Meine ersten Neger
Die Fabrikkolonie Liebauthal in Westböhmen, obwohl dereinst von mehr als tausend Menschen bewohnt, besaß keine eigene Kirche. Die Christen meines Heimatortes - Katholiken wie die wenigen Protestanten – waren, wollten sie heiraten, ihre Kinder taufen oder sich beerdigen lassen, auf das benachbarte Königsberg angewiesen. Für die Katholiken stand (und steht noch immer) auf einem Bergvorsprung die Pfarrkirche aus dem 18. Jahrhundert mit zwei Türmen, gekrönt von zwiebelförmigen Turmhelmen. Architektonische Merkmale außen und die Ornamentik des Innenraumes weisen sie als Barockbau aus. Das Hirtenamt lag und liegt auch heute noch in Händen des in Prag beheimateten Ordens der Kreuzherren mit dem roten Stern.
Jedesmal, wenn ich als Kind an die Pforte dieser Kirche kam, erhielt ich ein Geldstück in die Hand gedrückt. Das durfte ich dann nach Eintritt in das Gotteshaus in den Schlitz eines Kästchens stecken, auf dem sich eine Statue befand, ein kleiner Negerbub. Sobald die Münze in den Kasten fiel, nickte das Köpfchen des Buben zum Dank für meine Gabe, eine mechanische Geste, die sich tiefer in mein Gedächtnis eingeprägt hat als die ganze barocke Pracht der Kirche selbst. Der freundliche Nickneger wird, als ich mit ihm Bekanntschaft machte, vermutlich der einzige Vertreter des afrikanischen Menschentyps weit und breit gewesen sein. Zu seinem Glück bestand er nicht aus Fleisch und Blut. Denn nach dem sogenannten "Anschluss" der deutschsprachig besiedelten Gebiete der Tschechoslowakei an Hitlerdeutschland galt auch bei uns im Egerland das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" - besser bekannt als "Nürnberger Rassengesetze". Auf das Alltagsleben angewandt, bedeuteten diese berüchtigten Nazi-Regeln: Nur wer an Hand von Eintragungen in Kirchenbüchern nachweisen konnte, von "arischen" Ahnen abzustammen, besaß uneingeschränkt Lebensrecht. Die "Rassengesetze" waren zwar vornehmlich auf Angehörige der jüdischen Religion gemünzt, schlossen aber ganz automatisch alle Menschen ein, die unter Rassenfanatikern als nicht-arisch galten.
Indes, der niedliche, aber eben doch ganz und gar unarische Krauskopf auf dem Opferstock überstand, soweit ich mich erinnere, unbehelligt die Episode des Germanenwahns. Für deren unrühmliches Ende sorgte in Westböhmen, also auch bei uns, die Panzerarmee General Pattons, begleitet von Fußtruppen der 1. Infanteriedivision.
Bereits Tage vor dem denkwürdigen Einmarsch der fremden Soldaten erfüllte die Gemüter der Menschen eine Mischung aus Sehnsucht nach dem absehbaren Ende des Krieges und aus gespannter Erwartung dessen, was diesem Ende folgen würde. Zu dieser Gefühlsmixtur gesellte sich ein weiteres Element: blanke Neugier, nämlich Neugier auf die siegenden Soldaten aus Übersee im allgemeinen, ja , und auf ihre schwarzen Kameraden im besonderen. Die Aussicht, demnächst einem Neger - Was heißt einem? Vielen! - ganz leibhaftig zu begegnen, erregte nicht nur uns Kinder. Sie war aber auch nicht ganz frei von einer unbestimmten Furcht.
So aufmerksam ich allerdings bereits bei der Eroberung unsrer Kolonie nach einem schwarzen Gesicht unter den ungewohnten US-Helmen Ausschau hielt, ich spürte keines auf. Ebenso wenig bei den Soldaten, die in den Tagen darauf mit Jeeps und Funkgeräten strategisch wichtige Punkte in Beschlag genommen hatten und von uns Kindern umlagert wurden. Wo nur blieben sie, die sagenhaften dunkelhäutigen Amerikaner? Andere schienen da mehr vom Glück begünstigt als ich. Jene Nachbarin etwa, die eines Nachmittags aufgeregt vor unserem Haus herumlief und dabei lautstark verkündete, sie habe soeben "ein ganzes Auto voller Neger" gesehen. Ja wo denn, wo denn, bedrängte man sie. Nun, gerade seien sie durch den Ort gefahren in Richtung Falkenau. Und diese Gelegenheit musste ausgerechnet ich verpassen!
