Meine Stille

Autor: ehemaliges Mitglied

Meine Stille

Meine Stille

Mir fällt es heute in Corona-Zeiten nicht wirklich schwer, mein selbst gewähltes, eingeübtes Alleinsein nicht als Einsamkeit zu leben. Ob es in jungen Jahren die weiten Fahrradtouren waren oder als Ehefrau und Mutter zu akzeptieren, dass ich strickend vorm TV saß und - wenn mein Mann tatsächlich mal ins Wohnzimmer kam, um mich für meine "TV-Sucht" verbal zu beschimpfen - er war es doch, der mich der Einsamkeit überließ, denn mich zu diesem Weltverbesserer, der alles besser konnte als jeder "Gelehrte", jeder Studierte, in seinen Hobbykeller zu begeben. habe ich mir recht bald gut überlegen müssen. Ich hätte nie etwas von seinem Hobby richtig oder gar gut gemacht. Unser Sohn war in seinen Feinmechaniker-Augen nur ein Grobmotoriker (Kfz-Meister), mein Mann könnte jede Platine besser als unsere Tochter (Kommunikationselektronikerin mit Lehrbescheinigung!) nutzbar machen(??))!! Erst kurz vor seinem Tod 2018 stellte er fest, wie fies er sich seiner Tochter gegenüber sowohl in ihrem Beruf als auch zu seinem Enkel verhalten hatte. Er mochte sich tatsächlich entschuldigen.

Ich vermute, man findet als Kleinkind noch nicht so die „Übersetzung“ für Stille, eigene Stille. Doch wenn ich daran zurückdenke, wie es mir erging, grad eingeschult und keine Mutter mehr, in deren Arme ich mich hätte flüchten können, war auch das nicht einfach. Die große Schwester, die mir bis heute vorwirft, ich sei Schuld an der Erkrankung und dem Tod unserer Mutter, obwohl ich mit acht Monaten doch nichts dafür konnte, dass unsere Mutter auf der hastigen Flucht mit Kinderwagen in den Keller vor dem Bombenalarm stolperte, sich den Kinderwagengriff vor ihre Brust stieß … Unsere Mutter war ganz bestimmt froh, dass ihr Baby nicht aus dem Wagen herausgefallen war! Doch die fast nun fünfjährige Schwester sah das ganz anders.

1951: Foto 27 Borkum 1951 alle Frauen auf der Buhne.jpgDie drei Mädels mit Oma und der Krankenschwester unserer Mutti.

Eine Oma, die gar nicht wusste, wen sie nach dem Tod ihrer Schwiegertochter in dieser Situation hätte nun trösten sollen … Sie hatte im Krieg gerade ihren Jüngsten hergeben müssen. Abgeschossen an der Wolga. Ein Sohn war noch nach dem Krieg in Gefangenschaft, zum Glück nicht in den USA, England oder Russland.

Und nun hatte ihr Ältester, mein Vater, seine Frau an den bösartigen Krebs verloren, seine drei kleinen Mädels ihre Mutter. Doch sie hatte 1911 gelernt, mit solch schlimmen Situationen umzugehen. Ihr ältester Sohn war gerade vier Wochen alt gewesen, seine große Schwester zwei Jahre – und der Vater der Kinder fiel der Tuberkulose zum Opfer. Wie sollte sie als Witwe zwei kleine Kinder durchbringen? Sie schaffte es mit Näh- und Flickarbeiten, heiratete erneut, bekam noch drei Söhne, die sie mit ihrem zweiten Mann durch die auch schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre des 1. Weltkrieges bringen konnte.

