Marion Gräfin Dönhoff: Namen die keiner mehr nennt – Ostpreußen Menschen und Geschichte
Liebe ST-ler*innen, das obige Buch von Marion Gräfin Dönhoff hatte ich bereits im Juli 2004 auf meiner damaligen Seniorenhomepage vorgestellt.
Jetzt wage ich, es noch einmal in reichlich gekürzter Form vorzustellen. Manches aus dem Buch ist nach wie vor ausführlich geblieben, und zwar dann, wenn ich annehme, dass bei Ihnen als Leser*innen ein größeres Interesse an diesen Inhalten vorhanden sein könnte.
Neu hinzugefügt habe ich hier ein Video über und mit Marion Gräfin Dönhoff, das ich bei You Tube gefunden habe. Es wurde am 20. 10. 2014 von Angelina Pavlova veröffentlicht und gehört zu: “Deutschland Lenker und Gestalter“. Dieses sehr dichte Video enthält eindrückliche historische Dokumente, auch Auftritte Adolf Hitlers und eine Szene aus den Prozessen von den Attentätern des 20. Juli 1944 vor dem damaligen Volksgerichtshof. Weiterhin Szenen vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Ostberlin und den Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt am Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970. Abschließend sind Ausschnitte aus der Rede von Marion Gräfin Dönhoff an der Humanistischen Fakultät der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Torun im Sommer 1991 zu sehen, wo sie die Ehrendoktorwürde erhielt.
Der Link zu diesem dichten, eindrücklichen Video:
https://www.youtube.com/watch?v=tQMImWUrbnw
Und nun zu den Inhalten des o.g. Buches von Marion Gräfin Dönhoff:
Den ersten Teil des Buches "Nach Osten fuhr keiner mehr" führe ich anschließend inhaltlich weiter aus, ohne dabei jedoch alle von Marion Dönhoff beschriebenen Ereignisse mit eingebracht zu haben:
Ostpreußen - Menschen und Geschichte
"Nach Osten fuhr keiner mehr"
In diesem ersten Teil ihres Buches beschreibt Marion Gräfin Dönhoff die Flucht vor der Roten Armee aus Ostpreußen Ende Januar 1945 von ihrem Gut Quittainen, auf dem sich neben den dortigen Arbeitern und Angestellten zu dieser Zeit noch 380 Flüchtlingsfrauen und -kinder befanden. Am 21. oder 22. Januar 1945 um Mitternacht formierte sich der Flüchtlingstreck. Marion Dönhoff hatte ihr Reitpferd fertig gemacht, auf dem sie neben dem Tross herritt. Bald stauten sich auf der 11 km langen Straße von Quittainen nach Pr. Holland die Flüchtlingstrecks. Auf ihrem Pferd wand sich Marion Dönhoff durch die Fülle der Wagen und Menschen hindurch und ritt nach Pr. Holland. In diese Stadt waren von zwei Seiten Flüchtlingstrecks hineingefahren und hatten die Straßen vollkommen verstopft. Nach zwei Stunden ritt sie zu ihrem Treck zurück. Dort waren alle bereits restlos durchgefroren (es waren 20 Grad Kälte) und verzweifelt. Sie hatten während der Abwesenheit von Marion Dönhoff beschlossen, nach Hause zurückzukehren und weiterhin, dass Marion Dönhoff allein versuchen sollte, mit ihrem Pferd nach Westen durchzukommen.
Mit einem Soldaten, der sich anbot ihr Handpferd zu reiten, machte sie sich auf den Weg. Das Vorwärtskommen wurde immer schwieriger, weil in die Ost-West-Fluchtbewegung von Südosten flüchtende Trosse hineinstießen. Der mit ihr reitende Soldat wurde bald von einem Offizier vom Pferd geholt. Sie traf dann drei Quittainer, darunter den 15-jährigen Sohn des Forstmeisters ihres Gutes. Dieser ritt nun mit ihr.
Sie kamen nur ganz langsam voran, rasteten - zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen und Soldaten - zwischendurch auf Höfen, von denen sie nach ein paar Stunden Schlaf wieder aufbrechen mussten und versuchten, auf Landwegen zu reiten, um aus dem Flüchtlingsstrom herauszukommen. Die Pferde gerieten dabei bis an den Bauch in Schneewehen; Dörfer gab es hier im kaschubischen Land nicht, nur einzelne Gehöfte, deren Bewohner kein Deutsch verstanden. Noch einmal konnten sie auf einem Hof rasten, danach reihten sie sich wieder ein in den Gespensterzug der Flüchtlingstrecks. Erste Tote lagen am Wegesrand. "Niemand hatte die Kraft, Zeit oder die Möglichkeit, sie zu begraben.
