Mit 65 nach langen Jahren zurück in die Heimat
Nach langen Jahren in Paris, wo meine Kinder geboren und aufgewachsen sind, kam ich vor 5 Jahren zurück in die Heimat. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie stark ich doch durch das Ruhrgebiet geprägt bin und wie sehr ich es liebe.
In den vielen Jahren waren wir nur zweimal auf dem Weg zur Ostsee für einen sehr kurzen Zwischenstopp in meiner Heimatstadt gewesen, um sie den Kindern zu zeigen. Familie hatte ich schon seit meinem 18. Lebensjahr nicht mehr.
Vieles hatte sich natürlich verändert. Aber als ich über den Rathausplatz lief und die ältere Dame zu dem kleinen Mädchen sagte „Komm, tu die Oma ma ei machen.“, wusste ich, dass ich zu Hause bin.
Eine ehrenamtliche Aufgabe hatte ich schnell gefunden. Gelesen habe ich schon immer gern und irgendwann während meiner Schulzeit gewann ich einen Vorlesewettbewerb. Also wandte ich mich an die Caritas. Man schlug mir vor, in einem Altenzentrum den demenzkranken Menschen Geschichten vorzulesen. Zweimal in der Woche war ich dort und es machte so viel Freude.
Und dann kam der 21. Dezember 2018. Während der letzten Wochen hatte man immer wieder gelesen und gehört, dass an diesem Tag die letzte Zeche im Pott schließen würde. Ich saß heulend vor dem Fernseher, als man die Bilder von Prosper Haniel in Bottrop zeigte, als man unserem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier das letzte Stück Steinkohle, das man abgebaut hatte, übergab. Eine Ära ging zu Ende. Den Pott, wie ich ihn als Kind kannte, gab es nicht mehr.
In diesem Moment kam mir eine Idee. Ich wollte darüber mit den Leuten aus dem Altenzentrum reden. Die Dinge aus der Kindheit sind bei Demenz bis zum Schluss sehr präsent.
Ich würde erzählen, aber auch Fragen stellen. Mein Projekt hieß Witten, das Ruhrgebiet und der Bergbau.
Mehrmals habe ich nun schon wunderbare Nachmittage in Seniorenheimen oder Senioren-Cafés bei Kakao und Kuchen verbracht. Welche Geschäfte gab es früher in Witten und wie nannten sich die Zechen in unserer Stadt, es gab Grubenunglücke z. B. in Lengede. Wir sprachen über unsere Burgruine Hardenstein und den Zwergenkönig Goldemar, der dort gelebt haben soll. Einer der Zuhörer wusste darüber sogar mehr als ich. Zum Schluss erzählte ich von der Schließung der Zeche Prosper Haniel. Immer wieder hat man hier und da ein Tränchen gesehen, aus denen in dem Moment teilweise kleine Bäche wurden. Zum Abschluss legte ich die CD mit dem „Steigerlied“ ein, das alle kannten und liebten und es wurde ganz begeistert laut gesungen.
Diese gemeinsamen Reisen zurück in unsere Kindheit haben immer allen Zuhörern viel Spaß gemacht, viele Dinge hatte ICH vergessen, SIE haben mich wieder daran erinnert.
Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Stunden erleben durfte.
Die vielen Jahre in Frankreich und auch die französische Staatsangehörigkeit, die ich durch die Heirat mit einem Franzosen erhalten habe, haben nichts an meinen Gefühlen geändert.
Ich bin ein Kind aus dem Pott!
Kommentare (20)
@ladybird
Guten Morgen liebe Ladybird,
danke für Deine netten Zeilen. Ich freue mich, dass mein Beitrag Dir gefällt.
Und schlagartig kam mir eine Erinnerung, die mich breit schmunzeln ließ.
Nach den langen Zeit in Paris habe ich noch 6 Jahre in der Bretagne gelebt. Mein Mann brachte eine Satellitenschüssel an und endlich konnte ich nach vielen Jahren wieder deutsche Sender schauen.
