Stimmung ergriffen. An diesem Abend gehen sie gemeinsam zu Bett und schlafen eng umschlungen ein.
Am nächsten Tag – noch eine Woche bis Weihnachten - die Kinder sind unterwegs und Erika beim Einkaufen – holt Heinrich den Rollstuhl vom Dachboden und bringt ihn in die ungenutzte Garage.
Das Gerät ist nun einsatzbereit. Heinrichs Plan ist folgender: In der Nacht vor dem geplanten Überfall wird er das Gefährt zu der Arztpraxis bringen und zu Fuß zurück nach Hause gehen. Dies muss natürlich in aller Stille vor sich gehen.
Zum Überfall selbst wird er mit dem Fahrrad fahren; dieses vor einem Supermarkt anketten und den restlichen Weg zu Fuß gehen. Die mit Augenschlitzen versehene Pudelmütze wird er auf dem Kopf tragen – und die Plastikpistole in der Manteltasche. Handschuhe fallen bei winterlichen Temperaturen ohnehin nicht auf, so dass er sich darüber keinerlei Gedanken zu machen braucht.
Die Pudelmütze wird er sich beim Eintritt in das Postgebäude mit einer schnellen Bewegung über das Gesicht ziehen – er hat das vor dem Garderobenspiegel geübt – und mit der anderen Hand wird er die Spielzeugpistole ziehen. Er wird das Geld fordern und dieses in eine mitgeführte Plastiktüte packen lassen. Sodann wird er – nach erfolgter Tat – zu Fuß zur Arztpraxis flüchten, eventuell dort kurz eintreten; nach Lage der Dinge vielleicht auch sofort im Rollstuhl Platz nehmen können und in Richtung seines Heimes davon rollen.
Eine zweite Arztpraxis seines eigenen Wohnbezirks wird dann wiederum Halteplatz für seinen Rollstuhl sein und zu Fuß wird er nach Hause zurückkehren. Das Geld wird er auf dem Dachboden verstecken; die getragene Kleidung sowie die Spielzeugpistole in unterschiedlichen Abfallbehältern an Bushaltestellen entsorgen – und nach Einbruch der Dunkelheit auch den Rollstuhl wieder nach
Hause bringen. – Das Fahrrad kann bis zum nächsten Tag stehenbleiben.
Heinrich Seidel ist zufrieden mit sich und seinem Plan und felsenfest überzeugt, dass nun nichts mehr schief gehen kann, denn Fehler kann er beim besten Willen nicht erkennen. – Wer käme schon auf den Gedanken, einen Rollstuhlfahrer als Täter eines bewaffneten Raubüberfalls zu verdächtigen? – Kein Mensch ! – Er malt sich aus, wie er losziehen wird, um für Frau und Kinder Weihnachtsgeschenke zu besorgen; - er stellt sich ihre frohen und glücklichen Gesichter vor, da sie der Geschenke unter dem Weihnachtsbaum ansichtig werden – und fühlt sich fast, als hätte er das erwünschte Geld bereits in der Tasche. Ja, es wird ein schönes und frohes Fest werden - dessen ist er sich ganz gewiss !
Der Vorabend des Überfalls. Heinrich und Erika Seidel sitzen gemeinsam auf der Couch; wieder sind die Kinder bereits zu Bett. Heinrich hat etwas Besonderes vor. Zwei Flaschen schweren tunesischen Rotweins hat er besorgt; - eine davon steht bereits geöffnet auf dem Wohnzimmertisch.
Beide prosten sich zu und Erika, die nur geringe Mengen Alkohol verträgt, hält diesmal mit, um seine Freude, welche er offensichtlich an den Tag legt, zu teilen. Heinrich selbst darf nicht zu viel trinken, da er heute Nacht den Rollstuhl zur Praxis des Allgemeinmediziners bringen muss.
Er steht darum nach dem ersten Glas des Öfteren auf, um in Küche oder Bad zu gehen und die kleine Plastiktüte, welche er bei sich versteckt hält, wieder zu leeren. – Noch bevor die zweite Flasche geöffnet wird, hat Erika die notwendige Bettschwere erreicht und Heinrich begleitet sie ins Schlafzimmer. Bald darauf erhebt er sich wieder und lässt seine tief schlafende Frau zurück.
Um zwei Uhr in der Nacht macht er sich mit dem rollenden Gefährt auf den Weg und kehrt unbeobachtet wieder zurück, um sich nun endlich zur Ruhe zu begeben.