Und so ging es tagelang - wochenlang. Von rechts und links stießen immer neue Fahrzeuge, immer mehr Menschen hinzu. Und nicht nur hier im Nordosten; schon seit dem vergangenen Herbst die gleichen Bilder im Südosten Deutschlands: Trecks und wieder Trecks. Aus Bessarabien, dem Banat, aus Siebenbürgen und der Batschka, aus uralten deutschen Siedlungsgebieten wälzten sich diese Elendszüge westwärts. Hinter ihnen brannte die Heimat, und wer sich entschlossen hatte zu bleiben, den hatte sein Schicksal längst ereilt. 700 Jahre Geschichte auch in Siebenbürgen ausgelöscht." (S. 43 des Buches)
Viele dieser Bilder konnte Marion Dönhoff nie mehr vergessen: Eine schnurgerade Chaussee, die man 3 km voraus und 3 km zurück überblicken konnte. Auf diesen 6 km sah sie keinen Quadratmeter Straße, nur Wagen, Pferde, Menschen und Elend. Ein anderes Mal sahen sie und ihr Begleiter "plötzlich nur noch französische Gefangene. Es waren Hunderte und aber Hunderte, vielleicht Tausende. Viele hatten unter ihre Pappköfferchen zwei Holzleisten als Kufen genagelt und zogen ihr Gepäck an einem Bindfaden hinter sich her. Sie sprachen kein Wort. Man hörte nur das kratzende, scharrende Geräusch der Kästen und Koffer. Und rundherum endlose Schnee-Einsamkeit wie beim Rückzug der Grande Armée vor 150 Jahren. "(S. 44)
Als sie endlich kurz vor Stettin angelangt waren, schoss es so stark und - wie Marion Dönhoff schien - so nah, dass sie beschloss, ganz herauf an die Küste und über die Inseln Usedom und Wollin zu reiten und dann durch Vorpommern und die Uckermark, wo sie einen Teil ihrer Familie zu finden hoffte; vergeblich, denn die Familie war seit drei Tagen weg, ebenfalls aufgebrochen, geflüchtet. Sie ritt weiter durch die Mark, durch Mecklenburg und Niedersachsen nach Westfalen.
"Drei große Flüsse, die einmal unser östliches Deutschland charakterisierten, hatte ich überquert: Weichsel, Oder und Elbe. Bei Vollmond war ich aufgebrochen, inzwischen war Neumond, wieder Vollmond und wieder Neumond geworden. Im tiefsten Winter war ich zu Hause vom Hof geritten, als ich schließlich bei Metternichs in Vinsebeck in Westfalen ankam, war es Frühling. Die Vögel sangen. Hinter den Drillmaschinen staubte der trockene Acker. Alles rüstete sich zu neuem Beginn. Sollte das Leben wirklich weitergehen - so, als sei nichts passiert?" (S. 51/52)
In "Ritt durch die Masuren", dem folgenden Kapitel des Buches, unternehmen Marion Dönhoff und eine Freundin im Herbst 1941 einen 5-tägigen Ritt durch die Masuren, der von Marion Dönhoff detailliert beschrieben wird und für heutige Reisende in diesem Gebiet oft die Basis ihrer Ausflüge ist.
In "Die zu Hause blieben, sind nicht mehr daheim", dem nächsten Kapitel des Buches, geht Marion Dönhoff unter anderem auf die Briefe ein, die sie von den in Ostpreußen Zurückgebliebenen und Überlebenden erhielt und die beschreiben, auf welch grausame Weise viele Menschen dort umgekommen sind.
Zum Kapitel "Leben und Sterben eines ostpreußischen Edelmannes" führe ich hier anschließend Weiteres aus:
"Leben und Sterben eines ostpreußischen Edelmannes"
In diesem Abschnitt des Buches beschreibt Marion Dönhoff das Schicksal eines Verwandten, des Heinrich Grafen Lehndorff. Mit ihm, dem ihr Gleichaltrigen, und seiner Schwester war sie oft täglich viele Stunden auf den Pferden unterwegs gewesen. Etwas später kamen dann die jagdlichen Erlebnisse hinzu. Sie alle kennzeichnete dieselbe Erziehung: "Nur eins nahm uns niemand ab: Verantwortung, dort wo wir dabei waren. Wenn Flurschaden entstand, weil beim Indianerspiel mit der gesamten Dorfjugend das Zubehör der Leiterwagen zum Lagerbau verwandt worden war, oder ein kriminalistisch angelegter Raubzug in das wohlverschlossene Weinhaus veranstaltet worden war, dann gingen alle straffrei aus, nur wir nicht. Wenn im Dorf einer krank war, dann mußten die älteren Schwestern Nachtwache halten und wir den Patienten Essen und Stärkung bringen. Wenn irgendwo etwas fehlte, irgend jemand in Not geraten oder ihm Ungerechtigkeit widerfahren war, dann waren wir die Mittler zwischen unten und oben - das war so selbstverständlich wie die Tatsache, daß wir und niemand anderes kollektive Dummheiten zu verantworten hatten." (S. 90 des Buches)