Und so entdeckte ich an einem Morgen beim Bügeln Diether Krebs mit der "Currywurst". Und dieses Lied setzte sich in meinem Kopf fest. Nach dem Mittagessen fuhr ich, wie jeden Tag, mit meinem Mann in die Firma. Und singsängelte ständig vor mich hin..."Currywurst". Nach einiger Zeit hatte mein Gegenüber die Nase voll von der Wurst und "drohte mir, mich aus dem Büro zu werfen, wenn ich nicht sofort still wäre". 😃
Diether Krebs, auch ein Pottkind, den ich natürlich noch aus der wunderbaren Serie "Ein Herz und eine Seele" kannte, die auch im Pott spielte...
Viele Grüße und einen wunderschönen Tag für Dich,
Anita
Auch schon mal im Bochumer Bermuda3Eck verschollen gewesen?
Kann gar nicht passieren, denn die rettende Überlebensstation, das Kult-Bratwursthaus von Dönninghaus, steht ja direkt vor Ort!
Und genau hier gibt es die wohl berühmteste Currywurst der Welt...😊
-Wikipedia.de-
Rosi65
@Rosi65
Ach wie schön, danke liebe Rosi.
Seit Stunden sitzt der Diether mit seiner Currywurst in meinem Kopf und will nicht mehr raus. :-)
Mein Mann hat 10 Jahre in Deutschland gelebt, erst studiert, dann gearbeitet. Als wir 1972 geheiratet haben, sind wir nach Bochum-Hamme gezogen.
Der Laden Dönninghaus ist auf der Brückstraße, von dort sind es nur wenige Minuten bis zu dem Haus, in dem wir auf der Dorstener Straße vier Jahre gewohnt haben. 😃
Gehört habe ich schon öfter, dass es dort die beste Currywurst gibt, ich wusste aber nicht, wo sich der Laden befindet.
Der Imbiss ist ungefähr da, wo es zu der Zeit die Pizzeria Vesuvio gab, dort haben wir oft gegessen. Aber damals nannte es sich noch nicht Bermuda3eck.
Ich bin mal eben kurz in Gedanken in die 70er gewandert....😀
Vielen, vielen Dank.
Herzliche Grüße
Anita
Das hast Du wunderbar erzählt. Sehe mich im Spiegel.
Ja, einmal Ruhrgebiet immer wieder. Als ich zurückkehrte
suchte ich mir auch en Ehrenamt, und ich fand es im Hospiz.
Ich bin beeindruckt von Deiner Geschichte.
Glückauf Distel1fink7
@Distel1fink7
Vielen Dank für Deinen netten Kommentar.
Ja, das Ruhrgebiet bleibt immer im Herzen, egal wo auf der Welt man lebt.
Glück auf,
Anita
Liebe Anita,
als Schulmädchen habe ich damals (1963) „Das Wunder von Lengende“ direkt an unserem SW/Fernseher bangend miterlebt. Nach zehn Tagen konnten, mit Hilfe der Rettungskapsel „Dahlbuschbombe“, elf der verschütteten Bergbauarbeiter tatsächlich noch lebend gerettet werden. Ich erinnere mich sogar daran, dass Rettungskräfte ihnen sofort, zum Schutz der Augen, dunkle Sonnenbrillen aufgesetzt haben.
Diese torpedoförmige Rettungskapsel ist übrigens im Bergbaumuseum Bochum ausgestellt. Bei einem dortigen Besuch wunderte ich mich sehr, dass überhaupt ein erwachsener Mann in diese schmale Hülse gepasst hat, denn sie ist nur 38,5 cm breit.
Deine Projektidee für die Ruhrgebiets-Senioren finde ich deshalb richtig gut und interessant. Sicher hast Du damit den Leuten eine große Freude bereitet.
Wenn wir früher mit dem Auto aus dem warmen Urlaubsland heimkehrten, freuten wir uns immer sehr über den Anblick der Heimat. Sogar über den rauen Charme der Duisburger Skyline bei Sonnenuntergang. Ein faszinierender Anblick..., und endlich wieder Zuhause! Bei diesem Anblick sagte mein Mann damals etwas rührselig: "Muss endlich mal wieder Omi besuchen gehen.“😉
Viele Grüße
Rosi65
@Rosi65
Liebe Rosi,
danke für Deine lieben Worte.