Noch vor Erika steht er am Morgen wieder auf, bereitet den Mädchen ein Frühstück und geht in Gedanken noch einmal seinen Plan durch. – Erika ist endlich erwacht und scheint bestürzt, als sie die Drei bereits in der Küche sieht.
„Mein Gott ...,“ beginnt sie, - doch Heinrich lacht nur und schickt sie ins Badezimmer. – Er wird in der Zwischenzeit den Kaffee brühen, damit sie dann gemeinsam frühstücken können.
Die Mädchen werden zur Oma geschickt; auch dies ist ein Punkt, welcher für den heutigen Tag spricht. Die Oma erwartet heute die beiden Mädchen; somit sind Diese aus dem Wege. Erika wird heute gewiss das Haus nicht verlassen. – sie ist dazu nicht in der Verfassung......
Gegen 11°° Uhr verlässt Heinrich Seidel das Haus und radelt in Richtung Supermarkt. Er wird kurz vor Schließung der Post eintreten und seinen Überfall ausführen.
....Herzklopfen; - zittrige Hände; - Schwindelgefühl, als er mit heruntergezogener Pudelmütze die Post betritt. – In seiner rechten Hand bebt die Plastikpistole; kein Wort bringt er über die Lippen, doch ist dies auch nicht notwendig. Die Angestellten sind ebenso verängstigt wie er selbst und händigen ohne Zögern und ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu machen, das ersichtlich
Gewünschte aus.
Heinrich rennt mit der gefüllten Plastiktüte aus der Post, um zwei Häuserecken - und zwingt sich dann, mit üblicher Fußgängergeschwindigkeit weiterzugehen. – Er erreicht die Arztpraxis; Niemand zu sehen, der ihn beobachten könnte - er setzt sich in den Stuhl – die Plastiktüte unter sich – und rollt los.....
- - Damit beginnt die Odyssee des Heinrich Seidel. - Noch immer springt ihm das Herz im Leibe und mit fahrigen Händen dreht er die Räder des ungewohnten Fortbewegungsmittels.
Ein hilfreicher Passant frägt ihn nach seinem Ziel – und Heinrich stammelt den Namen des erstbesten Ortsteiles, der ihm einfällt. – Der Passant schiebt den Stuhl samt Heinrich zum nicht allzu weit entfernten Bahnhof und bringt ihn zu allem Überfluss auch noch auf das richtige Abfahrtsgleis.
Herr Seidel lässt es über sich ergehen; was kann er schließlich auch dagegen tun ? Die informierte Plattformaufsicht und ein Schaffner heben den Hilflosen in einen Waggon des eingetroffenen Zuges und der Schaffner verspricht, beim Aussteigen wieder behilflich zu sein.
Heinrich schwitzt Blut und Wasser. Er befindet sich weder im Besitz einer Fahrkarte, noch eines Behindertenausweises - doch Niemand frägt ihn nach einem dieser Papiere. Am unerwünschten Ziel angekommen, lädt man ihn wieder aus und frägt, ob er weitere Hilfe benötige. Heinrich schüttelt erschrocken den Kopf. – So schnell er nur kann, rollt er aus dem Bahnhof; man hilft ihm wiederum, die Stufen zu überwinden – dann geht es weiter; erst mal nur weg – weg aus dem Trubel - in eine stille Seitenstraße.....
Er zittert vor Kälte und Angst. – Er versucht, sich zu orientieren. – Mein Gott, wie soll er in diesem verflixten Stuhl den ganzen Weg zurück schaffen? Zum Bahnhof möchte er nicht zurück. Man könnte sich an ihn erinnern und unbequeme Fragen stellen. Er fährt weiter...
Ungeschickt betätigt er die Räder - und der vermaledeite Stuhl will einmal rechts, einmal links ausbrechen. Wiederum wird man auf ihn aufmerksam - wiederum frägt man, ob er Hilfe benötige.
Heinrich schafft es nicht, sich zu artikulieren – und so wird eine zufällig vorbeifahrende Polizeistreife angehalten. – Man hält ihn offensichtlich nicht nur für körperlich, sondern auch für geistig behindert. – Er muss sich nun zusammennehmen.
