Mama
Unsere Mutter ist nicht leicht zu beschreiben. Ich versuch es trotzdem.
Man nimmt seine Eltern ja so, wie sie sind. D.h., man macht sich keine großartigen Gedanken, warum sie gerade so und nicht anders sind. Als Kind sieht man sich selbst als Mittelpunkt der Welt. Wenigstens war das bei mir so, und wohl auch ziemlich lange.
Dass sowohl Vater als auch Mutter total anders waren als andere Eltern, fiel einem schon auf, aber man nahm es als gegeben hin, war sogar froh darüber.
Auf den ersten Blick und flüchtig betrachtet war Mama eine stille, bescheidene, liebe und leicht beeinflussbare Person. Sie tat, was man von ihr erwartete, und das ohne zu murren.
Aber innerlich war sie nie ganz bei der Sache. Ein Teil ihres Innersten war anderswo, und keiner hat jemals herausgefunden, wo eigentlich!
Ihre Lieblingsbeschäftigung war lesen, und zwar las sie so ungefähr alles, was ihr unter die Finger kam. Und manches Mal hat sie über der Leserei das Essen anbrennen gelassen!
Einmal ging sie vormittags zum Einkaufen weg. Zurück kam sie freudestrahlend mit Büchern,
was sie eigentlich kaufen wollte, hatte sie vergessen.
Von ihrer Leseleidenschaft haben wir Kinder allerdings auch sehr profitiert: sie konnte wunderbar vorlesen! Das tat sie nun wirklich mit Begeisterung und mit vollem Einsatz!
Meine Erinnerung an Kinderkrankheiten beschränken sich auf genussreiche Erholungsphasen, in denen ich verwöhnt wurde und Mama mir vorlas! Und auch mein Bruder genoss Mutters Vorleserei. Sie hatte eine angenehme Stimme, las mit Betonung – aber ohne "überzubetonen"
und muss wohl auch eine gute Atemtechnik gehabt haben, denn sie konnte stundenlang vorlesen, ohne zu ermüden.
Ihr zweites Hobby war das Singen. Da sie noch im Konzertchor sang, als ich schon dem Kirchenchor beitrat, kann ich mich an ihre Stimme genau erinnern. Sie hatte eine Sopranstimme mit Mezzosoprantimbre; im Chor sang sie im zweiten Sopran. Ihre Stimme war jederzeit sofort präsent, anders als bei mir; ich brauchte immer eine "Einsingphase" (bzw. im Kirchenchor eine "Eintrink-Phase").
Ich weiß nicht, ob sie jemals bedauert hat, aus ihren Lese- und Singtalenten nichts Professionelles gemacht zu haben, weiß nicht einmal, ob sie jemals daran gedacht hat!
Wenn, dann hat sie es nie gezeigt!
Ein drittes Hobby wäre das Klavierspiel gewesen. Sie sprach manchmal davon, wie gern sie im Pensionat Klavier gespielt hatte. Es spricht nicht gerade für uns, dass wir darauf nie eingegangen sind, denn es wäre uns doch möglich gewesen, ihr ein Klavier zu besorgen. Als wir es endlich taten, ich glaube 1977, war es zu spät. Ihre Augen waren zu schlecht geworden, um die Noten zu lesen. Sie hat es kaum mehr benutzt, - eigentlich nur, um unsere privaten Chor-Sonderproben zu begleiten.
Ihre Jugendjahre hatte sie überwiegend in einem Mädchenpensionat in Münster-Eifel bei Nonnen verbracht und sich dort, wie sie sagte, wohl gefühlt. Sie hatte dort den Spitznamen
"Lachtaube". Wir haben es auch oft erlebt, dass Mutter über irgendeine Kleinigkeit ihren Lachanfall bekam. Dagegen war nix zu machen, man musste sie auslachen lassen. In der Schule hatte man sie bei solchen Anlässen vor die Tür geschickt, weil dabei kein Unterrichten möglich war!