Ich kenne die Geschichte über "Das Wunder von Lengede" recht gut, auch wenn wir damals noch keinen Fernseher hatten. Diese Geschichte habe ich nie vergessen, sie saß immer irgendwo im Hinterkopf.
Man hat erstmals live vom Ort des Geschehens übertragen und irgendwann kam jemand auf die Idee, das Mikrofon nach unten zu lassen...
Für mein Projekt hatte ich mir noch einige Informationen aus dem Internet geholt.
Den Film von 2003 mit Jan Josef Liefers habe ich mehrmals gesehen und immer wieder "Rotz und Wasser geheult" wie man hier im Pott sagt.
Dass diese Rettungskapsel in Bochum im Museum ist, war mir nicht bekannt. Merci für die tolle Info.
Wenn ich dann das Gespräch auf dieses Grubenunglück brachte, erinnerten sich auch tatsächlich einige der Leute daran, Menschen, bei denen die Demenz noch nicht so sehr ausgeprägt war. Oder sie meinten es zumindest...? :-)
Viele Grüße
Anita
Liebe Anita,
es freut mich sehr, dass Du hier so ausführlich aus Deinem Leben berichtest. Das hat mich sehr berührt.
Sowohl Paris als auch der Pott waren und sind Deine Heimat.
Großartig auch Deine Lesungen in Seniorenheimen. Ich kann mir die Reaktionen der Zuhörer/innen lebhaft vorstellen. Gerade die Demenzkranken haben ein unglaubliches Erinnerungsvermögen an frühe Zeiten.
Wie Du vielleicht weißt, lese auch ich hin und wieder meine Geschichten in Seniorenheimen und bin immer wieder aufs Neue von den Reaktionen überrascht. Zwar sind meine Stories recht vielfältig und nicht immer heimatbezogen, doch sie bringen nicht nur mir Freude, sondern auch dem Publikum.
So nehme ich an, dass auch Du nun nach Corona Deine Lesungen wieder aufgenommen hast, denn sie bedeuten für beide Seiten Freude und eine wahre Bereicherung.
Mit ganz herzlichem Gruß von
Andrea 💓
@Muscari
Liebe Andrea,
vielen Dank für Deine lieben Zeilen.
Ja, ich weiß, dass Du auch ehrenamtlich unterwegs bist mit Deinen Geschichten. Du weißt ja, wie sehr ich sie ebenfalls mag.
Anfangs hatte ich einige Büchlein mit kurzen, lustigen Geschichten von Jo Hanns Rösler, die immer sehr gut ankamen. Als ich dann anfing zu schreiben, habe ich es nach einiger Zeit gewagt, meine eigenen vorzulesen.
Aber noch viel mehr Spaß macht es mir, über unsere Heimat zu reden. Es berührt diese Menschen viel mehr, als eine nette, lustige Geschichte. Ich stelle Fragen, lasse sie erzählen.
Sie haben es kurz darauf vergessen, mir gibt es auch noch viele Monate später eine große Befriedigung, ich habe ihnen für einen ganz kurzen Moment Freude machen dürfen. Auch wenn hin und wieder ein Tränchen rollt...
Ganz liebe Grüße
Anita
Welch rührende Erzählung..., kann vieles nachvollziehen. Habe nie im Ausland gelebt. 50 Jahre Berlin haben mich geprägt, davon ein Großteil in Ostberlin.
Seit vielen Jahren lebe ich im schönen Land Brandenburg und habe es nie bereut. Natur, ländliches Leben und mehr Ruhe , aber nicht zu sehr ist einfach das, was ich liebe.
Heimat ist für mich vor allem dort, wo ich meine Lieben habe. Dann geht's mir gut.
Liebe Grüße
Kristine
@werderanerin
Die Amerikaner haben einen Spruch:"Heimat ist da, wo meine Freunde sind, ",
das ist ja genau das, was du schreibst, 😁
@werderanerin
Hallo Kristine,
dass Dich Berlin geprägt hat, kann ich sehr gut verstehen.
Für das Landleben kann ich mich einfach nicht begeistern, aber es ist gut, dass wir alle verschieden denken und fühlen.
Wie Du sagst: Heimat ist da, wo man zufrieden ist.