Heinrich räuspert sich und versucht, den Beamten zu erklären, dass er aus Versehen in einem falschen Zug gekommen sei und nun nicht wisse, wie er zurück an seinen eigentlichen Bestimmungsort – er nennt ein Dorf außerhalb des Stadtbereiches – käme.
Die Beamten öffnen die seitliche Tür ihres Polizeibusses und heben das Gefährt mit Hilfe der Passanten in das Wageninnere. – Heinrich versucht krampfhaft, zu verhindern, dass die Plastiktüte mit dem geraubten Geld unter ihm hervor rutscht und vielleicht gar zu Boden fällt.
- Weiter geht die Reise – und glücklicherweise frägt man ihn nicht nach seinem Namen. –
Die Beamten haben anscheinend Zeit und bringen den Gebrechlichen bis zur genannten, jedoch nicht wirklich gewünschten Ortschaft. Heinrich lässt sich unweit des Bahnhofes aus dem Fahrzeug heben, bedankt sich und versichert, dass er nun alleine zurechtkäme, worauf ihm die Polizisten noch ein Frohes Fest wünschen und endlich weiterfahren, um ihren Dienst an den Bürgern weiterhin zu versehen.
Heinrich rollt sich in Richtung des kleinen Bahnhofs, überlegt es sich dann jedoch anders und wendet sich der Landstraße zu. – Er erinnert sich an den parallel zur Straße verlaufenden Rad– und Fußgängerweg und beschließt, diesen zu benutzen, um zurück zur Stadt zu kommen. – Er hat genug von der Hilfsbereitschaft seiner Mitmenschen und hofft, dass er auf diesem Wege seine Ruhe haben wird.
Es sind gut drei Kilometer bis zum Stadtrand und Heinrich nimmt an, diese Strecke in einer halben Stunde zu bewältigen.
Allmählich gewöhnt er sich an den Umgang mit dem störrischen Räderlaufwerk und kann die Gedanken schweifen lassen. - Wie wird sich seine Familie freuen, wenn sie erfährt, .... Heinrich erschrickt. – Wenn sie was erfährt ? – Alles hat er bedacht, - nur Dieses nicht. – Was kann er seinen Lieben erzählen; wie kann er an das Geld für die Geschenke gekommen sein ...? - Sie belügen ...? -
Niemals ! - Doch irgendwie muss er die Herkunft der Gaben doch wohl erklären....
Heinrich schluchzt... Er fühlt sich, als sei er eben gerade aus einem Traum erwacht. – Seine Hände greifen ins Leere – und der Stuhl bleibt stehen....
-- Was hat er sich bei all dem nur gedacht...? – Was würden seine Lieben von ihm denken ?
Vor seinem geistigen Auge erscheinen die beiden Töchter – und die ältere Beate erklärt ihrer Schwester Sigrid :
`Weißt du; - Papa ist im Gefängnis, weil er ein Krimineller geworden ist. – Erst hat er eine Post überfallen – und dann ging das immer so weiter – und er konnte gar nicht mehr damit aufhören. ́
Erika erscheint – und die Tränen strömen über ihr Gesicht:
`Heinrich, - wie konntest du uns das nur antun ? ́
Mit einem Schwung ist Herr Seidel aus dem Sitz; - die Plastiktüte fällt zu Boden – und der Rollstuhl erhält einen Tritt, so dass er rückwärts einige Meter zurücklegt, um dann in den Straßengraben zu kippen und liegen zu bleiben.
„Niemals !“
Heinrich ist außer sich.
„Niemals wird es soweit kommen ! – Ich Idiot !!“
Er hebt die Tüte auf und marschiert los. Er wird das Geld zurückbringen - noch heute; jetzt gleich; auf der Stelle !
Er marschiert den weiten Weg zurück bis zur Post – und findet an der Tür ein Schild, welches besagt, dass die Post für den heutigen Tag wegen eines Überfalls geschlossen bleibt.
- Daran hätte er denken müssen. – Langsam geht er zurück nach Hause - es ist mittlerweile spät am Nachmittag und er legt die Plastiktüte mit dem Geld in die Garage.
Verwundert blickt Erika auf seine Aufmachung - doch sie stellt keine Fragen.
Heinrich isst eine Kleinigkeit und legt sich dann im Wohnzimmer auf die Couch, wo er auch bald einschläft.
Als er erwacht, ist es bereits eine halbe Stunde vor Mitternacht, doch seine Frau ist noch nicht zu Bett gegangen. – Sie sitzt in einem Sessel und hat Mühe, die Augen offenzuhalten.