Ihr zweiter Spitzname war "Senftöpfchen". Es war nämlich ihre Gewohnheit, jede Diskussion mit einer abschließenden Bemerkung zu krönen, die irgendwie immer komisch war, ob passend oder unpassend. Wenn mein Bruder Hanjo und ich Besuch hatten, hatten wir sie immer gern dabei. Sie hörte still zu, wenn wir diskutierten, sprach selbst kaum oder gar nicht – aber gab zum Schluss unweigerlich ihren "Senf" dazu, was immer alle zum Lachen brachte!
Im Alter wurde sie vergesslich, wie so viele alte Leute. Aber im Gegensatz zu vielen anderen akzeptierte sie es. Wenn man ihr sagte: "Mama, das hast du doch gerade vorhin schon einmal erzählt", dann lachte sie nur und sagte: "ja, eure Mama wird tüddelig!".
Und sie wurde wirklich sehr vergesslich. Meinem Bruder war es unangenehm; er wurde mit dem geistigen Verfall der Mutter innerlich nicht fertig. Viele Jahre lang hatte er zu Mama mehr Kontakt als ich. Das kam durch ihr gemeinsames Interesse an klassischer Musik. Sie besuchten Opern, Konzerte, sangen zusammen im städtischen Konzertchor und waren auch mal bei den Bayreuther Festspielen.
Mama war bis zum Schluss liebenswert und nie grantig oder beleidigt, wie manche alten Leute. Man musste nur einfach mehr auf sie aufpassen. Ich wünschte, ich hätte mehr auf sie aufpassen gekonnt, bzw. mich mehr um sie gekümmert, aber ich musste ja arbeiten. Und mich damals außerdem um einen kranken Freund kümmern.
1983 kam sie mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus, wo sie nach einigen Wochen starb.
Ich weiß, ich werde sie wieder sehen. Aber sie fehlt mir doch sehr.
Man nimmt seine Eltern ja so, wie sie sind. D.h., man macht sich keine großartigen Gedanken, warum sie gerade so und nicht anders sind. Als Kind sieht man sich selbst als Mittelpunkt der Welt. Wenigstens war das bei mir so, und wohl auch ziemlich lange.
Dass sowohl Vater als auch Mutter total anders waren als andere Eltern, fiel einem schon auf, aber man nahm es als gegeben hin, war sogar froh darüber.
Auf den ersten Blick und flüchtig betrachtet war Mama eine stille, bescheidene, liebe und leicht beeinflussbare Person. Sie tat, was man von ihr erwartete, und das ohne zu murren.
Aber innerlich war sie nie ganz bei der Sache. Ein Teil ihres Innersten war anderswo, und keiner hat jemals herausgefunden, wo eigentlich!
Ihre Lieblingsbeschäftigung war lesen, und zwar las sie so ungefähr alles, was ihr unter die Finger kam. Und manches Mal hat sie über der Leserei das Essen anbrennen gelassen!
Einmal ging sie vormittags zum Einkaufen weg. Zurück kam sie freudestrahlend mit Büchern,
was sie eigentlich kaufen wollte, hatte sie vergessen.
Von ihrer Leseleidenschaft haben wir Kinder allerdings auch sehr profitiert: sie konnte wunderbar vorlesen! Das tat sie nun wirklich mit Begeisterung und mit vollem Einsatz!
Meine Erinnerung an Kinderkrankheiten beschränken sich auf genussreiche Erholungsphasen, in denen ich verwöhnt wurde und Mama mir vorlas! Und auch mein Bruder genoss Mutters Vorleserei. Sie hatte eine angenehme Stimme, las mit Betonung – aber ohne "überzubetonen"
und muss wohl auch eine gute Atemtechnik gehabt haben, denn sie konnte stundenlang vorlesen, ohne zu ermüden.
Ihr zweites Hobby war das Singen. Da sie noch im Konzertchor sang, als ich schon dem Kirchenchor beitrat, kann ich mich an ihre Stimme genau erinnern. Sie hatte eine Sopranstimme mit Mezzosoprantimbre; im Chor sang sie im zweiten Sopran. Ihre Stimme war jederzeit sofort präsent, anders als bei mir; ich brauchte immer eine "Einsingphase" (bzw. im Kirchenchor eine "Eintrink-Phase").
