Lucilla Bleibtreu
Die folgende Geschichte enthält "50 Sätze, die Ihr Leben verändern können" aus einem BRIGITTE-Heft

jetzt neu: mit dem Original-Teddy zur Geschichte Lächeln


Lucilla Bleibtreu

Mein Name ist Bleibtreu. Lucilla Bleibtreu. Und dies ist meine Geschichte.

Angefangen hatte alles vor etwa einem Jahr. Ich arbeitete damals in einem Waldorf-Kindergarten und war mit meinen Nerven am Ende. Ich sehnte mich nach einem ruhigeren Job, vielleicht als Stuntfrau in Katastrophenfilmen oder als Nitroglyzerinfahrerin, eventuell auch irgendwas mit Raubtieren. Na ja, jedenfalls hatte ich mich auf verschiedene Anzeigen beworben, und eines Abends - ich fütterte gerade meine Piranhas - klingelte das Telefon.

Ich verstand den Namen des Anrufers nicht, aber er redete mit italienischem Akzent. Signora nannte er mich sogar. "Signora Bleibtreu, wir haben Ihre Bewerbungsunterlagen sorgfältig geprüft. Wir suchen eine starke Frau für eine ungewöhnliche Aufgabe. Sagen Sie, wie lange arbeiten Sie schon in diesem - äh - Waldorf-Kindergarten?"

Ich sagte es ihm. Einen Augenblick lang blieb es still am anderen Ende der Leitung, dann sagte er leise: "So lange? Mamma mia, was für eine starke Frau. Gut. Ich denke, der Test ist positiv verlaufen, Ihren Mitbewerberinnen werde ich heute noch absagen. Wann können Sie bei uns anfangen?"

"Augenblick", sagte ich. "Woher soll ich wissen, dass Sie der richtige Arbeitgeber für mich sind?"

Es entstand eine kleine Pause.

"Sie können mich mal auf die Probe stellen", kam es dann - wie mir schien, etwas kleinlaut - aus dem Hörer.

"Schön", sagte ich. "Wann waren die Punischen Kriege?"

"Der erste war 264 bis 241 vor Christus. Der zweite 218 bis 201, und der dritte 149 bis 146."

"Donnerwetter", sagte ich.

"Ich bin Italiener, Signora."

"Gut, dann wissen Sie bestimmt auch, wann der Aufstand der Pizzabäcker in Padua war."

"Natürlich, am 23. November 1889, nach der schlechten Olivenernte. Die Aufständischen wurden nach Formosa deportiert, wo sie bis an ihr Lebensende als Tagelöhner auf den Reisfeldern des Shaolin-Tempels arbeiten mussten. Die Pizza Padovese gilt seither als ausgestorben."

"Und wie ist die aktuelle Heimspielbilanz von Manchester United?"

Es blieb still.

"Sind Sie noch da?"

"Verzeihen Sie, Signora, das weiß ich nicht."

"Aha", sagte ich. "Wenn man einmal von einem Mann etwas wissen will. Aber tun wir mal so, als würde ich den Auftrag annehmen. Um was geht es überhaupt?"

"Kommen Sie morgen zu uns. Dort erfahren Sie alles Weitere." Er nannte die Adresse.

"Fragen Sie nach Signore Castelnuovo. Wir müssen reden, das ist das Wichtigste. Aber nicht am Telefon."

"Geht in Ordnung", sagte ich und legte auf. Dann fütterte ich meine Piranhas zu Ende und machte mir zu meiner Pizza Bolognese eine Flasche Valpolicella auf.
 
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"Ich mach das jetzt einfach", sagte ich zu meinem Teddy, gab ihm einen Kuss auf die Nase und zog die Wohnungstür hinter mir zu.

Im Bus saß ich hinter zwei Männern, die sich unterhielten. "Ich habe eine Idee", sagte der eine. "Lass uns die Sparkasse überfallen. Du bringst dein Taschenmesser mit, und ich übernehme die Verantwortung."

"Dafür ist mir meine Zeit zu schade", sagte der andere. "Weißt du, ich mach jetzt eine Therapie. Das solltest du vielleicht auch machen. Komm doch nächste Woche einfach mal mit. Ich bürge für dich." An dieser Stelle musste ich aussteigen.

"Hier ist Ihr Führerschein wieder", sagte kurz darauf der wachhabende Beamte auf dem Polizeirevier und schob mir das Dokument hin. "Und trinken Sie bitte in Zukunft nicht mehr so viel Rotwein, wenn Sie Auto fahren wollen."

