Literarisch: ... wenn der Papst betet


Wenn der Papst betet

- Eine literarische Szene von Wolfgang Koeppen (23.6.1906 -15.3.1996) -

Bild der Wolfgang-Koeppen-Stiftung[/indent]

Ein deutscher Schriftsteller: Wolfgang Koeppen; er erhielt 1962 den "Georg-Büchner-Preis".

In seinen Romanen setzt er sich satirisch mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland auseinander.
1934 erschien sein Debüt-Roman "Eine unglückliche Liebe".
1935 verfasste er seinen zweiten Roman "Die Mauer schwankt", der sich mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs beschäftigt.

Das Wirtschaftswunder Deutschland gab Anlass für Koeppens Nachkriegstrilogie "Tauben im Gras" (1951), "Das Treibhaus" (1953) und "Der Tod in Rom" (1954). 1984 wurde Koeppen mit dem "Arno- Schmidt-Preis" ausgezeichnet.

1986 brachte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Koeppens "Gesammelten Werke in sechs Bänden" heraus.


Link zum Koeppen-Haus in Greifswald:

Eine biografische Übersicht:

Reich-Ranickis berühmter Bericht über den „Fall Koeppen“:




Ein wichtiger Aufsatz zu Koeppen:

Reinhard Döhl: Wolfgang KoeppenReinhard Döhl: Wolfgang Koeppen




Interview: "Ich riskiere den Wahnsinn":



Für mich als Leser die schönste Prosa Koeppens: „Jugend“. Eine Erzählung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976:


[i]Einblick in dieses Werk:


"Jugend"


*


Der Roman „Der Tod in Rom“ (1954) behandelt die weiteren Lebensläufen ehemaliger Nazis nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Vor der Kulisse Roms treffen in der Nachkriegszeit Opfer und Täter der Zeit des Nationalsozialismus aufeinander. In einer Art literarischen Choreografie stellt der Autor in mehreren parallel laufenden Handlungssträngen immer neue Figurengruppen aus den Mitgliedern zweier Familien und deren näherem Umfeld zusammen. In kunstvollem Geflecht von Dialogen und inneren Monologen wird die Gegenwart problematisiert und die Vergangenheit aufgedeckt; die Charaktere zeigen den Opportunismus und die Anpassungsfähigkeit der Mitläufer wie die ungebrochene Gewaltbereitschaft der Täter wie die Zerrissenheit und den Eskapismus der nachfolgenden Generation.
Hintergrund ist das noch ungelöste Problem der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Zeit des Wirtschaftswunders.

Text und Interpretation:

Keine Kirche, kein Bischofskirche, kein Münster, kein Petersdom. Nur die Privatkapelle des Papstes ist Ort der Handlung:

„Der Papst betete. Er betete in seiner Kapelle, dem kleinen Betraum seiner Wohnung im Vatikan, er kniete auf den mit Purpur belegten Stufen des Altars, ein Bild des Gekreuzigten blickte auf ihn herab, ein Bild der Mutter Gottes schaute ihn an, Sankt Petrus lugte aus Wolken herunter, der Papst betete für die Christen und für die Feinde der Christenheit, er betete für die Stadt Rom und für die Welt, er betete für die Priester in aller Welt und betete für die Gottesleugner in aller Welt, er bat Gott, die Regierungen der Länder nach seinem Willen zu erleuchten, und er bat Gott sich. auch den Beherrschern der rebellisch gesonnenen Reiche zu offenbaren, er erflehte die Fürbitte der Mutter Gottes für Bankiers, Gefangene, Henker, Polizisten, Soldaten, für Atomforscher und die Kranken und Krüppel von Hiroshima, für Arbeiter und Kaufleute, für Radrennfahrer und Fußballspieler, kraft seiner Weihen segnete er die Völker und die Rassen, und der Gekreuzigte blickte schmerzlich auf ihn hinunter, und die Mutter Gottes schaute ihn lächelnd aber traurig an, und Sankt Petrus hatte sich wohl von der Erde in die Wolken erhoben, aber ein Zweifel blieb, ob er den Himmel erreicht hatte, denn der Weg in den Himmel fängt bei den Wolken gerade an und nichts ist erreicht, wenn man in Wolken schwebt, die Reise hat noch nicht einmal begonnen, und der Heilige Vater flehte für die Toten, er flehte für die Märtyrer, für die in Katakomben Begrabenen, für alle in der Schlacht Gefallenen, für alle im Kerker Gestorbenen, und er bat auch für seine Ratgeber, für seine spitzfindigen Rechtsgelehrten, für seine geldkundigen Finanzberater, seine weltgewandten Diplomaten, und ein wenig gedachte er der toten Gladiatoren seiner Stadt, der toten Cäsaren, der toten Tyrannen, der toten Päpste, der toten Condottieri, der toten Künstler, der toten Courtisanen, er dachte an die Götter von Ostia antica, an die irrende Seele der alten Götter in den Ruinen, den Erinnerungsmalen, den verfallenen Mauern, den christianisierten Tempeln, den entwendeten Kultstätten der alten Heiden, und er sah im Geist die Flugplätze, er sah im Geist den prächtigen Bahnhof von Rom, er sah Scharen von neuen Heiden ankommen zu jeder Stunde, und die neu angekommenen neuen Heiden mischten sich unter die neuen Heiden die schon in seiner Stadt wohnten, und sie waren gottloser und gottferner als die alten Heiden, deren Götter zu Schatten geworden waren. War auch der Papst ein Schatten? War auch er auf dem Weg zu den Schatten? Einen schmalen, einen unendlich flüchtigen, einen unendlich rührenden Schatten warf der Papst auf den Purpurboden seiner Kapelle. Der Schatten des Papstes dunkelte den Purpur des Teppichs zu Blut. Die Sonne war aufgegangen. Sie leuchtete über Rom. Wer, wenn der Heilige Vater stirbt, wird das sacrum imperium erben? Wer werden die Erben des heiligen Reiches sein? In welchen Katakomben beten sie, in welchen Gefängnissen schmachten sie, an welchem Richtblock sterben sie? Niemand weiß es. Die Sonne leuchtete. Ihre Strahlen wärmten, und dennoch war ihr Leuchten kalt. Die Sonne war ein Gott, und sie hatte viele Götter stürzen sehen; wärmend, strahlend und kalt hatte sie die Götter stürzen sehen. Es war der Sonne gleichgültig, wem sie leuchtete. Und die Heiden in der Stadt und die Heiden in der Welt sagten, der Sonnenschein sei ein astrophysikalischer Vorgang, und sie berechneten die Sonnenenergie, untersuchten das Sonnenspektrum und gaben die Sonnenwärme in Thermometergraden an.
Auch das war der Sonne gleichgültig. Es war ihr gleichgültig, was die Heiden über sie dachten. Es war ihr so gleichgültig wie die Gebete und Gedanken der Priester. Die Sonne leuchtete über Rom. Sie leuchtete hell. (…)“

**

Ja, der Papst betet. Viel. Für alle?
Er befleißigt sich ob der geschwinden, umstands- und folgelosen Selbstberuhigung. Aber der Erzähler erschrickt zuerst - für einen dreiwortigen Satz, bevor er ansetzt zu einer großen, großartigen Passage des perfektionierten Beterei.
Über so viele Menschen verbreitet der Papst das Gedenken im Gebet.
Über Juden, die getöten, die gemordeten, vor 45, über die traumatisch überlebenden, breitet er den Teppich seiner oral-mentalen Selbstberuhigungstaktik.


*

Ein kundiger Theologe und Literaturwissenschaftler, Prof. Kuschel - analysierte die Szene so:

Satirisch verfremdend wirkt hier die schematische Aufreihung von Personengruppen: Parodie auf die kirchliche Sakralsprache, Ironisierung des Sprechers des Gebetes durch seine Sprache. Eine Frömmigkeit wird hier karikiert, die im Gebet fromm die Abgründe zudecken will, die zwischen den einzelnen Personengruppen bestehen: den Bankiers und den Arbeitern, den Atomforschem und den Opfern von Hiroshima, eine Frömmigkeit, die im Gestus der Sorge um alle die Strukturen der Welt unangetastet läßt, nicht nach Voraussetzungen, Bedingungen, Ursachen, Konsequenzen fragt und so keine Veränderung bewirkt. Ein Gebet aber, das für alle gleich betet, betet für keinen "richtig"! Ja, der "Gekreuzigte blickt schmerzlich" auf den betenden Papst herunter.
Kann man vom Gekreuzigten her zugleich für die Gefangenen und die Henker beten, ohne nach den realen Zusammenhängen zu fragen?


*
(Aus: Karl-Josef Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1987 Serie Piper 628. S. 168).

(Aus: Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom. (Zuerst 1954. Frankfurt/M. 1963. S.74/75)



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Kommentare (1)

pelagia ein lohnenswerter Hinweis. Eine gute Leseempfehlung. Danke.

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