Ich muss gestehen, ihr Leben hätte ich nicht bewältigen mögen!! Oma blieb als Mutterersatz bei ihrem Ältesten und uns drei Mädchen. Mit meinen Sorgen konnte ich allerdings nicht zu ihr kommen, denn meine große Schwester hatte die Biestigkeit ihrer anderen Großmutter geerbt. Als ich eingeschult wurde, hatte sie ihr viertes Schuljahr beendet und aufgrund der immer wieder von ihr ausgehenden Streitereien meldete unser Vater sie in einem gymnasialen katholischen Internat an. So hatte die Familie vier Jahre Ruhe – außer die Große kam einmal im Monat auf Heimatbesuch nach Hause. Gleich am Abend, wenn wir zu Bett geschickt worden waren, begann sie, unsere jüngste Schwester gegen mich aufzuhetzen, mich doch zu schlagen, zu treten, zu beißen, aus dem Bett zu schubsen. Ein-, zweimal machte ich das mit. Weinen oder Petzen waren verboten. Dann nahm ich mein Kopfkissen, wanderte auf die andere Seite der Ehebetten auf die Bettvorlage und legte mich dort schlafen, während die beiden Schwestern nun jede ein eigenes Bett nutzten.

Foto 45 Gitta die große Schwester Uschi muß mit aufs Kindergartenfoto.jpg
In diesen Jahren lernte ich es, allein draußen zu spielen, Meine kleine Schwester durfte nur vor unserem Wohnhaus mit auf die Straße. Und sie hatte gelernt, dass sie mich verteidigen wollte! Wehe irgendjemand auf der Straße wollte mir etwas tun – sie ging sofort in Verteidigungshaltung und drohte sogar größeren Jungs Schläge an … Wenn ich sie nicht dabei hatte, lief ich lieber in die nahe Promenade, kletterte dort herum oder suchte bei den neu errichteten Stromhäuschen nach bunt gefärbten Kabelresten. Als ich dann Rollschuhe geschenkt bekam, war ich fast nur noch auf dem recht breiten Gehweg entlang der neuen Grundschule, in die ich ging, zu finden. Auch der heute wieder in Mode kommende Hulahupp-Reifen hielt mir meine große Schwester vom Leib.

Nach vier Jahren war ich so weit, dass ich nun das Neusprachliche Mädchengymnasium besuchen konnte. Die Große hatte inzwischen Probleme bekommen, sowohl, was ihre Leistungen anging als auch, sich mit ihren Mitschülerinnen und den Nonnen-Lehrerinnen zu vertragen. Sie durfte wieder zu Hause einziehen, besuchte eine andere Schule und ich kam ins Internat. Das bedeutete für mich aber, dass ich weiterhin alles, was mir das Leben bescherte, allein mit mir auszumachen hatte.

Irgendwann hatte mein Vater einer Malerin die Haare gemacht, die ihn mit „Naturalien“ bezahlen wollte. Er gestand ihr das zu und es kam so weit, dass auch ich in mehreren Sitzungen ihr Modell sitzen durfte. Doch dazu musste ich die 12 km nach Hause radeln. Ich hätte auch den Bus nehmen können, aber Fahrrad fahren fand ich schöner! Nach Hause und wieder zurück durch den Boniburger Wald, am Kanal entlang und durch die Stadt – für mich war das purer Genuss! Und herrliche Stille zum Nachdenken!

In diesem ersten Gymnasialjahr bekam die zukünftige Stiefmutter ebenfalls die Diagnose Krebs. Für mich brach eine Welt zusammen, wünschte ich mir doch so sehr eine „neue Mutti“. Die Angst, auch die zweite Mutti an den Krebs zu verlileren, fraß mich fast auf und niemand war da, den ich hätte fragen können. Ich durfte mich in meine eigene Stille - die kleine Kammer, wo ich Klavier üben konnte - zurückziehen.

Die Stiefmutter wurde operiert und man stellte fest, dass sie gar keinen Krebs hatte, Ihre Diagnose war mit der einer anderen Patientin verwechselt worden, was ich allerdings damals nicht erfuhr. Mein Vater und sie heirateten dennoch im Herbst 1956 und der Alltag zog wieder ein. 1957 erschreckte die katholische Welt der Tod des Papstes, Papst Pius XII. Die Nonnen im Internat verlangten, dass alle Klassen mit den Nonnen jeden Morgen noch vor dem Frühstück eine Andacht für den Papst besuchten. Eine Erklärung, wie es nun zu einem neuen Papst kommen würde, gab es für meine Sexta nicht. Aber ich sackte leistungsmäßig zusammen, hatte das Gefühl, die Welt könnte untergehen. Fast hatte ich das Gefühl, auch "der liebe Gott" könnte sterben ...