"Nein!" sagte ich und kreuzte zwei Finger hinter dem Rücken.
 
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"Ich mach jetzt eine Therapie", sagte Signore Castelnuovo.

"Das brauchen Sie nicht", sagte ich. "Das mit Manchester United war doch nicht so schlimm."

"Deswegen nicht. Wegen meiner Piranhas. Sie können keine Kinder kriegen. Können Sie sich vorstellen, wie mich das belastet?" Seine Augen wurden feucht.

Doch, ich konnte es mir vorstellen. Ich überlegte, ob ich ihm zu einem Besuch in der öffentlichen Bibliothek raten sollte, die ich als helles und einladendes Gebäude mit vielen Büchern in Erinnerung hatte. Bestimmt gab es auch etwas über Piranhas. Auch die Mitarbeiter dort waren freundlich und entgegenkommend gewesen, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem der Waldorf-Kindergarten zu ihnen gekommen war. Als wir damals wieder gingen, hatte ich gehört, wie eine Bibliothekarin ihrer Kollegin zuflüsterte: "Gleich morgen früh geh ich zum Chef. Ich such mir was Neues. Ich mache mich selbständig. Leb wohl, Bücherei!"

"Kommen Sie mich doch mal besuchen", hörte ich mich stattdessen sagen. "Meine Piranhas würden sich bestimmt freuen. Und jetzt reden wir über meinen Auftrag. Ich will die Wahrheit wissen."
 
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"Dominikschätzchen, was machst du?" rief Gertrud, die Kindergärtnerin. Wir saßen im Büro des Waldorf-Kindergartens, und Dominikschätzchen war gerade mit einer Schachtel Streichhölzer an der offenen Bürotür vorbeigerannt.

"Der will nur spielen, glaube ich", wandte Gertrud sich wieder zu mir und zündete sich eine Zigarette an. "Weißt du", sagte sie und schaute gedankenverloren dem Rauch nach, "eigentlich habe ich die Nase voll von diesem Job. Aber ich brauche das Geld. Ich bin pleite. Ist ja nur für ein paar Jahre, hab ich mir am Anfang gesagt - und jetzt denke ich jeden Morgen nur noch: Nie wieder! Ein Lottogewinn, das wär's. Notfalls auch ein kuweitischer Ölprinz. Dann könnte ich sagen: Das war's. Ich zieh aufs Land. Ach ja."

Draußen war es inzwischen so still geworden, dass man ein leises Knistern hören konnte. Es roch nach verbrannten Orffschen Musikinstrumenten. "Toi, toi, toi", sagte ich zu Gertrud und stand auf, um den Feuerlöscher zu holen.
 
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"Oh, Sie haben es geschafft, herzufinden", sagte ich zu Signore Castelnuovo, der mit einem Blumenstrauß vor der Wohnungstür stand. "Kommen Sie rein."

Ich stellte die Blumen ins Wasser und schob die Pizza Bolognese in den Ofen. Keine kulinarische Offenbarung, aber dafür würde ich mich auf vertrautem Terrain bewegen.

Signore Castelnuovo sprach leise mit den Piranhas. Es klang italienisch und hörte sich gut an. Als ich in der Küche den Chianti entkorkte, klingelte das Telefon. Es war Helmut, und ich hörte ihm einige Sätze lang zu.

"Ruf mich an, wenn du wieder nüchtern bist", sagte ich schließlich. "Oder noch besser: ruf mich nie wieder an" und legte auf.

"Mein Ex-Freund", sagte ich zu Signore Castelnuovo, während ich den Wein auf den Tisch stellte.

"Ist der Platz noch frei?" sagte er.

"Natürlich, setzen Sie sich," sagte ich. Aber mir war klar, dass er nicht wirklich den leeren Stuhl gemeint hatte, vor dem er stand.

Das Essen war ohne weitere Katastrophen verlaufen. Signore Castelnuovo hatte eine Musikkassette mitgebracht, mit Liedern von Mario, einem Mitglied seiner großen und weitverzweigten Familie. Sie klangen sanft und zärtlich.

"Und haben Sie sich entschieden, Signora? Wollen Sie den Auftrag annehmen, über den wir gesprochen haben?"

Ich holte tief Luft.

"Signore, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie."

"Sprechen Sie", sagte er ruhig.