Aber schließlich wurde auch ich fündig. Nur begegnete ich meinen ersten Negern nicht bloß von Ferne und flüchtig wie die Nachbarin, vielmehr ganz nah von Angesicht zu Angesicht. Und die Begegnung geschah nicht in Liebauthal sondern in der Kreisstadt Falkenau, wo ich mich seinerzeit wiederholt als Besucher aufhielt. Geschehen ist es um die Mittagszeit in einer schmalen Gasse, nur wenige Schritte entfernt vom Marktplatz der Stadt. Auf der Gasse hatten sich Menschen versammelt, in Händen allerlei Geschirr als warteten sie auf eine öffentliche Speisung. In der Tat dauerte es nicht lange, da fuhr ein kleiner Militärlaster heran, beladen mit einem großen Kessel, der mit einem Deckel verschlossen war. Aus dem Führerhaus sprangen zwei junge Burschen in US-Uniformen. Ihre Gesichter glänzten kohlschwarz, schwärzer als ich mir das vorher ausgemalt hatte. Dennoch empfand ich keinerlei Bedrohung oder Unbehagen. Wie hätten solcherlei Gefühle auch aufkommen können bei der Fröhlichkeit der zwei. Niemanden konnte es entgehen, dass Zielscheibe ihrer Neckereien die adretten deutschen Mädchen waren, die den Kesselinhalt, eine wohlriechende Nudelsuppe mit dicken Fleischbrocken, den hungrigen Falkenauern in die bereitgehaltenen Töpfe und Schüsseln löffelten.
Besonders heftig kicherten und gackerten die Mädchen an den Schöpfkellen (und das Publikum machte, wenn auch nicht ganz so offen, mit), sobald einer der Soldaten ihnen zurief: "Du mit mir slapen, du mit mir slapen". Ich konnte mir aus dieser wunderlichen Aufforderung keinen rechten Reim machen, staunte aber nicht schlecht, dass der schwarze Ami offenbar unsere Sprache beherrschte, wenngleich nur ein paar Brocken. Das Geplänkel zwischen den Uniformierten und den Mädchen dauerte an, bis der letzte Rest des Suppenkessels unter den Leuten war. Danach verschwanden die zwei Burschen wieder in ihrem Auto, die Gesättigten verließen ebenfalls die Gasse, und ich hatte damit zu tun, das Gequatsche der Amis zu verdauen. Es ging mir nicht in den Sinn, warum der Bursche mit dem Mädchen "slapen" wollte. Und weshalb die Mädchen derart albern reagierten.
Dabei verstieß der G. I. mit seinem anzüglichen Wunsch eigentlich gegen eine Vorschrift. Denn die "army" untersagte damals noch ihren Soldaten mit einem "Fraternisierungsverbot" freundschaftliche und erst recht intimere Kontakte zur deutschen Bevölkerung. Aber was bedeuten jungen, unbekümmerten Soldaten derart weltfremde Vorschriften! Indem die beiden schwarzen Schwerenöter sie einfach ignorierten, haben sie - für ein paar Augenblicke wenigstens - Frohsinn verbreitet in einer Zeit, da die Menschen ansonsten kaum zu lachen hatten. Naja und ich, ich wusste endlich wie richtige Neger aussahen. Ein bissel anders schon als der schwarze Nicker in unserer Kirche.
Siegfried Träger
Jedesmal, wenn ich als Kind an die Pforte dieser Kirche kam, erhielt ich ein Geldstück in die Hand gedrückt. Das durfte ich dann nach Eintritt in das Gotteshaus in den Schlitz eines Kästchens stecken, auf dem sich eine Statue befand, ein kleiner Negerbub. Sobald die Münze in den Kasten fiel, nickte das Köpfchen des Buben zum Dank für meine Gabe, eine mechanische Geste, die sich tiefer in mein Gedächtnis eingeprägt hat als die ganze barocke Pracht der Kirche selbst. Der freundliche Nickneger wird, als ich mit ihm Bekanntschaft machte, vermutlich der einzige Vertreter des afrikanischen Menschentyps weit und breit gewesen sein. Zu seinem Glück bestand er nicht aus Fleisch und Blut. Denn nach dem sogenannten "Anschluss" der deutschsprachig besiedelten Gebiete der Tschechoslowakei an Hitlerdeutschland galt auch bei uns im Egerland das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" - besser bekannt als "Nürnberger Rassengesetze". Auf das Alltagsleben angewandt, bedeuteten diese berüchtigten Nazi-Regeln: Nur wer an Hand von Eintragungen in Kirchenbüchern nachweisen konnte, von "arischen" Ahnen abzustammen, besaß uneingeschränkt Lebensrecht. Die "Rassengesetze" waren zwar vornehmlich auf Angehörige der jüdischen Religion gemünzt, schlossen aber ganz automatisch alle Menschen ein, die unter Rassenfanatikern als nicht-arisch galten.
Indes, der niedliche, aber eben doch ganz und gar unarische Krauskopf auf dem Opferstock überstand, soweit ich mich erinnere, unbehelligt die Episode des Germanenwahns. Für deren unrühmliches Ende sorgte in Westböhmen, also auch bei uns, die Panzerarmee General Pattons, begleitet von Fußtruppen der 1. Infanteriedivision.