Viele Grüße
Anita
So ist es, liebe Anita....garnicht auszudenken, wenn alle dasgleiche mögen würden...😊
Die Vielfalt macht das Leben aus und das ist schön.
Liebe Grüße
Kristine
Deine Geschichte, liebe Anita hat mich berührt. Heimat ein großes Thema, es ist wichtig zu wissen woher man kommt und wo die Wurzeln sind. Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, dass es Menschen im Alter dorthin zurückzieht, wo sie aufgewachsen sind. Schön ist es, wenn man, wie Chris33 schreibt, auch noch ein "Herzland" hat.
Gerne habe ich das gelesen und grüße herzlich
Brigitte
@Roxanna
Liebe Brigitte,
danke für Deine lieben Zeilen.
Ich stimme Dir zu, es ist wichtig zu wissen woher man kommt und wo die Wurzeln sind. Darum kann ich auch sehr gut verstehen, dass sich adoptierte Kinder (oder auch Erwachsene) irgendwann auf die Suche danach begeben.
Auch Paris war eine Art Heimat für mich, aber hier sind meine Wurzeln. Und erst heute ist mir klar, dass mich "der Pott" sehr geprägt hat.
Und es ist ein gutes Gefühl zu sagen, dass man die Gegend liebt, in der man aufgewachsen ist.
Viele Grüße
Anita
Ich habe sie sorgfältig gelesen, deine Geschichte, sie gefaellt mir, liebe Indian Summer.
Da, wo der Indian Summer zu Hause ist, wo meine Kinder und Enkel wohnen, wo ich so lange gelebt und gearbeitet und wo ich meine beste Zeit verbracht habe - in Nordamerika, dort ist meine Heimat... 😁
wo ich geboren wurde, hier in Ostwestfalen Lippe, da wo ich meine Sandkastenfreundin und noch einen "alten" Freundeskreis habe, wo das Leben mich anfangs mit Hilfe meiner Familie "geformt " hat und wo ich jetzt schon wieder lange gelebt habe , ist die andere Heimat. 😀
Gemeinsame Erinnerungen verbinden. Ich moechte sie nicht missen.....
Heimatland und mein "Herzland", ich liebe sie beide und fuehle mich sehr bereichert..
Wie so oft, auch hier gibt es individuelle Vorstellungen von Heimat, denke ich mal..
Gruess mir Paris, die Stadt der Lichter und der Liebe. ❤️
und ganz liebe Grüße an Dich, liebe IndianSummer1952.
Chris33
@chris33
Hallo Chris,
danke für Deine netten Zeilen.
Wir beide haben unser Geburtsland verlassen und leben heute wieder dort.
Hier im Ruhrgebiet sind meine Wurzeln, was mir nie wirklich bewusst war in den langen Jahren. Ich hatte keine Eltern, keine Verwandten mehr, als ich ging. Und war nur zweimal für zwei Tage "kurz auf Urlaub" hier.
Heimat ist dort, wo man gerne lebt, wo man von Menschen umgeben ist, die man mag oder liebt oder wo man seine Wurzeln hat.
Witten ist meine Heimat, Paris aber war es auch. Es ist einfach ein Gefühl, das man nicht mit Worten beschreiben kann.
Viele Grüße
Anita
was für eine schönen Geschichte-mich kriegt aus meiner Heimat -keine Macht der Welt weg- ich bin ein Magdeburger Mädel-und so wird es immer sein- lieben Gruß Mona🌹
@Monalie
Danke schön für Deine netten Worte, Mona.🍀
Ich bin damals gern nach Paris gegangen, ich hatte keine Familie mehr, somit war die Entscheidung sehr einfach.
Und Paris ist ja auch eine wunderschöne Stadt.
Viele Grüße
Anita
Liebe Anita,
"Dein" Pott ist ja in meiner Nacharschaft und oftmals war ich auch dort, jedoch so richtig "näher" gekommen ist mir der Pott erst neulich, als ich das Lied "Curry-wurst" von Herbert Grönemeyer hörte...und nun war Dein wunderbarer Bericht, regelrecht das "Krönchen" darauf.
mit Freude und Dank gelesen,
herzlichst ladybird