Natürlich erfuhr mein Vater vom Nachlassen meiner Zensuren und zur Strafe entzog er mir das Recht, weiterhin im Internat Klavierunterricht zu nehmen, dafür sollte ich mehr Zeit für's Lernen aufbringen. Das bewirkte bei mir noch mehr Weltuntergangsstimmung, immer öfter zog ich mich an meinem Schrank im Souterrain zurück, wo kaum einmal eine Nonne hinunter kam,um dort in Gedanken versunken zumindest eine Ausrede zu haben - ich wolle mich für draußen zum Spielen oder zur Bearbeitung meines Gartenbeetes umziehen.

Dann starb nur wenige Wochen später Mutter Oberin des Ordens. Wieder mussten alle vor dem Frühstück die Internatskapelle zu Andachten besuchen. Mich drückte es fast zu Boden. Es kam der Sommer, die Zeit für's Sportfest – und Klein-Uschi hatte inzwischen soviel Stress, dass sie beim Hundertmeterlauf ohnmächtig auf die Aschenbahn fiel. Das war endlich der Grund, dass mein Vater mich aus dieser Hölle befreite! Ich wurde in meiner Heimatstadt auf einer Realschule angemeldet. Dummerweise auf der gleichen, die mein Stiefbruder auch besuchte. Er hatte schon in seiner Jungsklasse von seiner neuen gleichaltrigen Schwester erzählt und so wurde ich, eh ich's mich versah, in den Pausen ein beliebtes Angriffsziel für Appelpitschen und Papierkügelchen …

Aber statt mich nun wieder auf's Lernen zu konzentrieren, zog ich es vor, mit meinem Fahrrad lange Touren zu machen. Schularbeiten ging ja auch später! Wir zwei knapp 13-Jährigen bekamen also beide in diesem Schuljahr einen „Blauen Brief“. Es war – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – für meinen späteren Adoptivbruder und für mich eine schwierige neue Familiensituation. Sitzen geblieben sind wir doch nicht. Dafür musste ich wegen des blauben Briefes abends den Salon bohnern, mein Stiefbruder eigentlich auch. Aber er wusste zu schmeicheln und drückte sich. Zur Belohnung bekam ich nach der vierwöchigen "Strafzeit" pro Woche 5 DM mehr Taschengeld, wenn ich weiter bohnern würde. Dieses Erlebnis hat mich später dazu gebracht, keine Friseuse zu werden wie alle meine Geschwister. Ich wollte nicht in der Ausbildung die Putzfrau machen, während der Adoptivbruder den Juniorchef herauskehren würde.

Ich habe in meinem ganzen Erwachsenenleben stets dafür gesorgt, dass ich mit mir selbst zuverlässig ins Reine kam. Mein Göga hatte seit seinem 15. Lebensjahr sowohl ein Alkohol- als auch ein Mutterproblem. Doch bis ich das entdeckte, für mich aufdeckte, dauerte es Jahrzehnte. Meine letzte Arbeitsstätte - Arztsekretärin in einer Rehaklinik - machte es notwendig, mir mt dem Pschyrembel die Schreibweise vieler lateinisch-medizinischer Begriffe anzulesen, denn Latein hatte ich nie gelernt. Dadurch erfuhr ich on unseren Ärzten so manche Zusammenhänge, die mich neugierig auf das Verhalten eben auch psychisch Kranker machte. Entsprechende Bücher lehrten mich so Einiges.