Bereits Tage vor dem denkwürdigen Einmarsch der fremden Soldaten erfüllte die Gemüter der Menschen eine Mischung aus Sehnsucht nach dem absehbaren Ende des Krieges und aus gespannter Erwartung dessen, was diesem Ende folgen würde. Zu dieser Gefühlsmixtur gesellte sich ein weiteres Element: blanke Neugier, nämlich Neugier auf die siegenden Soldaten aus Übersee im allgemeinen, ja , und auf ihre schwarzen Kameraden im besonderen. Die Aussicht, demnächst einem Neger - Was heißt einem? Vielen! - ganz leibhaftig zu begegnen, erregte nicht nur uns Kinder. Sie war aber auch nicht ganz frei von einer unbestimmten Furcht.
So aufmerksam ich allerdings bereits bei der Eroberung unsrer Kolonie nach einem schwarzen Gesicht unter den ungewohnten US-Helmen Ausschau hielt, ich spürte keines auf. Ebenso wenig bei den Soldaten, die in den Tagen darauf mit Jeeps und Funkgeräten strategisch wichtige Punkte in Beschlag genommen hatten und von uns Kindern umlagert wurden. Wo nur blieben sie, die sagenhaften dunkelhäutigen Amerikaner? Andere schienen da mehr vom Glück begünstigt als ich. Jene Nachbarin etwa, die eines Nachmittags aufgeregt vor unserem Haus herumlief und dabei lautstark verkündete, sie habe soeben "ein ganzes Auto voller Neger" gesehen. Ja wo denn, wo denn, bedrängte man sie. Nun, gerade seien sie durch den Ort gefahren in Richtung Falkenau. Und diese Gelegenheit musste ausgerechnet ich verpassen!
Aber schließlich wurde auch ich fündig. Nur begegnete ich meinen ersten Negern nicht bloß von Ferne und flüchtig wie die Nachbarin, vielmehr ganz nah von Angesicht zu Angesicht. Und die Begegnung geschah nicht in Liebauthal sondern in der Kreisstadt Falkenau, wo ich mich seinerzeit wiederholt als Besucher aufhielt. Geschehen ist es um die Mittagszeit in einer schmalen Gasse, nur wenige Schritte entfernt vom Marktplatz der Stadt. Auf der Gasse hatten sich Menschen versammelt, in Händen allerlei Geschirr als warteten sie auf eine öffentliche Speisung. In der Tat dauerte es nicht lange, da fuhr ein kleiner Militärlaster heran, beladen mit einem großen Kessel, der mit einem Deckel verschlossen war. Aus dem Führerhaus sprangen zwei junge Burschen in US-Uniformen. Ihre Gesichter glänzten kohlschwarz, schwärzer als ich mir das vorher ausgemalt hatte. Dennoch empfand ich keinerlei Bedrohung oder Unbehagen. Wie hätten solcherlei Gefühle auch aufkommen können bei der Fröhlichkeit der zwei. Niemanden konnte es entgehen, dass Zielscheibe ihrer Neckereien die adretten deutschen Mädchen waren, die den Kesselinhalt, eine wohlriechende Nudelsuppe mit dicken Fleischbrocken, den hungrigen Falkenauern in die bereitgehaltenen Töpfe und Schüsseln löffelten.
Besonders heftig kicherten und gackerten die Mädchen an den Schöpfkellen (und das Publikum machte, wenn auch nicht ganz so offen, mit), sobald einer der Soldaten ihnen zurief: "Du mit mir slapen, du mit mir slapen". Ich konnte mir aus dieser wunderlichen Aufforderung keinen rechten Reim machen, staunte aber nicht schlecht, dass der schwarze Ami offenbar unsere Sprache beherrschte, wenngleich nur ein paar Brocken. Das Geplänkel zwischen den Uniformierten und den Mädchen dauerte an, bis der letzte Rest des Suppenkessels unter den Leuten war. Danach verschwanden die zwei Burschen wieder in ihrem Auto, die Gesättigten verließen ebenfalls die Gasse, und ich hatte damit zu tun, das Gequatsche der Amis zu verdauen. Es ging mir nicht in den Sinn, warum der Bursche mit dem Mädchen "slapen" wollte. Und weshalb die Mädchen derart albern reagierten.
Dabei verstieß der G. I. mit seinem anzüglichen Wunsch eigentlich gegen eine Vorschrift. Denn die "army" untersagte damals noch ihren Soldaten mit einem "Fraternisierungsverbot" freundschaftliche und erst recht intimere Kontakte zur deutschen Bevölkerung. Aber was bedeuten jungen, unbekümmerten Soldaten derart weltfremde Vorschriften! Indem die beiden schwarzen Schwerenöter sie einfach ignorierten, haben sie - für ein paar Augenblicke wenigstens - Frohsinn verbreitet in einer Zeit, da die Menschen ansonsten kaum zu lachen hatten. Naja und ich, ich wusste endlich wie richtige Neger aussahen. Ein bissel anders schon als der schwarze Nicker in unserer Kirche.
Siegfried Träger
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