Heinrich Graf Lehndorff hatte sich in den Dienst der Widerstandsbewegung gestellt, hatte jahrelang als Kurier Nachrichten hin- und herbefördert und hatte das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 mit vorbereitet. Nach dem Misslingen des Attentats konnte er zunächst vor der Gestapo fliehen, aber nach seinem Entkommen "rief er plötzlich viele Stunden später von einem weit entfernten Vorwerk an, seine Frau möge ihn abholen. Er hatte es sich anders überlegt, die Sorge um das Schicksal seiner Familie war stärker als der Selbsterhaltungstrieb. So stellte er sich freiwillig den Verfolgern." (S. 98) Er kam ins Gefängnis nach Königsberg, und nach wenigen Tagen wurde er von dort zusammen mit anderen Gefangenen nach Berlin transportiert. "Als der Polizeiwagen nachts vor dem Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße hielt, gelang ihm, was keinem anderen gelungen war: herauszuspringen und zu flüchten - übermächtig war seine Sehnsucht nach Freiheit." (S. 99) Er konnte sich tagelang verborgen halten, aber die fehlenden Schuhbänder, die ihm im Gefängnis abgenommen worden waren, wurden ihm zum Verhängnis. Nach vier Tagen waren seine Füße so wund, dass er keinen Schritt mehr tun konnte. Der Hilfesuchende wurde ausgeliefert und nach schlimmen Misshandlungen wieder in das Berliner Gefängnis eingeliefert. "Ein kurzer Prozeß vor Freislers Volksgerichtshof, wo er sich zu seiner Tat und Haltung bekannte und keinen Versuch machte, sich herauszureden. Und dann am 4. September 1944 das Ende am Galgen von Plötzensee.
Erst viel später kam sein letzter Brief. Zwischen jenem ersten, der von der Sehnsucht sprach, mit der er den Wolken nachblicke, und diesem letzten aus dem Bunker des Volksgerichtshofes lagen nur vier Wochen. Sie aber haben so viel wie ein halbes Leben gewogen. Dieses letzte Lebenszeichen ist der Brief eines reifen Mannes, eines tief überzeugten Christen, der auch nach schwerster Gewissensprüfung nichts von dem, was er getan hat, zurücknimmt. Und der durchdrungen ist von der Gewißheit der Gnade." (S. 101)
Zum Kapitel "Wirtschaftswunder vor 200 Jahren": Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten entschloss sich Marion Dönhoff, aus Deutschland fort- und an die Baseler Universität zu gehen. Dort wollte sie - angeregt von den dortigen intellektuellen Auseinandersetzungen der vielen Studenten aus anderen Ländern - eine Dissertation über den Marxismus schreiben. Ihr Mentor besaß jedoch die Geistesgegenwart ihr vorzuschlagen, eine Untersuchung über den Großgrundbesitz ihrer Familie in Ostpreußen und deren Bewirtschaftung in den Jahrhunderten ihres Bestehens durchzuführen. "Die Aufgabe, die der Baseler Professor mir gestellt hatte, hatte gelautet: die Entstehung eines östlichen Großgrundbesitzes von der Ordenszeit bis zur Bauernbefreiung zu untersuchen. Ich war ihm damals oft gram ob der langwierigen und komplizierten Untersuchungen, die dies involvierte. Heute weiß ich, wieviel Dank ich ihm und seinem Einfall schulde, der mir dazu verhalf, die Geschichte der Friedrichsteiner Begüterung wirklich eingehend zu studieren - also geistig von ihr Besitz zu ergreifen, ehe sie materiell verlorenging." (S. 121-122)
Das letzte, umfangreiche Kapitel "Stets blieb etwas vom Geist des Ordens" beschäftigt sich mit der Geschichte der Familie Dönhoff im Zusammenhang mit den geschichtlichen Ereignissen über die Jahrhunderte in den Ländern Nordost-Europas. "Der erste, der 1330 mit dem Schwertritterorden nach Osten kam, war der Ritter Hermanus Dönhoff, der eine Pappenheim zur Frau hatte. Er errichtete in Livland, und zwar am Muhsfluß, also südlich Riga, einen neuen Dunehof und wurde zum Stammvater eines neuen Zweiges der Familie, der achtzehn Generationen lang im Raum zwischen der Weichsel und dem Peipus-See lebte." (S. 128)
Einen schönen Tag wünscht
Angeli44
Bild oben: Buchumschlag des vorgenannten Buches. Eigenes Foto
Kommentare (2)
@Willy
Dank zurück! - Habe damals und auch jetzt lange für diesen Blog gebraucht, ehe er fertig war und freue mich, dass ich ihn hier noch reingebracht habe. Weiß nämlich nicht, wie lange das meine Augen noch mitmachen.
Es gab ursprünglich noch einen biografischen Teil und einen Teil zur Widerstandsarbeit der Gräfin. Die habe ich rausgenommen. Ich denke, das obige Video kann darüber einiges sagen.
Dir einen schönen Tag,
Angeli
Ganz vergessen ist diese Frau und ihre Aufzeichnungen nicht, aber trotzdem gut, sie hier erneut vorzustellen.