Obwohl mein Vater kein Kneipengänger war, fand ich es in jungen Jahren normal, dass viele Männer, wenn sie von ihrer Arbeit kommen, erst einmal ein Feierabendbier zu sich nahmen. Mein Mann hatte im Teenager-Alter erlebt, wie seine Mutter ihren Mann in der eigenen Wohnung betrog. Sie war psychisch krank und benutzte dieses Tun, um ihren Mann dazu zu bewegen, sich noch für ein weiteres Kind zu entscheiden. Dieser Betrug und ihre Krankheit ließen in meinem Mann den Entschluss reifen, nie zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen, um nicht auf solche Weise betrogen zu werden. Erfuhr ich noch am Hochzeitstag nach der kirchlichen Trauung von ihm. Meine Antwort wäre eine Ohrfeige gewesen, aber er hielt meinen Arm fest. Das Angebot meines Vaters hatte ihn umdenken lassen. Es wäre für meine beiden Kinder besser gewesen, er hätte seine Geldgier bezwungen oder mein Vater und ich hätten ein wenig mehr über psychischen Erkrankungen gewusst …

Ich bin in all den Jahrzehnten meinen eigenen Weg gegangen, hab versucht, meinen Kindern so viel Liebe und Zuneigung zu geben, wie ich konnte, denn von ihrem Vater kam buchstäblich nichts! Zwischenzeitlich hatte ich versucht, auch meinen Göga auf meinem Weg mitzunehmen. Doch das gelang nur bei den Urlaubsfahrten auf die ostfriesischen Inseln oder bei unseren Fahrradtouren. Ansonsten grenzte er mich bzw. sich aus. Wehe, ich kam in sein Hobby-Revier. Ich bin dennoch – bis auf die ersten Jahre nach meiner Flucht vor meinem Mann – in ein zufriedenes Alter - eben in meine schon gewohnte "eigene Stille" gerutscht. Es gab durchaus ein paar Jahre, in denen ich mit meinem Schicksal haderte, stets allein in der Wohnung zu sitzen. Aber ich suchte mir eigene Hobbys, mit denen ich aktiv war. Zum Schluss konnte ich es nicht mehr ertragen, wenn ER in den gleichen Raum kam, in dem ich gerade war. Ich musste vor ihm flüchten, sonst wäre ich an Igelstacheln in meinem Hals erstickt!

Nun wünsche ich mir nur noch, dass ich meinen – nicht erblichen Brustkrebs – besiege und mir noch ein paar Jahre bleiben, meinen einzigen Enkel erwachsen werden zu sehen, zu erleben! Der Onkologe gab mir die Aussage, zu 80 % sei die Behandlung dafür ersichtlich ...
 

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Kommentare (3)

protes

vieles von dem was du geschrieben hast
 gibt es auch heute noch 
und immer wieder erschreckt es mich aufs neue
wie selbstgerecht menschen sein können
und
dass diese auch immer wieder opfer finden.
ob sich das wohl irgendwann ändern wird?
herzliche grüße
hade
ich hoffe dass sich dein wunsch erfüllt  


 

ehemaliges Mitglied

@protes

Seit gestern sind mir die letzten beiden Chemotherapien "erlassen", weil mein Körper vor lauter Schwäche die immer wieder auftretenden Entzüdungen kaum noch mit Hilfe von Antibiotika in den Griff bekommt. Die erlösende OP wird daher wohl schon Anfang Mai erfolgen ...

Ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass wir seit dem 1. Weltkrieg in einem narzisstisch-egoistischen Jahrhundert leben! So lange es noch Diktatoren und Psychopathen wie Trump, Putin, Erdogan und dergleichen gibt, wird sich das auch nicht im kleinen ändern ...

Dank, lieber Hade für Dein Lesen und Deinen Kommentar

mit herzlichem Gruß

Uschi

ehemaliges Mitglied

Ein 💕liches Dankeschön, dass Ihr meine Offenheit mochtet,

Muscari
JürgenS
HeCaro
Biri49
Songeur

sagt Euch mit einem 😏 😉
Uschi


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