"Mir ist klargeworden, wie sehr mir meine Arbeit im Waldorf-Kindergarten am Herzen liegt. Es stimmt, manchmal würde ich die kleinen Banditen am liebsten erwürgen, aber jemand muss sich um sie kümmern. Und meine Kollegin ist schon lange mit den Nerven am Ende, ich kann sie einfach nicht im Stich lassen. Signore, es ist eine großartige und wundervolle Idee, mit dem Rentierschlitten Teddybären zur internationalen Forschungsstation in die Antarktis zu bringen, aber ich bitte Sie, jemand anderen damit zu beauftragen."

"Sie sind eine großartige Frau, Signora", sagte Signore Castelnuovo, als er ging.
 
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Eine Nachricht von Helmut auf dem Anrufbeantworter:

"Lass es uns nochmal versuchen. Bitte. Ich zieh zu dir, wann immer du willst."

Ich löschte sie.

Eine Nachricht von Signore Castelnuovo auf dem Anrufbeantworter:

"Signora, es sind Drillinge! Juanita hat Drillinge bekommen! Ich freue mich so."

Ich lächelte.

Die Postwurfsendungen eines Tages:

"Wir verdoppeln Ihr Gehalt. Bilden Sie sich weiter in Ihrem Beruf..."

"Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Der Kredit ohne lästige Formalitäten..."

"Hier ist meine Visitenkarte. Ihr freundlicher Versicherungsberater..."

"Eltern haften für ihre Kinder. Sicherheit durch Rechtsschutz..."

"Sechs Richtige! Sie können schon jetzt gewonnen haben..."

In den Papierkorb.

Und eine Einladung von "ihm". In meine Lieblingspizzeria.
 
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"Kommen Sie bitte mit, Signora". Wie lange würden wir noch beim "Sie" bleiben?

"Darf ich Ihnen jemanden vorstellen? Die neue Inhaberin der Pizzeria. Eine wundervolle Frau!"

Die neue Inhaberin war die frühere Bibliothekarin. "Wir kennen uns schon", sagte sie kühl.

"Wie schön", sagte Signore Castelnuovo.

Scheiße, ich brauche eine neue Lieblingspizzeria, dachte ich.

Aus irgendeinem Grund blieben wir trotzdem da. Ich weiß nicht mehr, was wir gegessen und getrunken haben. Ich fragte mich immer nur, wann er endlich aufhören würde, "Sie" und "Signora" zu mir zu sagen. Ich achtete erst wieder auf ihn, als er meine Hand nahm und mich ("Signora") fragte, ob ich seine Frau werden wolle. Hilfe, dachte ich.

"Ich muss mal", sagte ich und rannte zu den Toiletten.

Während ich auf dem Entsafter saß und nachzudenken versuchte, schaute ich mir wie immer die Inschriften an den Wänden an. Eine neue war dabei:

"Zu lange aufgeschobene Wünsche brennen nicht mehr, zu tief weggepackte Träume sind von den Motten zerfressen" (Elke Heidenreich)

Ich kramte meinen Stift hervor und kritzelte darunter:

"Ich geb' mir die Mottenkugel (Lucilla Bleibtreu)"

"Ich liebe dich auch", sagte ich, als ich wieder am Tisch saß. Eine musste ja mal mit dem "Du" anfangen. "Du bist wundervoll. Wer außer dir spricht mit Piranhas oder will Teddys zum Südpol schicken. Aber im Augenblick möchte ich nicht heiraten. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich überhaupt jemals heiraten möchte. Aber du bist wundervoll, und ich bitte dich, mein Freund zu sein."

Signore Castelnuovo hieß Antonio, und es wurde dann doch noch ein schöner Abend.
 
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"First things first", sagte ich zu meinem Teddy, gab ihm einen Kuss auf die Nase und zog die Wohnungstür hinter mir zu.

"Was wollen Sie?" fragte die frühere Bibliothekarin.

"Ich möchte Sie zu einem Glas Chianti einladen", sagte ich. "Sie sind die neue Inhaberin, und ich möchte mich lieber mit Ihnen vertragen als mir eine neue Lieblingspizzeria suchen zu müssen."

Sie lachte. Beim zweiten Glas sagten wir schon "Du" zueinander. Sie hieß Christine.

"Wie hast du das geschafft, dich selbständig zu machen?" fragte ich sie.