„Heinrich,“ flüstert sie, „ist alles in Ordnung mit dir ?“
Er nickt und erhebt sich von der Couch. „Komm, lass uns schlafen gehen. Morgen werde ich dir alles erzählen; - doch zuvor muss ich etwas erledigen.“
Damit geht er ins Bad – und wartet dann im Ehebett auf seine Frau.
Am nächsten Morgen macht Heinrich Seidel den schwersten ( ...oder zweitschwersten ? ) Gang seines Lebens. – Er geht ins Innere des Postgebäudes – und wieder befällt ihn leichter Schwindel.
Er wartet, bis der letzte Kunde den Schalterraum verlassen hat, - dann wendet er sich an den Beamten, welcher ihm gestern die Tüte mit dem Geld ausgehändigt hat.
„Hier,“ flüstert er erstickt, „hier möchte ich Ihnen Etwas zurückgeben, was ich mir unrechtmäßig angeeignet hatte.“
Damit legt er dem verdutzten Schalterbeamten die bewusste Plastiktasche vor die Nase.
„Bitte, rufen Sie die Polizei,“ fügt er noch hinzu – und fängt dann an, die ganze Geschichte zu erzählen. – Nach einigen Sätzen unterbricht ihn der älteste Beamte – und man führt ihn in ein Nebenzimmer, wo er sitzen und in Ruhe seine Erzählung zu Ende bringen kann.
Die drei Angestellten haben sehr rasch begriffen, dass sie es mit keinem hartgesottenen Ganoven zu tun haben – und sind sich einig, dass man diesen im Grunde ehrlichen Menschen nicht durch einen Gefängnisaufenthalt noch mehr bestrafen sollte, als er es durch seine Arbeitslosigkeit ohnehin schon ist.
Man gibt ihm ein großes, braunes Kuvert, steckt das geraubte und wieder erhaltene Geld hinein, klebt das Kuvert zu, schickt den verdutzten Heinrich in Begleitung eines der Postler auf die Straße und nötigt ihn, das Kuvert in den hauseigenen Briefkasten zu werfen. – Danach wird der Briefkasten geöffnet und das Kuvert wieder entnommen.
„So,“ sagt der Senior der Drei, „jetzt können wir der Polizei erzählen, dass der Räuber das Kuvert mit dem Geld auf diese Weise zurückgab - und wir brauchen nicht einmal zu lügen.“
Augenzwinkernd sieht er den Heinrich an.
„So; - und jetzt füllen sie dieses Formular aus, denn in zwei Wochen wird einer unserer Briefträger pensioniert – und wir brauchen einen Ersatz für ihn. – Ich bin mir sicher, dass man unter den wenigen Bewerbungen, welche wir bisher haben, gerade Ihre bevorzugen wird.“
Diesmal zwinkert er seinen Kollegen zu – und Diese zwinkern zurück.
- Heinrich kann es kaum fassen; - nicht nur straffrei wird er bleiben – er wird auch einen sicheren Arbeitsplatz erhalten.
Überschwänglich bedankt er sich bei den Postlern – und die Tränen laufen ihm über das Gesicht. – Nun kann er seiner Erika wieder unter die Augen treten, ohne sich mehr schämen zu müssen. ( ... oder vielleicht nur noch ein kleines bisschen ...? )
Zu Hause angekommen, holt er die zweite Flasche des roten Weines aus dem Schrank, zieht seine Frau auf die Couch und sagt:
„Diesmal bekommst du nur ein einziges Glas – und ich werde den ganzen Rest austrinken.“
- Dann erzählt er ihr die ganze Geschichte. – Angstvoll, - gespannt, - und zum Schluss erleichtert und erfreut, blickt ihn die Gute an und flüstert, als er geendet hat:
„Heinrich; nie wieder darfst du auf solch einen Gedanken kommen. – Was hätten wir nur ohne dich angefangen ?
- Für uns bist doch nur du das allerschönste Weihnachtsgeschenk...“
- - - Ja, ja; - auch so kann eine Bescherung sein....
(Aus: ‚Kurzgeschichten ...wie sie das Leben schreibt‘ von B. Mich. Grosch)
Nichts ist nur schwarz-weiß... Eine echt schöne Weihnachtsgeschichte.
Mit Grüßen
Christine