Ich weiß nicht, ob sie jemals bedauert hat, aus ihren Lese- und Singtalenten nichts Professionelles gemacht zu haben, weiß nicht einmal, ob sie jemals daran gedacht hat!
Wenn, dann hat sie es nie gezeigt!
Ein drittes Hobby wäre das Klavierspiel gewesen. Sie sprach manchmal davon, wie gern sie im Pensionat Klavier gespielt hatte. Es spricht nicht gerade für uns, dass wir darauf nie eingegangen sind, denn es wäre uns doch möglich gewesen, ihr ein Klavier zu besorgen. Als wir es endlich taten, ich glaube 1977, war es zu spät. Ihre Augen waren zu schlecht geworden, um die Noten zu lesen. Sie hat es kaum mehr benutzt, - eigentlich nur, um unsere privaten Chor-Sonderproben zu begleiten.
Ihre Jugendjahre hatte sie überwiegend in einem Mädchenpensionat in Münster-Eifel bei Nonnen verbracht und sich dort, wie sie sagte, wohl gefühlt. Sie hatte dort den Spitznamen
"Lachtaube". Wir haben es auch oft erlebt, dass Mutter über irgendeine Kleinigkeit ihren Lachanfall bekam. Dagegen war nix zu machen, man musste sie auslachen lassen. In der Schule hatte man sie bei solchen Anlässen vor die Tür geschickt, weil dabei kein Unterrichten möglich war!
Ihr zweiter Spitzname war "Senftöpfchen". Es war nämlich ihre Gewohnheit, jede Diskussion mit einer abschließenden Bemerkung zu krönen, die irgendwie immer komisch war, ob passend oder unpassend. Wenn mein Bruder Hanjo und ich Besuch hatten, hatten wir sie immer gern dabei. Sie hörte still zu, wenn wir diskutierten, sprach selbst kaum oder gar nicht – aber gab zum Schluss unweigerlich ihren "Senf" dazu, was immer alle zum Lachen brachte!
Im Alter wurde sie vergesslich, wie so viele alte Leute. Aber im Gegensatz zu vielen anderen akzeptierte sie es. Wenn man ihr sagte: "Mama, das hast du doch gerade vorhin schon einmal erzählt", dann lachte sie nur und sagte: "ja, eure Mama wird tüddelig!".
Und sie wurde wirklich sehr vergesslich. Meinem Bruder war es unangenehm; er wurde mit dem geistigen Verfall der Mutter innerlich nicht fertig. Viele Jahre lang hatte er zu Mama mehr Kontakt als ich. Das kam durch ihr gemeinsames Interesse an klassischer Musik. Sie besuchten Opern, Konzerte, sangen zusammen im städtischen Konzertchor und waren auch mal bei den Bayreuther Festspielen.
Mama war bis zum Schluss liebenswert und nie grantig oder beleidigt, wie manche alten Leute. Man musste nur einfach mehr auf sie aufpassen. Ich wünschte, ich hätte mehr auf sie aufpassen gekonnt, bzw. mich mehr um sie gekümmert, aber ich musste ja arbeiten. Und mich damals außerdem um einen kranken Freund kümmern.
1983 kam sie mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus, wo sie nach einigen Wochen starb.
Ich weiß, ich werde sie wieder sehen. Aber sie fehlt mir doch sehr.
Kommentare (3)
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Ich denke er hat nie die Kochlöffel gezählt die an den Kindern kaputt geschlagen wurden ,während er über die Woche zur Arbeit war. Tja und was das Schlimmste für uns Großen war,sie hat alles was an unsere Mutter erinnert hat weg geworfen und verbrannt,weil sie alles ausrotten wollte, bei den Kindern ist das nicht gelungen.Sie waren zu zäh. Ich halte meine Mutter als meinen persönlichen Schutzengel obwohl ich sonst nicht so gläubig bin.
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ich will noch nicht daran denken, dass sie einmal nicht mehr ist
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