"Ich kündige, habe ich zu meinem Chef gesagt. Ich wusste zwar nicht, wie es dann weitergehen sollte, aber in dem Punkt war ich mir sicher. Er versuchte es mir auszureden, feste Stelle im öffentlichen Dienst und so, aber mein Entschluss stand fest. Gut, Sie haben gewonnen, sagte er schließlich, wenn Sie unbedingt wollen, dann machen wir einen Auflösungsvertrag. Aber ich fühlte mich nicht als Gewinnerin. Wenige Tage später spürte ich einen Knoten in der linken Brust. Es ist bösartig, sagte die Ärztin im Krankenhaus, wir müssen operieren. Ich merkte auf einmal, wie sehr ich am Leben hing. Ich geh ins Kloster, wenn ich das hier überstehe, sagte ich mir in manchen Augenblicken. Das hab ich dann doch nicht gemacht, aber Danke denke ich immer wieder, jeden Tag. Ja, und dann bekam ich Post vom Notar: Sie sind Alleinerbin, stand da. Eine alleinstehende alte Dame war gestorben, für die ich jahrelang Bücher und Cassetten ausgesucht und ihr vorbeigebracht hatte. Dass sie mich deswegen in ihrem Testament bedenken würde, damit hätte ich nie gerechnet. Ja, ich will, sagte ich natürlich, als man mich fragte, ob ich das Erbe annehmen wolle. Dann starb meine Mutter. Der Nächste bitte, dachte ich bitter. Hört das mit den Schicksalsschlägen denn nie auf? Aber ich halte durch, egal was kommt, nahm ich mir vor. Dann hörte ich, dass diese Pizzeria zu kaufen sei. Antonio - ich meine Signore Castelnuovo - hatte es erfahren, bevor es in der Zeitung stand. Ich kannte ihn aus der Bücherei, dort hatte ich einmal für ihn alles besorgt, was jemals über Piranhas geschrieben worden ist. Er ist so nett, und er weiß alles über Pizzas. Ohne ihn hätte ich mich nie an diese Sache herangetraut. Aber er bot mir seine Hilfe an, und da sagte ich mir: Das ist die Chance meines Lebens. Okay, ich mach's. Ja, so war das. Ein ereignisreiches Jahr." Sie lachte.

"Antonio hat recht", sagte ich. "Du bist eine wundervolle Frau."

"Komm bald wieder", sagte sie. "Dann bist du dran mit Erzählen."

Die Theke war inzwischen gut besucht. "Ich musste ihn einschläfern lassen", hörte ich jemanden sagen, als ich zur Tür ging. "Weißt du, ich liebe dicke Hintern", sagte jemand anderes. Mir war alles recht.

"Ich habe mich entschieden", sagte ich zu meinem Teddy und gab ihm einen Kuss auf die Nase. "Es ist alles in Ordnung."
 
bolke.jpg

 

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Kommentare (8)

omg

😍😍😍
love it 😉

Manfred36

Interessant zu lesen. Aber es sollte vielleicht für solche chaotische Gedankenschnitzel eine Lese-Obergrenze gelten. Sonst fallen Schizophrenie und Demenz wie Piranhas über uns her. Wir haben ja nicht mehr die Waldorfschulen-Kompetenz. Und gib Acht, dass vom BdFWS keine Anzeige über Verächtlichmachung kommt. 

ehemaliges Mitglied

Herrlich schräg!Daumen hoch

Gruß
Arni

Roxanna

Der ganz normale Wahnsinn des Lebens Lachen. Ein wenig "verrückt, aber interessant zu lesen. Mir, felix772, hat deine Geschichte gefallen.

Herzlichen Gruß
Roxanna

felix772

@Roxanna  Das freut mich sehr Lächeln

Die Geschichte hat sich in gewisser Weise von selbst geschrieben. Am Anfang wusste ich noch nicht, in welche Richtung sie gehen würde. In der Mitte dachte ich, ich wüsste das Ende, aber dann ging das irgendwie nicht mehr, weil die Figuren sich gewissermaßen selbständig machten. Eine interessante Erfahrung, die aber, glaube ich, viele Leute beim Schreiben machen.

Pan

I wonder what that is supposed to do?
         And: I love personal contributions, You know?

felix772

@Pan  Several years ago, in a women's magazine there was an article about "50 Sentences that might change your life" (you find them marked orange in my story). And me and a friend of mine made a competition to write a story which should contain all of these sentences. And I believe that my story was the better one Lächeln

Pan

@felix772  
Thanks for the explanation!
greetings,
Horst


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